MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 58
Gabriele Jutz

Film als Museum

Das Denken in Museumskategorien jagt der Erinnerung nach, versucht Geschichte, das schlechthin Absente, dingfest zu machen. Auch die Filmindustrie leistet ihren Beitrag, Zeichen an die Stelle des Realen zu setzen.

Geschichte à la Hollywood — in einer seiner aufwendigsten Produktionen: amerikanische Einwanderer beim Rollschuhtanz in „Heaven’s Gate“
Bild: Tobis Film

Der seit einigen Jahren allerorts zu beobachtende Ausstellungsboom scheint die These einer „Musealisierung der Welt“ zu bestätigen. Voraussetzung der Obsession des Erhaltens ist die Liquidierung von Kulturen — erst wenn etwas nicht mehr ist, verdient es, im Museum ausgestellt und bewundert zu werden. Indianer aus Wachs, lebensgroß, mit prachtvollem Federschmuck, simulieren die Gegenwart einer Kultur, die genau von jenen vernichtet wurde, die nun an musealer Rekonstruktion Interesse zeigen. Aber auch Hinterlassenschaften der eigenen, nicht allzu fernen Vergangenheit können in den Stand von Bedeutungsträgern erhoben werden (Freuds Couch, Hüte, Reklametafeln ...), denn im Grunde sind der rasche technische Wandel und der hohe Objektverschleiß der Industriegesellschaften der beste Nährboden für museographischen Wahn. Um überhaupt in einem musealen Zusammenhang erscheinen zu können, muß ein Objekt aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten und von seinem ursprünglichen Funktionszusammenhang abgeschnitten werden. Mit dieser Enthistorisierung des Ausstellungsgegenstandes Hand in Hand geht seine Ästhetisierung.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich aktuelle Sammlungen kaum von den neuzeitlichen Wunder- und Schatzkammern. Was dorthin gelangte, war nicht selten die Ausbeute von Expeditionen: Textilien, Goldschmiedearbeiten, Federgewänder, ‚Fetische‘, Exemplare der fremden Flora und Fauna. Defunktionalisiert dienten diese Objekte nunmehr als Quelle ästhetischen Vergnügens und Prestiges.

Nur langsam werden die Raritätenkabinette Künstlern und Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt. Tatsache aber ist, daß dem Großteil der Bevölkerung Privatsammlungen bis ins 18. Jahrhundert verschlossen blieben, da die Inhaber der weltlichen und geistlichen Macht den Zugang kontrollierten.

Bis heute gepflegte bürgerliche Museumskonzeptionen setzen an die Stelle der Anhäufung von Werten die Schaffung symbolischer Werte. Deshalb auch die Leidenschaft fürs Original. Der Berühmtheit, Seltenheit, Einzigartigkeit der Schaustücke trägt ihre isolierte, bisweilen glamouröse Präsentation hinter Glasschutz Rechnung. Den beigegebenen erläuternden Texten, durch Verweis auf Daten und Fakten um historische Aussagekraft bemüht, gelingt es nicht, die Kontextlosigkeit der Exponate zu kaschieren, die Willkür ihrer Auswahl als Intention zu begründen. Auch die Pop Art, die unter dem Motto „All is pretty“ industriell gefertigte Massenprodukte (Warhols „Brillo Boxes“ oder „Campbell Soup Cans“) zum Kunstartikel erklärt, gibt nur vordergründig die Werte bürgerlicher Ideologeme preis, denn letztendlich ist allein die Person des Künstlers Garant dafür, daß diese Alltagsgegenstände ästhetisiert und im musealen Raum aufgenommen werden.

Ein völlig anderer Blickwinkel eignet jenen Ausstellungskonzeptionen, welche sich szenischer Präsentationsformen bedienen. „Einsichten statt Ansichten“ könnte ihre Maxime lauten, denn anstatt erlesene Einzelstücke den bewundernden Blicken der Kulturkonsumenten anzubieten, versuchen sie kontextuelle Bezüge zu schaffen und der tödlichen Konservierung des Gegenstandes im Museum traditionellen Typs „lebendige Geschichte“ entgegenzusetzen.

Vorläufer dieser Darbietungsart sind die Wachsfigurenkabinette. Im Pariser Musée Grevin beispielsweise kann man Szenen aus der französischen Geschichte bewundern: Jeanne d’Arc auf dem Weg zum Scheiterhaufen, die königliche Familie in der Gefangenschaft während der Revolution, die Ermordung Marats usf. Die detailgetreuen und bühnenhaften Nachbildungen dieser wächsernen Welt sind jedoch auf Grund ihrer geschichtstheoretischen Implikationen nicht unbedenklich, da sie die Fiktion vermitteln, Vergangenes könne lückenlos rekonstruiert werden — eine Haltung, die den Konstruktcharakter historischer Darstellung negiert. Deshalb versuchen Museen ‚neuen Typs‘, wie etwa das „Museum industrielle Arbeitswelt“ in Steyr, wenn sie auf Inszenierungsmodelle zurückgreifen, jeden Eindruck illusionärer Authentizität zu vermeiden. Hier wurde die Schusterstube beispielsweise „erkennbar als Raum im Raum“ konzipiert, und dieser ‚Metaraum‘ bekam eine goldene Färbung, die den Spruch vom goldenen Boden des Handwerks noch deutlich übertreibt. Nicht so sehr das nostalgische Gefühl des Nach- und Mitlebens wird hier gefördert, sondern die distanzierte Betrachtung.

„Film stellt Geschichte nicht nur nach, sondern auch her“
Bild: Tobis Film

Anders als das traditionelle Museum mit seinen defizitären Präsentationsformen beabsichtigt die „mise en scène“, Geschichte ‚anschaulich‘ zu machen. Ihr nie erreichtes Vorbild ist dabei der Film. Und in der Tat scheint dieses Medium all das zu besitzen, was anderen mit der Darstellung von Vergangenheit befaßten Diskursen fehlt. Im Unterschied zum geschriebenen Wort, das auf die Vermittlung der Vorstellung angewiesen ist, stiftet der Film pralle Realität: unmittelbar und sinnlich. Musealem Rekonstruktionszwang, der Geschichte nur allzu leicht in einen Erinnerungseffekt umkippen läßt, setzen die bewegten Bilder ein „lebendiges Da-Sein“ (Jo Christine Metz) — zumindest was die Seite der Wahrnehmung betrifft — entgegen. Dieser enorme Realitätseindruck des Filmischen verdankt sich der besonderen visuellen Struktur der Bewegung, die von dem Augenblick an, wo sie bemerkt wird, als wirklich angesehen wird. Doch damit noch nicht genug. Der Film bereichert die Repräsentation von Geschichte durch die zeitliche Dimension, denn er ist in der Lage, Ereignisse in der Realzeit wiederzugeben. Die Fotographie hält nur ephemere Augenblicke der Vergangenheit fest — deshalb brachte sie Roland Barthes in „Die helle Kammer“ auch mit dem Tod in Verbindung. Die bewegten Bilder aber simulieren Leben und ihre bisweilen unfreiwillige Dokumentatorik (z.B. „Kaiser Franz Joseph auf der Gamsjagd in Ischl“) vermittelt Zugang zu den emotionalen Erlebnisweisen, dem Geschmack und dem kulturellen Wissen vergangener Epochen. Dem statischen Bild fehlen auch die narrativen Elemente. Wo die Fotographie nur zeigt, beginnt der Film zu erzählen.

Jeder Film — egal ob dokumentarisch oder fiktiv — ist ein Zeugnis seiner Herstellungszeit. Indes scheinen Historiker lediglich dem dokumentarischen Genre Vertrauen zu schenken. Dies mag daran liegen, daß sich der Dokumentarfilm zur ‚referierten‘ Realität temporal-parallel verhält und dadurch den Eindruck größter Authentizität erweckt. Der Vertrauensvorschuß, der dokumentarischen Formen (z.B. Wochenschau, Cinéma vérité) entgegengebracht wird, erweist sich jedoch als ungerechtfergtigt, wenn man die kinematographischen Codes (z.B. Codes der Kamera und des Filmmaterials, Montage, Wechselwirkung zwischen Visuellem und Akustischem) in Rechnung stellt, welche selbst dann wirksam werden, wenn keine bewußte Kontrolle auf das vorfilmische Ereignis ausgeübt und auf Inszenierung verzichtet wird.

Selbst wenn die Erfahrungen hierzulande das Gegenteil zu bestätigen scheinen, geht es in internationaler Sicht schon längst nicht mehr darum, den Legitimationsnachweis für den Spielfilm als ernstzunehmende Quelle zu erbringen. Gewiß vermitteln Historienfilme (die „Sissi“-Serie mit Romy Schneider beispielsweise) keinerlei unbekannte Neuigkeiten über die Epoche, auf die sie sich beziehen: Sie sind aber geeignet, Aufschluß über kollektive, häufig unbewußte Vorstellungsmuster (z.B. Frauenbilder in den 50er Jahren) zu gewähren. Diese „Geschichtsbilder“ komprimieren triviales Wissen und geben Vergangenes vereinfacht wieder. Obwohl sich ihre Naivität und Simplizität unschwer nachweisen läßt, wäre es falsch, ihre gesellschaftspolitische Relevanz zu unterschätzen, denn sie entfalten trotz ihrer Unrichtigkeit Wirksamkeit. Triviale Formen, wie der Kostümfilm, stellen Geschichte nicht nur nach, sondern auch her (woher stammen denn unsere Vorstellungen von der Antike, wenn nicht aus „Cäsar und Cleopatra“?) — und zwar in weit größerem Maß als jene Institutionen, die mit der Verbreitung von Geschichtsbildern offiziell beauftragt sind.

Ein Plädoyer für den Film als Museum macht jedoch erst dann Sinn, wenn über der scheinhaften Präsenz der Filmbilder ihr Ideologiegehalt nicht vergessen wird.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1990
, Seite 51
Autor/inn/en:

Gabriele Jutz:

Historikerin und Filmwissenschafterin, lebt in Wien.

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