Wenn hierzulande die Lüge wieder zur einzigen Wahrheit erklärt wird und das Totschweigen beredter ist denn je, dann ist da immer einer, der sicher nicht still halten kann, der schon auf dem Sprung liegt, der – wie im Wienerischen es heißt – sich seinen Karl macht, auf alle Untertänigkeit und Eintracht zu pfeifen, denn der Pfeiferkarl lässt sich nicht eingemeinden, nicht hier und auch nicht anderswo. Karl Pfeifer ist ein gebürtiger Badener und überall der geborene Außenseiter, der gar nicht vorhat, willfährig und still sich einzureihen oder gar unterzuordnen.
Er ist mit seinen neunzig Jahren ein gebranntes Kind. In seinen Knochen steckt ihm all das, was den Seinen widerfuhr und dem er gerade noch entkam. Ich sehe ihn nicht selten, wie er aufsteht, wenn gegen Juden oder Israel gehetzt wird, wie er dann seine Stimme erhebt, ein Beben vor jedem Satz und in allen seinen Worten, doch ich kann nicht anders, als dann in ihm auch jenen Zehnjährigen zu entdecken, der er war im Frühjahr achtunddreißig, als er von einem Tag zum anderen ein Verfolgter, ein Vogelfreier war, ein Judenbub, dem die Uniformierten, die Hitlerjungen, älter als er, auflauerten und einer von denen drückte ihm die Kehle zu und hieß ihm, dem – wie er schrie – Saujuden, ein „Heil Hitler“ zu rufen. Aber Karl war bereits damals einer, der sich nicht gerne beugen wollte, sondern eher sterben mochte, als nachzugeben, und er verweigerte die Parole, sagte nichts, bis ihm zum Glück eine Nachbarin zu Hilfe eilte.
Karl Pfeifer sollte nie seine Kindheit ganz vollenden dürfen, weshalb es für ihn nirgends wieder jene Geborgenheit geben würde, die einen Menschen unbekümmert, weil umsorgt sein lässt und heimisch auch nur an irgendeinem Ort in dieser Welt.
Die Familie musste – beraubt und entrechtet – aus jenem Österreich fliehen, das nun zu einem Teil des nazistischen Reiches geworden war. Bloß über Umwege, über die Schweiz, Italien und Kroatien konnten sie Ungarn erreichen, aus dem die Eltern ursprünglich stammten und wo die meisten Verwandten noch lebten. Budapest war damals bereits nicht daran interessiert, Flüchtlinge aufzunehmen, selbst Juden nicht, die in Ungarn geboren waren und – wie Karls Vater – noch in der ungarischen Armee gedient haben. Antisemitische Gesetze waren hier auch schon in Kraft.
Erwin, Karls älterer Bruder, war bereits Jahre vor dem sogenannten Anschluss als überzeugter Zionist nach Palästina gegangen. Von dort aus hatte er Karl geschrieben: „Sei immer stolz, ein Jude zu sein!“ Karl war, so sagt er, nicht unbedingt gar so stolz darauf, ein Jude zu sein, doch auf keinen Fall sah er irgendeinen Grund dafür, sich so wie viele andere in seiner Umgebung dafür zu schämen. Zugleich war er, der Zehnjährige, zum Ärger seines Vaters zu einem eigensinnigen Schluss gekommen, denn eines Tages erklärte er mit eben jener Entschiedenheit, die ihn bis heute auszeichnet, es gebe keinen Gott. Die Ohrfeige, die er darauf erhielt, änderte nichts an seiner Überzeugung. Ja, so wie ich ihn kenne, glaube ich gar, dass sie ihn in seinem Entschluss, ein Atheist zu sein, bloß festigte. Zugleich wurde er, ob nun gläubig oder nicht, in Budapest genauso wie in Baden bei Wien von allen als Jude angesehen, wobei von Ansehen in diesem Zusammenhang wohl nicht die Rede sein konnte, sondern vor allem von einem Schimpf und einem Makel.
Wen wundert’s, dass er hierauf bald zu einer Gruppe stieß, die gar nicht ungarisch sein wollte, sondern wacker dazu stand, jüdisch zu sein, ohne sich einem höheren Wesen zu unterwerfen. Karl Pfeifer stieß zum Haschomer Hazair, zu jener zionistisch sozialistischen Jugendbewegung, deren Mitglied Jahrzehnte später auch ich in Wien werden sollte und in die nun – wiederum viel Zeit danach – meine Tochter geht, weshalb mich mit Karl Pfeifer viel mehr verbindet, als manche hier vermuten können. Wir sind Schomerniks. Nein, wir sind nicht nur welche gewesen, sondern wir sind es letztlich teils immer noch und das gilt besonders für Karl Pfeifer, weil er ein so jugendlicher Neunzigjähriger ist. Der Haschomer Hazair ist eine Organisation, die manchen lehrte, kritisch zu bleiben – und zwar auch gegen die eigene Ideologie. Das kommt daher, dass der Schomer eben sozialistisch und zionistisch, universalistisch und nationalistisch zugleich sein will und dieser Widerspruch kann schon die Ironie schärfen, vermag einen ein wenig gegen allzu einschlägigen Fanatismus feien, weil diese Gesinnung von Anfang von der Ambivalenz lebt. Jeder Satz wird zum Gegensatz.
Vor allem aber geht es hier darum, ein so selbstbewusster Jude werden zu können, dass einer sich gar nichts mehr darauf einzubilden braucht. Der Schomer zeichnet sich durch die Erkenntnis aus, die Befreiung der Menschen könne nicht auf Kosten der Juden, das Selbstbestimmungsrecht der Juden nicht zu Lasten der Menschenrechte erkämpft werden.
Für die Teenies heute mag der Verein noch ein exterritoriales Gebiet im Alpenland sein, doch für Karl Pfeifer damals bedeutete diese Jugendbewegung viel mehr. Im Schomer waren die Jugendlichen keine Untermenschen mehr. Hier träumten sie von einer anderen und besseren Zeit, von einem eigenen Staat, von einem souveränen Dasein. Mit dem Schomer überlebte Karl, denn 1943 verließ er endlich jenes Ungarn, das für Juden zur mörderischen Falle geworden war.
Wer eine Rede für Karl Pfeifer hält, muss wohl auch die vielen erwähnen, die ihn ausmachen, kann auch Zelig Buchbinder nicht verschweigen, mit dessen Pass und Zertifikat er Palästina erreichen durfte, muss ebenso von Eli sprechen, seinem hebräischen Namen, unter dem er im Kibbuz lebte. Er kämpfte im Palmach, den Eliteeinheiten zur Verteidigung jüdischer Siedlungen und danach im Unabhängigkeitskrieg als Soldat der neuen Nation. Karl riskierte für den Judenstaat sein Leben und wurde verwundet.
Er war nach dem Armeedienst nicht bereit, einer Partei beizutreten, um eine Arbeitsstelle zu bekommen. Er wäre – so meint er heute – vielleicht der Arbeiterpartei beigetreten, wenn ihn jemand davon überzeugt hätte, doch auf keinen Fall wollte er ein Parteisoldat werden, bloß um sich so berufliche Vorteile zu verschaffen. Diesem Prinzip sollte er auch später in Österreich treu bleiben.
Karl eckte an. Er verzichtete nie auf seine eigene Meinung. Er blieb widerborstig, ja, er wurde so zu einem Störfaktor, zu einem Querkopf, der seine Stimme erhebt, wenn der politische Ungeist wieder um sich greift.
Sein Schicksal brachte ihn – eher ungeplant und auf recht abenteuerliche Weise – über die Schweiz und Frankreich zurück nach Österreich. Er hatte gar nicht vorgehabt, Israel hinter sich zu lassen. Als er in Wien gefragt wurde, was er von der neuen Zweiten Republik halte, erklärte er offen, die Nazis hätten hier noch viel zu sagen. Wegen solcher Antworten wurde er bald als Kommunist denunziert. Als er daraufhin aufgefordert wurde, sich der Kommunistischen Partei anzuschließen, sagte er dem lokalen Parteisekretär, er könne nicht beitreten, denn er glaube an keinen Gott. Aber dann sei er doch hier ganz richtig, meinte der Funktionär, denn alle Genossen seien schließlich Atheisten. Aber Karl antwortete, das glaube er nicht, denn an den Wänden da würden überall Bilder von Stalin hängen, als wäre er ein Heiliger oder ein Papst. Das war das Ende dieses kleinen Gastauftritts von Karl Pfeifer bei der KP.
Der Parteisekretär schrie ihn an, er sei ein Provokateur, und ich muss zugeben, damit lag dieser stalinistische Fanatiker vielleicht nicht ganz falsch, denn Karl Pfeifer schreckt vor Auseinandersetzungen nie zurück. Er sucht beinah nach ihnen, als wiederhole er damit seine grimmige Lebenserfahrung seit der Kindheit, der geborene Außenseiter, der Ausgeschlossene, der Fremdkörper zu sein. Er benennt den Antisemitismus von Links und von Rechts, unter den Österreichern und unter Muslimen. Unter dem Pseudonym Peter Koroly schrieb er, der die magyarische Sprache beherrscht, über die Unterdrückung der Opposition im kommunistischen Ungarn, doch schon bald nach der Wende wies er auch auf die neuen autoritären Entwicklungen in Ungarn hin, auf die Verherrlichung von Miklos Horthy, auf die Despotie des Viktor Orbán. Auch über Nazitöne im Freiheitlichen Jahrbuch 1995 berichtete Karl Pfeifer, worauf Andreas Mölzer sich dazu verstieg, ihn als Mörder und Hetzer abzustempeln. In Österreich verlor Karl zunächst den Rechtsstreit gegen das Freiheitliche Jahrbuch, doch vor dem Europäischen Gerichtshof – nach jahrelangem Kampf – gewann er die Streitigkeit endlich. Karl Pfeifer war es auch, der im Jahr 2000 die unangenehmsten Fragen stellte, als eine Pressekonferenz zur Angelobung der schwarz-blauen Regierung im Fernsehen live gesendet wurde. Immer stemmt er sich der Hetze gegen Israel entgegen, doch zugleich schreckt er nicht davor zurück, jüdische Fundamentalisten, Ultraorthodoxe und rechtsextreme Rassisten zu kritisieren.
Karl Pfeifer ist – ich sagte es ja schon – viele in einem zugleich, doch ob Kibbuznik, Soldat, Schiffsarbeiter, Hotelfachmann oder der spät berufene Journalist – er macht mich an eine Figur denken, die Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“ auftreten ließ. Der kritische Geist in diesem Stück ist der Nörgler. Vielleicht kann Karl im positiven Sinne mit dem jiddischen Wort Nudnik umschrieben werden. Er ist in Österreich wohl der jüdische Nudnik, gleichsam – um einen neuen Begriff zu kreieren – der im Alpenland unbedingt notwendige Judnik. Vor allem aber ist er ein eigensinniges Individuum, ein Original und ein Subjekt, das ja hierzulande immer schon ein suspektes war. Das ist es, was ihn so jung und jugendlich erhält und seine Dagmar ist es, die ihn belebt, und das darf uns hoffen lassen, von ihm noch viele aufsässige Einwürfe hören und viele kritische Texte lesen zu können. Bis 120 und bis 100 wie 20. Chasak w’ematz und Masal Tov, Karl!