Es war am Abend des 1. November 1993, als ich mich mit einer alten Schulfreundin, die damals in New York lebte, im DDL Foodshow an der Upper West Side traf, auf ihren Tipp hin, dass dort die besten Antipasti der ganzen Stadt zu verspeisen seien. Als Wochenendpassant der schönen Stadt vertraute ich ihr selbstredend, immerhin war sie jetzt Anwältin. Somit saß ich bald an einem kleinen Tisch mit rotkariertem Tischtuch. Meine Gastgeberin bestellte alle möglichen Vorspeisen und bald war der Tisch überzogen mit einem bunten Gebirge aus Essen, welches gutwillig eine Flasche Rotwein umzingelte. Doch noch bevor ich ihr sagen konnte, dass ich mir vorkomme, wie in einem Woody Allen Film, merkte ich, dass eben dieser am Nebentisch gerade über einen Teller voll grüner, saftiger, buttergetränkter, parmesanblendender Fettucine herfiel. Er und meine Anwältin schienen sich zu kennen und sie begannen miteinander zu plaudern. Ich verstand keinen Satz, außer des Öfteren Worte, wie Fellini und dann Fettucini. Da ich mit meinem Englisch vielleicht gerade noch mit Woody Allens Großmutter konversieren hätte können, die bekanntlich aus Wien war, sprang das Gespräch zwischen beiden, mir zu Liebe, bald ins Französische — Fettucine sind ein Mittel sozialer Veränderungen, verstand ich dann endlich. Hingegen nützte Woody Allen die gewonnene Kommunikationsmöglichkeit nach diesem Satz aus, um sich zu verabschieden. Doch was für ein Abendmahl, ich war als New York Tourist voll auf meine Rechnung gekommen, hatte gleich am ersten Abend meines Aufenthaltes eines meiner Idole beim Essen belästigen dürfen und dabei fast meine ganze herrliche Muschelsuppe durch das vom Händeschütteln auf engem Raum provozierte Tischbeben verschüttet — Ah, die gute Zuppa di vongole! — Weißt du, was er mir gerade erzählt hat? — Fragte mich meine Begleiterin — Nein, sag, ah, ist das spannend! — Er wird jetzt zehn Jahre keine Fettucine mehr essen. — Ich verstehe nicht ... — Fellini ist gestern gestorben und Fettucine ist das Leibgericht von Woody Allen. — Ich verstand noch immer nicht und was sollte das heißen: Fellini ist gestorben! — Trauer ist das. — Sagte sie, ich nickte und verstand plötzlich. Fellini war vor ein paar Tagen in ein Krankhaus eingeliefert worden, Fellini war tot.
Einige Stunden später lag ich im Halbdunkeln, im Halbstillen, im Versuch der Nacht, auf der Couch eines schönen, aber etwas engen New Yorker Wohnzimmers. Das war meine erste Nacht in New York, ich sah aus dem Fenster und wusste nicht, ob mein Vis-à-vis Sterne oder Lichter waren — Stardust Memories. Fellini war tot. Schlafunfähig durchblätterte ich Notizen in meinem Tagebuch, die ich irgendwann in nächster Zukunft mir hinein schreiben werde, und stieß auf folgendes, von Roberto Benigni geschrieben: „Fellini belongs to nature. I wrote in an Italian newspaper when he died that the world without Fellini was for me as if olive oil was dead. Something that is absolutely natural, that belongs to the natural. For me, Fellini was like a watermelon. It is there. A watermelon cannot die.“ — soviel zum Verstehen eines Todes. Dann schlief ich irgendwann ein. Eingesperrt in einem Auto, einem Tunnel, einem Traum, fragwürdige Menschen starren an dir ignorierend vorbei. Es raucht von irgendwoher, du bekommst keine Luft, eingesperrt in einem Auto, das Fenster geht nicht auf, du kannst nicht einmal wegfliegen oder doch, es raucht, Trommeln schlagen, Trommeln verstummen, Anwälte reiten auf Pferden Strände hinauf und die Freiheit des Flugs ist gebunden, wie ein Luftballon. Du fällst ins Wasser und wachst von weit oben stürzend auf. Keine Luft.
Manche Menschen von den Achtzigerjahren jetztzeit-hinwärts sind von Wagners Walkürenritt begeistert, weil sie ihn mit Francis Ford Coppolas „Apokalypse Now“ verbunden und seinen Helikopterangriff auf ein vietnamesisches Dorf als Ausdruck des Absurden begriffen haben. Ich mag den Walkürenritt, weil Marcello Mastroianni in 8 1/2, als Guido, als Federico, als Regisseur, der einen Film machen will und eben diesen irgendwie, irgendwo verloren hat, im Kopf oder im Auto, in den Spiegel schaut, leberkrank ist und sich in einem Kurbad aus Pappwänden, antik und echt wirkend, um das scheinheilsame Wasser, glückliches Wasser, wie es die Römer nannten, anstellt. „Auf nüchternen Magen dreihundert Gramm Brunnen“. Das wagnerianische Getobe überfällt das wohl erste Neonlicht in einem Badezimmer der Filmgeschichte, mit einer ruhigen Plansequenz voll ungarischer und italienischer Gräfinnen, Mönchen und Nonnen, alternder Playboys, kindischer Kardinäle und angespannter Sonnenschirme, voll Mamma und Toscanini, voll zitternder, alter Hände unter Sonnenbrillen in einem Park einer mondänen Kurortkulisse herumtrottend. Stille, Überblendung, wenn Claudia Cardinale den Brunnen, Kursprache für ein Glas Wasser, reicht, lächelt, einen Engel oder den Tod oder die Hoffnung oder was auch immer, aber eigentlich sich selbst spielt. Und dann Mezzabotta, der alte Freund mit snobistisch weißen Haaren, begleitet von Gloria, einer Amerikanerin, die nicht seine Tochter ist und welche eine Dissertation über die Einsamkeit des Menschen in der zeitgenössischen Dramatik schreibt. Dann der Kritiker, der zu sprechen anfängt: „Der Mangel jeglicher Problematik oder wenn sie so wollen, an einer philosophischen Grundlage ...“. Guido steht vor dem Nichts an Ideen, vor der Flucht und der Suche nach einem Film, den er, erfolgreich bejubelter Regisseur, drehen soll. Dabei entdeckt er die Welt für uns.
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Überall Film: Kulissen, alles Illusion, Techniker, Varieté, Matrosen als Stepptänzer, große Guidos, kleine Guidos, Priester in weiß, Gerüste, StatistInnen, Pressesprecher, ein Produzent: der Commandatore!, der für jene Produzenten wie Dino De Lau-rentiis oder Carlo Ponti steht, die durch ihren produktiven Größenwahn, der dann bald auch Hollywood erreicht hat, Cinecittá erst möglich gemacht haben. Jeder Mensch, jedes Gesicht eine Station der Entdeckungsreise. Darüber, fiel mitten in den in die Irre führenden Vorbereitungen zu den Dreharbeiten Federico Fellini ein, darüber wird er seinen verlorenen Film machen, mit sich selbst als Guido, als Marcello Mastroianni, seinem Spiegelmenschen, in der Hauptnebenrolle — denn im Mittelpunkt, als Hauptdarsteller, steht überall der Film mit seinen Menschen, als Spiegelwelt aller.
Das ist 8 1/2, geheimnisvoller als der Kosmos, wie der Kosmonaut Titow in einem Hotelflur in Moskau einmal gemeint hat. Das ist der Film, der den Produktionszwang vom Nichts beschreibt. Vor genau 50 Jahren herausgekommen, 1963 sozusagen, ist er eine Art Kulturgeschichte des aussichtsreichen Versagens, des Menschen ohne lästige Eigenschaften, des Menschen auf der Suche, im Chaos. Ich wache, wie schon ein paar Male in dieser Nacht und stehe auf, gehe zur Bibliothek, in diesem schönen, aber etwas engen New Yorker Wohnzimmer und entdecke dort die anderen Kulturgeschichten. Jene der Neuzeit von Egon Friedell und jene der Selbstmörder von Emil Szittya. — Ich weiß von gar nichts — heißt es da irgendwann. Auf den vielen Buchrücken verschwimmt die Erinnerung an die Räume von 8 1/2. Dann noch eine Notiz aus meinem geliebten Tagebuch, diesmal von Gilles Deleuze und zwar zu seinem Kristallbild: Das Spezifische dieser Räume besteht darin, dass sie ihre Eigenschaften nicht allein auf räumliche Weise äußern können. Sie implizieren nicht-lokalisierbare Relationen, nämlich unmittelbare Darstellungen der Zeit. Nicht mehr haben wir es mit einem indirekten Zeit-Bild zu tun, das sich von der Bewegung ableitet, sondern mit einem unmittelbaren Zeitbild, von dem sich die Bewegung ableitet. Wir haben es nicht mehr mit einer chronologischen Zeit zu tun, sondern mit einer chronischen, achronologischen Zeit, die notwendigerweise abweichende und ihrem Wesen nach «falsche» Bewegung hervorbringt. (Das Zeit-Bild. Kino 2, Frank- furt/M. 1997, 172.)
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8 1/2, das Leben ist ein erstaunliches, rätselhaftes Abenteuer, ein reimloses Verharren im Mutterleib, voll Hoffnung und Zutrauen eines Clowns, voll von soviel davon, wie dem Betrachter gerade nicht zumutbar sein kann, vor allem, wenn dieser kein Kind mehr ist. Denn nur aus der Kinderperspektive, aus der bodennahen Perspektive, erschließt sich die bedrückendste Gestalt der Welt, jene die verspricht, dass eigentlich alles nur besser werden kann, das süße Leben eigentlich noch auf einen wartet, ganz unverdorben, ganz abgestorben. Und so unverdorben der Versuch der Perspektive von unten, von der anderen Seite des Architektenplanes sein will, so scharfsinnig und kritisch, so unerschütterlich analytisch ist er schlussendlich. Das Graue, das Absurde als Ausdruck der Realität, als Ausdruck der Einsamkeit in der Menge. Federico Fellini: als kindischer, allmächtig hilfloser Gott des Kinos und des Lebens bildete eine Vision der Welt, die jede banale Lebenspraxis in eine sonderbare, wertvolle, in eine traumvoll beunruhigende verwandelt. Schiffe der Träume an jedem Flughafen, an jedem Laufsteg voll Nonnen und Päpsten.
Als Kind wollte Fellini immer von zuhause weglaufen, um sich einem Zirkus anzuschließen. Als er sein erstes Geld verdiente, war das mit Karikaturen und mit Humoresken. In der Mussolini-Zeit konnte keine sinnvolle Arbeit begonnen werden außer jener, dem Militärdienst mit allen Tricks zu entgehen. Sinn gab es damals in den Welten des Films, denn in der Cinecittá, dem Hollywood Europas bildete sich eine Art Insel der Narrenfreiheit, in der ein Sammelsurium von Leuten (Rosselini, de Sica, Visconti, Antonioni etc., die Neorealisten und Protagonisten des späteren Autorenkinos) zusammentraf, die gleich nach dem Niedergang des Faschismus das unglaubliche Abenteuer des italienischen Filmes losbrachen, welches erst durch den Medientotalitarismus eines Berlusconi wieder vernichtet werden konnte. In Cinecittá schrieb Fellini seine ersten ernsten Drehbücher, wie 1945 für Roberto Rosselinis „Rom — offene Stadt“. Dann, ab Anfang der 50er Jahre drehte er die ersten ernsten eigenen Filme — „Der weiße Scheich“: das Bild einer Desillusionierung; „Die Müßiggänger“: das Porträt des jugendlichen Stillstandes; und „La Strada“, die großen Augen Gelsominas (Augen von Giulietta Masina, der Frau Fellinis), die erschlagen werden in der patriachalen Diktatur Zampanos (Anthony Quinn). Und mittendrum omnipräsent Nino Rotas Musik: La passarella di 8 1/2, E poi, L’illusionista, Carlotta’s Galop, La passarella di addio. Nachdem in Filmen wie „Die Gauner“ und „Die Nächte der Cabiria“ Gangster und Prostituierte vor allem ihr eigenes Leben unsicher gemacht haben, schuf Fellini 1960 „La dolce vita“, der zum Skandalfilm wurde, weil das Spiegelbild der Schattenseite der lebenslustigen Schickeria Roms, über die ein Hubschrauber als Gag mit einer riesigen, angehängten Altarfigur fliegt, in welcher kritische Menschen einfach sich und ihre Kinder und ihre Frau umbringen, jedoch weil in ihr hauptsächlich das Feiern, die Party an aller erster Stelle unwiderrufbar steht, genauso wie der religiöse Fanatismus jener, die sich keine Party leisten können und bei irgendwelchen Marienerscheinungen umkommen, das Spiegelbild des Wahns der Moderne ist, in der kein Platz mehr für Suchende, für Liebe und für Menschen ist. Und dann kam der 8 1/2. Film: 8 1/2. Der Schnitt entlang der Zeit, eine Kollage aus eigenem, losem Menschsein. Dann, zwischen 1963 und 1993 folgt eine Generation Filmgeschichte, die Generation Fellini: „Julia und die Geister“, „Satyricon“, „Roma“, „Amarcord“, „Casanova“, „Orchesterprobe“, „Die Stadt der Frauen“, „Das Schiff der Träume“, „Ginger und Fred“, „Intervista“ und „Die Stimme des Mondes“.
Barfüßig stehe ich in der Luft von Manhattan und plötzlich fällt mir Sandra Milo ein, wie sie weißpelzig behütet, wunderschön im Promenadencafe zu singen anfängt, so schuldlos schuldig an allem und nichts. Fellini hat in jedem Interview, ob mit Constantini oder mit Guidotti behauptet, Marcel Proust nicht gelesen zu haben. Doch scheint die Unmöglichkeit, die Essenz des achtbändigen Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu verfilmen, gerade dem Unbelesenen gelungen zu sein, ihm, der wohl nie in seinem Leben die Zeit gefunden hatte, die 5000 Seiten auch nur aufzuschlagen, wer hat die auch, außer den wahren AnarchistInnen, wie Benjamin und Adorno einhellig gemeint haben. Doch heute Nacht, ich könnte es ja heute Nacht versuchen, die Wege Swanns und der Madeleines in den Lindenblütentee zu verfolgen, es stünde sogar eine englische Übersetzung bereit, die ich nicht einmal verstehen müsste, zumindest wäre das eine würdige Beschäftigung für eine erste Nacht ohne zukünftigen Fellini. Ach, und dabei ... alles bebt wie ein Bahnhof. Fellinis Himmel muss ein Bahnhof sein.