Internationale Situationniste » Numéro 7
Pierre Gallissaires (Übersetzung) • Hanna Mittelstädt (Übersetzung) • Situationistische Internationale

Es werden bessere Tage kommen

Zur selben Zeit, in der die Welt des Spektakels ihr Machtgebiet ausdehnt, nähert sie sich dem Höhepunkt ihrer Offensive, indem sie überall neue Widerstände erweckt. Diese Widerstände sind viel weniger bekannt, weil es eben das Ziel des herrschenden Spektakels ist, universell und hypnotisch die Unterwerfung zu reflektieren. Aber es gibt Widerstände, und die werden immer stärker.

Alle Leute sprechen, ohne viel davon zu verstehen, von der rebellischen Jugend in den hochindustrialisierten Ländern (s. Heft No. 6 der S.I.: „Bedingungslose Verteidigung“). Militante Zeitschriften wie Socialisme ou Barbarie (Sozialismus oder Barbarei) in Paris oder Correspondance in Detroit haben sehr gut dokumentierte Arbeiten herausgegeben über den ständigen Widerstand der Arbeiter während der Arbeit (gegen die ganze Organisation dieser Arbeit), über die Entpolitisierung und die Interesselosigkeit gegenüber den Gewerkschaften, die zu Mechanismen der Integration der Arbeiter in die Gesellschaft und zu zusätzlichen Instrumenten in der ökonomischen Waffenkammer des bürokratisierten Kapitalismus geworden sind. In demselben Maße, wie die alten Formeln der Opposition ihre Wirkungslosigkeit enthüllen oder, noch öfter, ihr völliges Aufgehen in einer Teilnahme an der gegenwärtigen Ordnung, breitet sich die unreduzierbare Unzufriedenheit unterirdisch aus und unterhöhlt das Gebäude der Gesellschaft des Überflusses. Der „alte Maulwurf“, von dem Marx in einem Toast auf die europäischen Proletarier spricht, wühlt immer noch. Sein Gespenst erscheint an allen Ecken unseres vom Fernsehen durchdröhnten Luftschlosses, dessen politische Nebel in dem Augenblick und für die Zeit zerrissen werden, in dem die Arbeiterräte bestehen und befehlen.

Ebenso wie die erste Organisation des klassischen Proletariats am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts von einer Serie von isolierten Handlungen vorbereitet wurde, die als „kriminell“ bezeichnet wurden und darauf ausgingen, die Maschinen einer Produktion zu zerstören, die die Menschen von ihrer Arbeit ausschloß, so erscheint in diesem Moment zum ersten MaI die Welle des Vandalismus gegen die Maschinen des Konsums, die uns ebenso sicher vom ganzen Leben ausschließen. Es ist ganz klar, dass in diesem Moment wie damals der Wert nicht in der Zerstörung liegt, sondern im Ungehorsam, der später in der Lage sein wird, sich in ein positives Projekt zu verwandeln, bis zu dem Ziel, die Maschinen im Sinne eines Anwachsens der realen Macht der Menschen umzuwandeln. Übergehen kann man hier die Verwüstungen, die von Jugendbanden angerichtet werden, es können aber einige Aktionen der Arbeiter angeführt werden, die zum großen Teil unverständlich bleiben vom Gesichtspunkt der klassischen Forderungen aus.

Am 9. Februar 1961 traten die Straßenbahnführer in Neapel in einen überraschenden Blitzstreik, weil man mehrere von ihnen entlassen hatte. Arbeiter, die am Abend aus ihrer Fabrik kamen, fanden die Straßenbahnen nicht vor, mit denen sie gewöhnlich fuhren. Daraufhin zeigten sie sich solidarisch mit den Streikenden, indem sie verschiedene Gegenstände gegen die Büros der Straßenbahngesellschaft warfen, dann sogar Molotowcoctails, die einen Teil der Straßenbahnhallen in Brand setzten. Dann verbrennen sie Autobusse und setzen sich siegreich gegen Polizei und Feuerwehr durch. In einer Masse von mehreren Tausenden verbreiten sie sich in der Stadt, zerstören Schaufenster und Beleuchtungskörper. In der Nacht muss man Militär herbeirufen, um die Ordnung wieder herzustellen, und Panzerfahrzeuge rollen auf die Stadt zu. Diese vollkommen improvisierte und ziellose Manifestation war offensichtlich eine unmittelbare Revolte gegen die zusätzlich aufgewandte Zeit für die An- und Abfahrt, die die Zeitdauer der Lohnsklaverei in den modernen Städten so schwerwiegend verlängert. Diese Revolte, die aufgrund eines unvermuteten zusätzlichen Zufalls losbrach, beginnt sich auf die ganze Oberfläche der Konsumgesellschaft auszubreiten, auf die Kulisse, die neuerdings über den traditionellen Pauperismus Süditaliens geklebt ist. Es wurden Schaufenster und Neonbeleuchtungen, die schwächsten Stellen mit dem größten Symbolgehalt, zerstört wie zur Zeit der Manifestationen der wilden Jugend.

Am 4. August gingen französische Bergarbeiter beim Streik von Merlebach auf 21 Autos los, die vor dem Direktionsgebäude parkten. Jedermann hat mit großer Verblüffung darauf hingewiesen, dass fast alle diese Autos Angestellten des Bergwerks gehörten, die den Arbeitern sozial fast gleichgestellt sind. Wie kann man übersehen, dass es sich dabei um eine Abwehrhandlung gegen den Hauptgegenstand des verfremdenden Konsums handelte, lässt man einmal die vielen Gründe beiseite, die die Aggressivität der Ausgebeuteten permanent rechtfertigen?

Die Streikenden in Lüttich, die am 6. Januar 1961 die Maschinen der Tageszeitung La Meuse zu zerstören angefangen haben, haben einen Gipfel des Bewusstseins ihrer Bewegung erreicht, indem sie nämlich die Informationsapparatur, die sich in den Händen ihrer Feinde befindet, angegriffen haben. Das absolute Monopol aller Transmissionsmittel war nämlich aufgeteilt zwischen Regierungsbehörden und den leitenden Funktionären der gewerkschaftlichen und sozialistischen Bürokratie. Genau hier lag der kritische Punkt des Konflikts, das nie aufgesprengte Schloss, dass den Zugang des „wilden“ Arbeiterkampfes zur Perspektive der Macht versperrte, ihn also zum Verschwinden verurteilt hatte. Es gibt ein Symptom, das zwar weniger interessant ist, weil es mehr von einer ungeschickten Übertreibung der gaullistischen Propaganda abhängig ist, auf das man aber trotzdem hinweisen muss. Es handelt sich um ein Communique der beiden Gewerkschaften der Journalisten und Techniker beim französischen Rundfunk und Fernsehen, veröffentlicht am 9. Februar 1962: „Unsere Genossen, Techniker und Reporter, die sich am Donnerstagabend an dem Schauplatz der Manifestation befanden, um für die Berichterstattung zu sorgen, wurden von der Menge angegriffen bei dem bloßen Anblick des Zeichens R.T.F. (Radiodiffusion-Télévision Francaise). Das ist eine bezeichnende Tatsache. Deshalb halten es die beiden Gewerkschaften für begründet, noch einmal feierlich darauf hinzuweisen, dass das Leben unserer Genossen von der Respektierung ihrer Berichterstattung abhängt …“. Natürlich muss man neben den fortgeschrittenen Reaktionen, die sich schon in konkreter Weise den Kräften der Konditionierung widersetzen, auch mit den Erfolgen dieser Konditionierung selbst im Herzen sehr aktiver Arbeiterbewegungen rechnen. So haben z.B. zu Beginn des Jahres 1962 die Bergleute von Decazeville 20 Mann für einen Hungerstreik delegiert und sich damit auf 20 Stars verlassen, die Mitleid erregen sollten, indem sie auf dem spektakulären Spielfeld des Feindes mitspielten. Sie haben notwendigerweise ihren Kampf verloren, da ja ihre einzige Chance darin lag, um jeden Preis ihre kollektive Intervention auszudehnen über die Grenzen ihres eigenen, ökonomisch defizitären Sektors. Die parlamentarischen und die spektakulären Ideen sind durch die Organisation der kapitalistischen Gesellschaft, sowie ihrer oppositionellen Nebenprodukte so weit propagiert worden, dass revolutionäre Arbeiter häufig vergessen konnten, dass die Vertretung immer auf das notwendigste beschränkt sein muss — auf wenig Dinge und bei seltenen Gelegenheiten. Aber die Widerstandsbewegung gegen die Verdummung wird nicht nur von Arbeitern geführt. Der Schauspieler Wolfgang Neuss in Berlin, der im Januar 1962 durch eine kleine Annonce in der Zeitung Der Abend den Schuldigen eines Kriminalschauspiels in Fortsetzungen im Fernsehen enthüllte und damit die Spannung nahm, die das Publikum seit Wochen leidenschaftlich in Atem hielt, dieser Mann hat damit einen sinnvollen Sabotageakt begangen.

La publicité et l’inconscience.
Dans cette réclame mystérieuse pour une machine à laver, on ne semble même plus craindre de faire figurer un ouvrier dans la galerie des gens qui posent une question, effectivement vitale dans ce cas : qui fabrique tout cela ?

Der Ansturm der ersten Arbeiterbewegung gegen die gesamte Organisation der alten Welt ist schon lange zu Ende und nichts könnte ihn noch einmal zum Leben erwecken. Er schlug fehl, nicht ohne großartige Ergebnisse erzielt zu haben, die aber nicht das angestrebte Resultat waren. Zweifellos ist diese Abweichung in Richtung teilweise unerwarteter Resultate die allgemeine Regel menschlicher Aktionen, aber die Ausnahme ist eben gerade der Moment der revolutionären Aktion, der qualitative Sprung das Alles oder Nichts. Man muss die klassische Arbeiterbewegung wieder mit offenen Augen zu studieren lernen, und vor allem klaren Kopf bewahren gegenüber den verschiedenen Arten der politischen und pseudotheoretischen Erben, denn diese haben nur ihre Schlappe geerbt. Die augenscheinlichen Erfolge dieser Bewegung sind ihre fundamentalen Fehlschläge (der Reformismus oder die Einrichtung einer staatlichen Bürokratie) und ihre Fehlschläge (die Pariser Commune oder die Revolte in Asturien) sind bisher ihre aufschlussreichsten Erfolge für uns und für die Zukunft. Man muss das Thema der Arbeiterbewegung zeitlich genau abgrenzen. Man kann sagen, dass die klassische Arbeiterbewegung etwa 20 Jahre vor der offiziellen Gründung der Internationalen begann — mit der ersten Vereinigung von kommunistischen Gruppen aus mehreren Ländern, die Marx und seine Freunde aus Brüssel seit 1845 organisierten — und sie war zu Ende nach dem Fehlschlag der spanischen Revolution, d.h. unmittelbar nach den Maitagen 1937 in Barcelona.

Innerhalb dieser zeitlichen Grenzen muss man die ganze Wahrheit wiederfinden, alle oppositionellen Strömungen unter den Revolutionären und die übergangenen potentiellen Möglichkeiten überprüfen, ohne sich länger davon beeindrucken zu lassen, dass die einen gegen die anderen Recht behielten und die Bewegung beherrschten, denn wir wissen, dass sie nur innerhalb eines globalen Bankrottes gewonnen haben. Das erste Gedankengut, das wieder entdeckt werden muss, ist offensichtlich das von Marx, was noch leicht ist angesichts der vorhandenen Dokumentation und der ungeheuren, ihn betreffenden Lügen. Aber man muss ebenso noch einmal die anarchistischen Positionen in der ersten Internationale überprüfen, den Blanquismus, den Luxemburgismus, die Bewegung der Räte in Deutschland und in Spanien, Kronstadt oder die Machnowisten usw., ohne den praktischen Einfluss der utopischen Sozialisten zu übergehen. All das hat natürlich nicht mit dem Ziel eines akademischen Eklektizismus oder einer gelehrten Arbeit zu geschehen, sondern einzig mit dem Ziel, der Bildung einer neuen revolutionären Bewegung zu dienen, deren Vorzeichen uns in den letzten Jahren so oft erschienen und von der wir selbst ein Vorzeichen sind. Sie wird von Grund aus anders sein. Wir müssen diese Zeichen durch das Studium des klassischen revolutionären Projektes verstehen und umgekehrt. Man muss die Geschichte der Bewegung der Geschichte selbst wieder entdecken, die so gut verborgen und entstellt wurde. Im übrigen sind nur in diesem Unternehmen — und in einigen künstlerischen Forschungsgruppen die mit ihnen verbunden sind — verführende Verhaltensweisen aufgetaucht, etwas, was uns ermöglicht, uns objektiv für die moderne Gesellschaft zu interessieren und die Möglichkeiten, die sie umfasst.

Es gibt keine andere Treue, keine andere Möglichkeit, die Aktionen unserer Genossen in der Vergangenheit zu verstehen, es sei denn durch eine Neuentdeckung des Problems der Revolution auf dem höchsten Niveau; dieses Problem ist um so mehr von der Welt der Ideen abgetrennt worden, je stärker es sich in der Welt der Tatsachen stellt. Aber warum scheint diese Neuentdeckung so schwierig? Sie ist nicht schwierig, wenn man von einer Erfahrung des freien Alltags, d.h. von der Suche nach der Freiheit im alltäglichen Leben, ausgeht. Das Problem eines freien Alltags scheint uns heute von der Jugend ziemlich konkret empfunden zu werden. Und wird es mit einem entsprechenden Anspruch erlebt, so wird es auch möglich, die verlorene Geschichte in zweiter Instanz zu beurteilen, sie zu retten und wiederzufinden. Sie ist nicht schwierig, für das Denken, dessen Aufgabe es ist, alles Bestehende in Frage zu stellen. Es genügt schon, wenn man die Philosophie nicht aufgegeben hat — wie fast alle Philosophen, oder die Kunst — wie fast alle Künstler, oder die Kritik der gegenwärtigen Realität — wie fast alle Militanten. Erst dann verknüpfen sich diese Fragen bis zu ihrer gemeinsamen Aufhebung. Nur die Spezialisten, deren Macht von der Macht einer Gesellschaft der Spezialisierung abhängt, haben die kritische Wahrheit ihrer Disziplinen aufgegeben, um sich die positive Nutznießung ihrer Funktion zu bewahren. Aber alle wirklichen Forschungen strömen in einer Totalität zusammen, genauso wie die wirklichen Menschen dabei sind, sich zu vereinigen, um noch einmal den Versuch zu unternehmen, aus ihrer Vorgeschichte hinauszugehen.

Gewisse Leute zweifeln an einem neuen Beginn der Revolution, indem sie wiederholen, das Proletariat werde aufgesogen oder die Arbeiter seien heute zufrieden usw. Das kann nur zweierlei bedeuten: entweder sie wollen damit kundtun, dass sie selbst zufrieden sind; dann werden wir sie, ohne Unterschiede zu machen, bekämpfen. Oder sie ordnen sich in eine von den Arbeitern getrennte Kategorie ein (z.B. die Künstler); dann werden wir diese Illusion zerstören, indem wir ihnen zeigen, dass das neue Proletariat mehr und mehr fast die ganze Welt umfasst.

Auf die gleiche Weise übersehen die apokalyptischen Hoffnungen oder Befürchtungen in Bezug auf die Bewegung der Revolte in den kolonisierten bzw. halb-kolonisierten Ländern diesen zentralen Punkt: das revolutionäre Projekt muss in den hochindustrialisierten Ländern verwirklicht werden. Solange dieses nicht verwirklicht worden ist, scheinen die Bewegungen innerhalb der unterentwickelten Zonen dazu verurteilt, dem Modell der chinesischen Revolution zu folgen, deren Geburt die Liquidierung der klassischen Arbeiterbewegung begleitet hat. Ihr ganzes späteres Überleben wurde durch die Mutation bestimmt, die für sie daraus folgte. Jedenfalls bringt das Vorhandensein der Bewegung der Kolonisierten, selbst wenn sie auf das bürokratische China ausgerichtet wird, den äußerlichen Zusammenstoß der beiden ausgeglichenen Blöcke aus dem Gleichgewicht und macht jede Teilung der Welt zwischen ihren Herrschern und Besitzern instabil. Aber das innere Ungleichgewicht, das immer noch in den Fabriken in Manchester und Ost-Berlin besteht, schließt jede Garantie im Pokerspiel der Weltpolitik aus.

« Dans une situation où le législateur, littéralement à propos de toutes les questions théoriques ou idéologiques, était un seul homme, un homme dont le jugement juste ou erroné avait force de sentence définitive, dans une telle situation, évidemment de grandes difficultés entravaient la pensée créatrice. »
Ilytchev. Kommunist, janvier 1962.

Die rebellischen Minoritäten, die im Verborgenen die Zerschlagung der klassischen Arbeiterbewegung überlebt haben (diese List der Geschichte, die ihre Kraft in eine Staatspolizei umgekehrt hat), haben die Wahrheit dieser Bewegung zwar gerettet, aber nur als abstrakte Wahrheit der Vergangenheit. Ein ehrenwerter Widerstand gegen die Macht hat bis heute eine verleumdete Tradition bewahrt, aber nicht vermocht, sich als neue Kraft zu investieren. Die Bildung neuer Organisationen hängt von einer tieferen Kritik ab, die in Handlungen umgesetzt wird. Es handelt sich darum, vollkommen mit der Ideologie zu brechen, in welcher die revolutionären Gruppen positive Beweisstücke zu besitzen glauben, die ihre Funktion garantieren — d.h. man muss die marxistische Kritik der Rolle der Ideologien wieder aufnehmen. Man muss also das Gebiet der spezialisierten revolutionären Aktivität — der Selbstmystifikation des ernsthaften Politischen — verlassen, weil es bewiesen ist, dass die Beherrschung dieser Spezialisierung die Besseren dazu ermutigt, sich in allen anderen Fragen stupid zu zeigen, so dass sie jede Chance eines Erfolgs im politischen Kampf selbst verlieren, der untrennbar vom gesamten Problem unserer Gesellschaft ist. Die Spezialisierung und die Pseudo-Seriösität sind die ersten unter den Verteidigungsmitteln, die die Organisation der alten Welt in dem Geist eines jeden besitzt. Eine neuartige revolutionäre Assoziation wird auch insofern mit der alten Welt brechen, als sie ihren Mitgliedern ermöglichen und von ihnen fordern wird, authentisch und kreativ teilzunehmen, anstatt von ihnen eine an der Anwesenheitsdauer messbare Teilnahme zu erwarten, was ja gleichbedeutend ist mit der Wiedereinführung des einzigen Kontrollmittels der herrschenden Gesellschaft: des quantitativen Kriteriums der Arbeitsstunden. Die Notwendigkeit einer leidenschaftlichen Teilnahme aller tritt auf, weil der verantwortliche, sich „aufopfernde“ Militant der klassischen Politik überall mit der klassischen Politik selbst verschwindet; und noch mehr deswegen, weil Hingabe und Aufopferung sich immer in Autorität — zumindest rein moralisch — bezahlt machen. Die Langeweile ist konterrevolutionär. In jeder Form.

Vive la grève sauvage !
« L’organisation horizontale des syndicats est une source de faiblesse non seulement pour l’industrie mais pour le mouvement syndical lui-même. Dans une usine d’automobiles, par exemple, où quarante syndicats sont représentés, le pouvoir est exercé non pas par les délégués des syndicats mais par le shop steward, le délégué d’atelier élu par ses camarades ... Leur force vient aussi de la complicité et d’une certaine lâcheté de la part des employeurs, dont certains, après avoir refusé les demandes des unions, cèdent ultérieurement, sous la menace de grève, aux shop stewards, accroissant ainsi le prestige de ces derniers et minant l’autorité des syndicats. C’est donc bien plutôt la faiblesse du mouvement syndical et non sa force, comme le disent généralement les conservateurs, qui est contraire à l’intérêt du pays. »
Henri Pierre. Le Monde, 9-2-62

Die Gruppen, die den nicht nur umstandsbedingten, sondern fundamentalen Bankrott der alten Politik zugeben, müssen auch zugeben, dass sie nur dann einen Anspruch auf eine Existenz als permanente Avantgarde erheben können, wenn sie selbst das Beispiel eines neuen Lebensstils — einer neuen Leidenschaft — geben. Bekanntlich ist dieses Kriterium des Lebensstils keineswegs utopisch: es ist überall in den Momenten des Hervortretens und des Aufsteigens der klassischen Arbeiterbewegung erkennbar. Wir glauben, dass das in der kommenden Periode nicht nur so weit, wie im XIX. Jahrhundert, sondern viel weiter gehen wird. Wenn nicht, würden die Militanten dieser Gruppen nur trübe Gesellschaften zur Propaganda einer sehr richtigen und sehr zentralen Idee sein — aber fast ohne Zuhörerschaft. Ob im internen Leben einer Organisation oder in ihrer Aktion nach außen, hat die einseitig spektakuläre Übermittlung einer revolutionären Leere jede Chance verloren in einer Gesellschaft des Spektakels, die gleichzeitig das Spektakel einer ganz anderen Sache massiv organisiert und jedem Spektakel den Stempel des Ekels aufprägt. Folglich hätte diese spezialisierte Propaganda wenig Chancen, im geeigneten Moment in eine Aktion münden zu können, um die wirklichen Kämpfe zu unterstützen, wenn die Massen zum Kampf gezwungen sind.

Man muss sich wieder einmal daran erinnern, was im XIX. Jahrhundert der soziale Krieg der Armen war, um ihn wieder aufleben zu lassen. Das Wort taucht überall auf, in den Liedern und in den Manifesten der Leute, die für die Zielsetzungen der klassischen Arbeiterbewegung gehandelt haben. Eine der dringendsten Aufgaben der S.I. und der Genossen, die heute auf zusammenführenden Wegen gehen, ist es, die neue Armut zu definieren. Ohne Zweifel spielen gewisse amerikanische Soziologen der allerletzten Jahre bei ihrer Darstellung des neuen Pauperismus die gleiche Rolle, wie die ersten utopischen Philanthropen der Arbeiteraktion des letzten Jahrhunderts gegenüber. Das Übel ist aufgezeigt, aber in einer idealistischen, künstlichen Art und Weise, weil das einzige Verständnis in der Praxis liegt und man die wahre Natur des Feindes nur dann wirklich versteht, wenn man ihn bekämpft (auf diesem Gebiet befinden sich G. Kellers und R. Vaneigems Projekte zur Überführung der Aggressivität der Halbstarken auf das Feld der Ideen).

Die Definition dieser neuen Armut ist natürlich nicht möglich ohne diejenige des neuen Reichtums. Man muss dem von der herrschenden Gesellschaft verbreiteten Bild — nach dem sie aus sich selbst und unter dem erträglichen Druck des Reformismus aus einer Ökonomie des Profits eine Ökonomie der Bedürfnisse entwickelt hat — eine Ökonomie der Begierde entgegensetzen, die man folgendermaßen ausdrücken könnte: die technisierte Gesellschaft mit der Vorstellung, was man aus ihr machen kann. Die Ökonomie der Bedürfnisse wird in Begriffen der Gewohnheit gefälscht. Die Gewohnheit ist der natürliche Prozess, durch welchen sich die Begierde (erfüllt, verwirklicht) zu einem Bedürfnis degradiert, d.h. auch sich bestätigt, objektiviert und überall als Bedürfnis zu erkennen gibt. Aber die gegenwärtige Ökonomie fabriziert unmittelbar Gewohnheiten und sie manipuliert Menschen ohne Begierden, indem sie sie aus ihren Begierden herausstößt.

Die Mitschuld an der falschen Kritik der Welt lässt sich nicht trennen von der Komplizenschaft mit ihrem falschen Reichtum (folglich nicht von einer Flucht vor der Definition der neuen Armut). Das ist sehr deutlich bei dem Sartre-Anhänger Gorz (siehe Nummer 188 der Temps Modernes). Er gesteht, etwas beschämt zu sein, dass er sich (durch eine tatsächlich wenig glänzende journalistische Arbeit) allmählich die Güter dieser Gesellschaft leisten kann: das Taxi und die Reisen, sagt er voller Ehrfurcht, in einer Zeit, wo das Taxi hinter den Massen der für alle obligatorisch gewordenen Autos herrollt und wo uns die Reisen über die ganze Erde zum immer gleichen, langweiligen Spektakel der ewigen, vervielfältigten Entfremdung führen. Zur gleichen Zeit begeistert er sich über „die Jugend“ der einzigen „revolutionären Generationen“ von Jugoslawien, Algerien, Kuba, China und Israel — so wie Sartre damals über die „totale Freiheit der Kritik in der UdSSR“. Die anderen Länder sind alt, sagt Gorz, um seine eigene Schwachsinnigkeit zu entschuldigen. Er entledigt sich damit der revolutionären Wahl, die innerhalb der Jugend dieser Länder und auch unserer Länder notwendig ist, in denen jedermann nicht so alt, nicht so spektakulär und wo jede Revolution nicht so „gorzisch“ ist.

Im Augenblick beunruhigt sich der Fougeyrollasismus — der bekanntlich die letzte Ideologie ist, die den Marxismus beseitigt, indem sie ihn in einem größeren Rahmen einbaut — darüber, dass die großen Stufen der historischen Entwicklung durch eine Veränderung der Produktionsweise gekennzeichnet worden waren, während die von Marx angekündigte kommunistische Gesellschaft, wenn sie existieren würde, jedem Anschein nach nur eine Folge der Gesellschaft der industriellen Produktion sein würde. Fougeyrollas muss auf die Schulbank zurückkehren. Die nächste Gesellschaftsform wird nicht auf die industrielle Produktion gegründet sein. Sie wird eine Gesellschaft der realisierten Kunst sein. Diese „absolut neue Produktionsweise, die in unserer Gesellschaft schon im Keim vorhanden sein sollte“ (Marxisme en Question, S. 84), das ist die Konstruktion von Situationen, die freie Konstruktion aller Ereignisse des Lebens.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1976
, Seite 10
Autor/inn/en:

Pierre Gallissaires:

Geboren 1932 in Talence (Gironde). Übersetzer und Mitgründer der Edition Nautilus in Hamburg.

Hanna Mittelstädt:

Geboren 1951 in Hamburg. Autorin und Übersetzerin, Mitgründerin der Edition Nautilus in Hamburg.

Situationistische Internationale: Situationistisch / Situationist: All das, was sich auf die Theorie oder auf die praktische Tätigkeit von Situationen bezieht. Derjenige, der sich damit beschäftigt, Situationen zu konstruieren. Mitglied der situationistischen Internationale.
Situationismus: Sinnloses Wort, missbräuchlich durch Ableitung des vorigen gebildet. Einen Situationismus gibt es nicht — was eine Doktrin zur Interpretation der vorhandenen Tatsachen bedeuten würde. Selbstverständlich haben sich die Anti-Situationisten den Begriff „Situationismus“ ausgedacht.

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