Context XXI » Print » Jahrgang 1997 » ZOOM 7/1997
Markus Kemmerling

Erforschung des Nordlichts löste atomaren Alarm aus

Begriffe wie „nukleare Erstschlagskapazität“ oder „kurze Vorwarnzeiten“, die in den 80er Jahren die Nachrüstungsdebatte prägten, sind heute fast vergessen. Zwischenfälle, etwa die Operation RYAN im Jahr 1983 (siehe ami 5/1997), die die Welt an den Rand eines nuklearen Schlagabtausches brachte, interessieren zumeist nur mehr HistorikerInnen.

Doch die Gefahr eines durch technisches Gebrechen oder menschliches Versagen ausgelösten zufälligen Atomkriegs ist keineswegs gebannt. Noch immer wird ein Großteil der US-amerikanischen wie der russischen Nuklearwaffen in ständiger Gefechtsbereitschaft gehalten. In einem Beitrag für die Novemberausgabe von Scientific American („Taking Nuclear Weapons off Hair-Trigger Alert“) rechnen Bruce Blair, Harold Feiveson und Frank von Hippel vor, daß die beiden nuklearen Supermächte mehr als 5000 Atomwaffen in lediglich einer halben Stunde aufeinander abfeuern können. Aufgrund der Verletzbarkeit der eigenen Nuklearbasen und der kurzen Zeitspanne, die verbleibt, um bei einem drohenden Angriff auf diese Basen die eigenen Atomraketen zu zünden, hält das Militär beider Seiten seine Raketen nach wie vor ständig einsatzbereit.

Die Autoren präsentieren nun einen Vorschlag, wie der überwiegende Teil der Nuklearwaffen innerhalb von ein bis zwei Jahren aus der Gefechtsbereitschaft genommen werden kann. Der Gefahr eines zufälligen Atomkriegs ließe sich so wesentlich schneller begegnen als mit der in den START-Verträgen festgeschriebenen nuklearen Abrüstung. Denn selbst bei Umsetzung des angestrebten START-III-Vertrages verblieben in zehn Jahren immer noch 2000–2500 strategische Nuklearsprengköpfe auf beiden Seiten.

Die Dringlichkeit ihres Vorschlags untermauern die Autoren durch einen knapp drei Jahre zurückliegenden Vorfall. Am 25. Jänner 1995 erschien plötzlich ein besorgniserregender Punkt auf den Schirmen nordrussischer Radarstationen, ausgelöst durch eine unweit der norwegischen Küste abgeschossene Rakete. Die Gegend gilt als Hauptpatroulliengebiet der mit ballistischen Atomraketen bestückten US-Polaris. In den Befehlszentralen der russischen strategischen Raketenstreitkräfte wurden umgehend Vorbereitungen für einen nuklearen Gegenschlag gegen die USA eingeleitet. Die Militärs informierten Präsident Jelzin über einen mutmaßlichen Raketenangriff. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde so der „nukleare Aktenkoffer“ aktiviert, den der Präsident ständig bei sich führt, um im Notfall den Abschuß atomar bestückter Raketen zu befehlen. Nach acht Minuten – nur einige Minuten vor Ablauf der Frist für einen Gegenschlag – erkannten die russischen Militärs, daß die unidentifizierte Rakete Kurs auf die offene See nahm und daher keine Gefahr bedeutete. Schließlich stellte sich heraus, daß es sich um eine US-amerikanische Rakete zur Erforschung des Nordlichts gehandelt hatte. Die Wochen zuvor von Norwegen routinemäßig übermittelte Information über den geplanten Start der bereits 607. Rakete eines seit 32 Jahren laufenden Forschungsprojekts war im russischen Behördendschungel untergegangen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1997
, Seite 32
Autor/inn/en:

Markus Kemmerling:

Gelernter Physiker, EDV-Kundiger und Web-Entwickler bevor die Meisten „Internet“ buchstabieren konnten. Redaktionsmitglied, organisatorisches und moralisches Rückgrat von Context XXI, Fels in allen Brandungen vom mythologischen Anbeginn bis Mai 2003.

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