Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2011 - 2020 » Jahrgang 2011 » Heft 52
Lorenz Glatz • Severin Heilmann • Martin Scheuringer • Maria Wölflingseder

Fiction live

Das Traummännlein

Wirklich anwesend bin ich selten. Ich mag zwar physisch da sein, aber ich bin nicht in meiner Physis. Nicht einmal in meiner Noesis verwirkliche ich mich. Dem Eindruck, mir passiere mein Leben, kann ich mich nicht entziehen. Die Tage, Wochen und Monate gehen dahin ohne bewusste Erinnerung an sie. Es gibt weniges, das sinnvollerweise memoriert werden müsste. Das, was aber im Gedächtnis bleiben sollte, hat auf Grund des Lern-Drucks der Berufswelt keinen Platz mehr.

Mein Denken und Handeln ist größtenteils durch die Anforderungen der sozialen Umwelt bestimmt. Meine Erkenntnis ist auf Sachverhalte gerichtet, die mich ohne den stummen Zwang der Verhältnisse bestimmt nicht beschäftigen würden. Mein Handeln erledigt Probleme, die ich ohne den stummen Zwang der Verhältnisse gar nicht haben würde. Ich arbeite.

Die meisten Menschen verfolgen ihr Arbeitsleben wie ein bürgerliches Trauerspiel als mitfühlende Zuschauer. Sie passen sich in die Arbeit ein und spielen den vorgegebenen Part. Sie sehen sich zu, ohne sich jenseits der Regieanweisungen zu gestalten. Sie begreifen nicht einmal, dass sie in einem großen Trauerspiel Rollen übernommen haben, sie geben sich der Fiktion hin, dieses Stück sei ihr wahres Leben.

Der freie Wille mag in einer philosophischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von menschlichem Handeln eine wesentliche Rolle spielen, bei einer sozio-psychologischen Analyse der gebräuchlichen Begründungsmuster wird in unserer Gesellschaft große Homogenität zu finden sein. Eine im Freiheitsbegriff mitschwingende Diversität ist nicht zu finden. Die Darsteller sind gleich in Bezug auf das Denken, Handeln und Begründen, wenn es um die großen Fragen der Darstellung – Arbeit, Geld, Politik, Markt, Konkurrenz, Freiheit, Eigentum – geht.

Durch das Studium der Kritik vermochte ich mich zeitweise theoretisch aus der Rolle befreien und nahm das Stück ins Visier, dessen Regisseur und Autor ein fiktiver Prozess ist, der Denken und Handeln strukturiert. Dieser Prozess entsteht durch den Glauben an den ökonomischen Wert von Dingen und Handlungen. Die ökonomische Eigenschaft projizieren wir in Dinge und Handlungen hinein, weil es alle so machen. Ein gigantischer Begründungszirkel, der Münchhausen vor Neid erblassen lässt.

Was stelle ich nun in diesem bürgerlichen Theater dar? Ein ordentliches Mitglied einer demokratisch verfassten Gesellschaft mit Verwaltungsapparat und in freier Marktwirtschaft organisierten Unternehmen. Ich handle stets rational-technisch, begründe Entscheidungen ökonomisch und vertreibe meine Freizeit mit politischen Visionen. Wir alle spielen diese gleiche Rolle. Die Dialoge sind schlecht und platt, die Handlungen repetitiv und anstrengend.

Diese Fügung ins Fiktive bleibt nicht ohne Wirkung, es ist mir zu viel der Anpassung. Mir bleibt kaum Zeit, die Differenz zur Maske aufrechtzuerhalten. Diese freie Zeit wird zusehends ein unerreichbarer Wunsch, nur mehr ein Fluchtpunkt am Horizont, an den ich mich klammere um das Arbeitsleben durchzustehen. Voll im fiktiven Diesseits zu sein, ist ein Trauerspiel.

Gerne träume ich von meiner Verwirklichung, ich träume von mir im Kommunismus, in dem ich mich gemeinsam mit anderen ausprobieren und entfalten kann. In diesen Fantasien bin ich wirklich, da spüre ich mich, mein Begehren, im wachen Zustand, den ich in der durch die Fiktion strukturierten sozialen Wirklichkeit verbringe, bin ich nur scheinbar anwesend.

Ich will nicht mehr träumen müssen, um wirklich ich sein zu können.

Martin Scheuringer

Spieler

Zugegeben, das Nachdenken über Fiktion hat mich verwirrt. Je länger ich darüber sinne, umso verwaschener der Kontrast zur Realität. Worin liegt der Unterschied? Wenn Realität das ist, woran geglaubt wird, dann kann Fiktion nur das sein, woran (noch) nicht geglaubt wird. Die Realität ist also potentiell fiktiv, die geglaubte Fiktion real. Erst Täuschung und Enttäuschung lassen das eine als das andere erscheinen.

Was weiter wäre darüber zu sagen? Nun, meine persönliche metaphysische Grundannahme ist, dass Leben spielerischer Natur sei: Die prinzipielle Unmöglichkeit, Fiktion und Realität auseinanderhalten zu können, bietet nämlich auch die Möglichkeit, die beiden nicht auseinanderhalten zu müssen. Es ist der Anspruch an den Spieler, auch sein Privileg, sich mit angemessener Ernsthaftigkeit seinem Spiel zu widmen, darüber aber in keinem Augenblick den an sich unernsten Charakter des Spiels zu vergessen. Der Reiz des Spiels liegt eben darin, sich der Fiktion seiner gewählten Rolle hinzugeben und sie ebenso jederzeit ablegen zu können. Ohne Identifikation mit der Rolle bleibt das Spiel blutleer und leidenschaftslos. Doch völlig ohne Bewusstsein über die angenommene Gegebenheit des Spielcharakters wird es bitter ernst. Beides verunmöglicht jene spielerische Leichtigkeit, die das Wesen alles Lebendigen ist.

So ist das Spiel die Realisierung der Fiktion und genauso die Fiktionalisierung der Realität. In dieser Paradoxie dürfte meine anfängliche Verwirrung ihren Ursprung und nun gleichzeitig auch ein Ende haben.

All the world’s a stage / And all the men and women merely players.

(Shakespeare’s As You Like It)
Severin Heilmann

Schönheit

Er „war keineswegs unempfindlich für Schönheit; er empfand sie im Gegenteil so tief, dass der Gegensatz dieser Welt der Schönheit zu jener, in der er lebte, und zu der Arbeit, die er selbst zu leisten hatte, ihn schmerzlich traf, sooft er sich seiner bewusst wurde.“ (G. Ellert, Das blaue Pferd, S.33) Ich war ganze vierzehn Jahre alt, als ich das las. Es gibt in meinem Leben immer wieder einmal ein „Das kommt mir nicht aus dem Sinn“. Es mag jahrelang verschütt gehen, aber es kommt wieder. Weil es mich eben trifft.

Die Erkenntnis, dass ich jenes Gefühl teile, dass mein Leben weit hinter dem zurückbleibt, ja dem widerspricht, was ich als Schönheit erahne, hat sich in mein Gedächtnis eingefurcht. Was ich so durchlebe, übersteigt von Zeit zu Zeit sowieso das, was ich eigentlich aushalte, aber das ist vermutlich recht weit verbreitet, auch wenn eins das oft nicht wahrhaben will und sich das Unerträgliche schönredet. Mag sein, dass ich wehleidig bin, aber zu wenig bescheiden für die herrschenden Verhältnisse bin ich immer geblieben.

Gottseidank kommt und bleibt da immer auch Schönes, sonst würd ich ja schlapp machen. Aber von dem Ganzen, Umgreifenden, „Schönheit“, von dem ich irgendwie weiß, ist das, bin ich, sind wir schmerzlich weit weg. Von dieser Schönheit Worte zu machen, bleibt weit hinter dem zurück, was es in mir ist, ein Traum, eine Art verrückte Erinnerung an eine Zukunft, die ich suche. In der unser freies, chaotisches Leben nicht an den Messlatten der Herrschaft gestutzt, gestreckt, verstümmelt und bewertet wird, sondern in freier Entfaltung schöne Gestalt annimmt. (Eine miese Übersetzung!)

Ich hasse mich nicht, aber ich glaube andererseits nicht, dass ich bei allem Unsinn, den ich schon verzapft habe, von mir je wie ein Fan von seinem Star gedacht und gesprochen habe. (Heute wird das angeblich für jedes Bewerbungsgespräch trainiert.) Und an mein gutes Leben zu glauben, so nach der Masche, dass ich noch immer viel besser drauf und dran bin als die Loser rundum, auch das habe ich nie allzu lang durchgehalten. Solchen doch recht erbärmlichen Illusionen ist immer meine „Fiktion“ von Schönheit in die Quere gekommen.

Die sinnlichste Bedeutung von lateinisch fictio ist die „künstliche Gestaltung durch streichelnde Berührung“. Davon ist nur die Vorstellung im heutigen Wort geblieben, aber im Falle der Schönheit auch das Begehren nach ihr, von der ich, von der wir nicht auf ewig getrennt sein sollen.

Da schlägt sie durch, die judäochristliche Ketzersehnsucht nach dem Millennium der Befreiung, das den ewigen Kreislauf des Elends der Weltgeschichte brechen und der Utopie Platz schaffen soll. Die antreibt zu den rabenschwarzen Gedanken der Kritik und ihr zugleich den bunten Horizont ihrer Bewegung setzt – und dem Leben die Aussicht öffnet auf Schönheit. Die ihm zusteht.

Lorenz Glatz

Stellungen

Anstellungen und Verstellungen

Wenn auch nur ein Mensch sein Leben voll und ganz ausleben würde, wenn es ihm gelänge, seinen Gefühlen Form zu geben, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen und seine Träume zu verwirklichen – die Welt bekäme einen neuen Antrieb zur Freude.

(Oscar Wilde)

Ja, wenn unsere Vorstellungen vom Leben wirklich wären und wir uns nicht permanent verstellen müssten! – Wählen können wir nur zwischen zwei Extremen: Entweder wir rotieren im Hamsterrad, genannt Job, und sind finanziell gut oder zumindest halbwegs abgesichert. Oder wir wagen uns mehr oder weniger zu verwirklichen und werden ständig von Existenznöten geplagt. Heute wird vielen diese Entscheidungsmöglichkeit auch noch genommen: Sie sind gezwungen, unter verschärften Bedingungen zu überleben.

Im Projekt WÜST mit Lohnarbeitslosen, für das ich ein Jahr lang angestellt war, herrschte die einhellige Erkenntnis: Joblosen darf es gar nicht gut gehen. Sogenannte Arbeitslose sind überdies alles andere als untätig: Jobsuche und Kurse, das Betreuen von Kindern oder Alten, geringfügige Jobs, die gelegentliche Streichung des Bezugs halten auf Trab. Vielleicht bleibt zwischendurch auch einmal Zeit und Muße für persönliche Vorlieben und um gesünder zu leben: Sich mehr zu bewegen, in Ruhe zu kochen und zu essen. Aber trotz der finanziellen Notlage und dem Zwang zur ständigen Verfügbarkeit wird ihnen ihre Lage geneidet. Gesellschaftliche Erniedrigung folgt auf dem Fuß – trotz offensichtlicher „Schuldlosigkeit“ der „Verdächtigten“. Ebenfalls einhellig stellten alle fest: Ums Geld kann es wohl nicht gehen. Für die Summe, die Unterstützung plus Kosten der Verwaltung und „Kasernierung“ von Joblosen ausmacht, wären die „Überflüssigen“ gerne sinnvoll tätig. Aber dann würde für die „bessere Hälfte“ die abschreckende Wirkung wegfallen. Die „Leistungsträger“ sollen sich doch gut und richtig fühlen dürfen, wenn sie schon nicht auskönnen aus dem Hades.

Vorstellungen und Darstellungen

Nichts ist ernst zu nehmen außer der Leidenschaft. Der Intellekt ist keine ernst zu nehmende Sache und war es auch nie. Er ist ein Instrument, auf dem man spielt.“

Ich habe keine Lust, mich meinen Gefühlen zu unterwerfen. Ich möchte sie auskosten, sie genießen und über sie bestimmen.

(Oscar Wilde)

Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Mein Drang zu Kreativität und Eigenständigkeit war offenbar stets stärker als der Unterwerfungszwang. Im Zuge meiner Arbeit beim Projekt WÜST ist mir wieder einmal klar geworden, wofür ich mich glücklich schätzen darf: Mitnichten bin ich geknickt, psychisch und gesundheitlich beschädigt wie viele andere durch jahrelange Joblosigkeit. Obwohl auch ich oft unter Getriebenheit bei gleichzeitiger Lähmung litt. Meine Fülle an Selbstverwirklichungen ist dennoch groß. Meine Erkenntnisse, meine interessanten, hauptsächlich selbst gewählten Tätigkeiten, all die Menschen, mit denen ich Schönes, Intensives, Inniges erlebe, und erst recht all die Kunstgenüsse. „Du gibst dich hin …!“, erkannte ein Gegenüber sogleich, als wir neulich über meine Herzensangelegenheiten inklusive das Wasser sprachen – die „sinnlichste Substanz der Welt“ (Huhki Henri Quelcum). Und eine Osteopathin, sie ist nicht die erste, die aus dem Häuschen war über meine außergewöhnliche Beweglichkeit, Leichtigkeit und Durchlässigkeit und über mein „Nur-so-Sprühen-vor-Kreativität“. Diese erkannte sie, ohne etwas über mich zu wissen, an bestimmten körperlichen Merkmalen. Da staunte ich nicht schlecht und fühlte mich in meinen nächsten Vorhaben bestätigt. Im Reich der Kunst sind die Leidenschaften doch viel besser aufgehoben. Das Intellektuelle hingegen ist ein Instrument, um sich im Reich der Notwendigkeiten zu behaupten. Schule, Studium, Arbeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse reizten mich stets zu Analyse und Kritik. Zu nicht viel anderem taugen sie.

Mit steigendem Alter werden nicht nur meine Ziele klarer, sondern das Erkennen meiner selbst wird zunehmend sonnenklarer. Ein interessantes Gefühl. Wie hieß der Titel eines Programms von Marie-Thérèse Escribano: „Umso älter desto ich“. Ja, mit 50+ ändert sich das Leben, aber ich habe noch nichts Nachteiliges bemerkt.

Maria Wölflingseder

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2011
, Seite 26
Autor/inn/en:

Severin Heilmann:

Geboren 1976. Mitglied im Kritischen Kreis.

Lorenz Glatz:

Geboren 1948, 32 Jahre Latein- und Griechischlehrer in Wien. Pensionist, Hausmann eines lieben Weibes, praktizierender Großvater, Leser, Schreiber und Webmaster.

Martin Scheuringer:

Geboren 1980, lebte bis 1999 im Mühlviertel und in Linz, seit 1999 in Wien. Studium der Soziologie und Philosophie, seit 2005 Mitglied der Redaktion der Streifzüge. Vater zweier Töchter und eines Sohnes. Würde gerne in die Praxis desertieren, findet aber das passende Fragment noch nicht.

Maria Wölflingseder:

Geboren 1958 in Salzburg, seit 1977 in Wien. Studium der Pädogogik und Psychologie. Arbeitsschwerpunkt: Kritische Analyse von Esoterik, Biologismus und Ökofeminismus; zahlreiche Publikationen. Bei den Streifzügen seit Anbeginn. Mitherausgeberin von „Dead Men Working“ (Unrast-Verlag, 2004). Nicht nur in der Theorie zu Hause, sondern auch in der Literatur, insbesondere in der slawischen. Veröffentlichungen von Lyrik sowie Belletristik-Rezensionen.

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