Internationale Situationniste » Numéro 6
Pierre Gallissaires (Übersetzung) • Attila Kotányi • Hanna Mittelstädt (Übersetzung) • Raoul Vaneigem

Elementarprogramm des Büros für einen Unitären Urbanismus

1. Leere des Urbanismus und Leere des Spektakels

Der Urbanismus existiert nicht: er ist nur eine „Ideologie“ im Sinne von Marx. Die Architektur existiert wirklich, wie das Coca-Cola: sie ist ein in Ideologie gekleidetes, aber reelles Produkt, das auf falsche Weise ein verfälschtes Bedürfnis befriedigt. Der Urbanismus kann mit einer Reklameausstellung für Coca-Cola verglichen werden: eine reine spektakuläre Ideologie. Der moderne Kapitalismus, der die Reduktion des gesamten sozialen Lebens auf das Spektakel organisiert, ist außerstande, ein anderes Spektakel zu geben als das unserer eigenen Entfremdung. Sein Traum vom Urbanismus ist sein Meisterstück.

2. Die Städteplanung als Konditionierung und falsche Beteiligung

Die Entwicklung des städtischen Milieus ist die kapitalistische Dressur des Raumes. Sie stellt die Wahl einer bestimmten Materialisierung des Möglichen dar und den Ausschluss von anderen. Wie die Ästhetik, deren Bewegung der Auflösung sie folgt, kann man sie als einen ziemlich vernachlässigten Zweig der Kriminilogie betrachten. Auf der Ebene des Urbanismus im Vergleich zur bloßen architektonischen Ebene lässt sie sich jedoch dadurch kennzeichnen, dass sie die Bejahung der Bevölkerung fordert, eine individuelle Integration in die Ingangsetzung dieser bürokratischen Produktion der Konditionierung.

All das wird durch das erpresserische Geschwätz von der Brauchbarkeit erzwungen. Verheimlicht wird aber, dass die ganze Bedeutung dieser Brauchbarkeit in den Dienst der Verdinglichung gestellt wird. Der moderne Kapitalismus lässt einen auf jede Kritik verzichten mit dem simplen Argument, man brauche ein Dach über dem Kopf, ebenso wie die Einführung des Fernsehens damit entschuldigt wird, man brauche Information und Unterhaltung. So übersieht man schließlich die offensichtliche Tatsache, dass diese Information, diese Unterhaltung, diese Art des Wohnens nicht für Menschen gemacht sind, sondern ohne sie, gegen sie.

Die ganze Städteplanung ist nur ein Betätigungsfeld für die Publicity und Propaganda einer Gesellschaft, d.h. die Organisation der Teilnahme an einer Sache, an der man unmöglich teilnehmen kann.

3. Der Verkehr als höchstes Stadium der Städteplanung

Der Verkehr ist die Organisation der Isolation aller und insofern das Hauptproblem der modernen Städte. Er ist das Gegenteil der Begegnung, nämlich die Absorption der für Begegnungen oder sonst eine Art von Beteiligung verfügbaren Energien. Die unmöglich gewordene Beteiligung wird durch Spektakel kompensiert. Das Spektakel wird in der Wohnung und im Standortwechsel sichtbar (Standard von Wohngebäuden und Autos). Denn in Wirklichkeit bewohnt man nicht ein Stadtviertel, sondern die Macht. Man wohnt irgendwo in der Hierarchie. Am Gipfel dieser Hierarchie kann die Rangordnung am Grad des Verkehrs gemessen werden. Die Macht wird sichtbar durch die Verpflichtung, täglich an mehr und mehr und immer weiter voneinander entfernten Orten anwesend zu sein (Geschäftsdiners). Man könnte die moderne Führungskraft als einen Mann charakterisieren, bei dem es vorkommt, dass er sich im Laufe eines einzigen Tages in drei verschiedenen Hauptstädten befindet.

4. Die Verfremdung vor dem Spektakle der Städte

Das gesamte Spektakel hat das Ziel, die Bevölkerung zu integrieren. Es tritt sowohl als Städteeinrichtung als auch als permanentes Informationsnetz in Erscheinung und bildet einen festen Rahmen für die Sicherung der bestehenden Lebensbedingungen. Unsere erste Arbeit ist es, dass wir den Leuten erlauben, die Identifikation mit der Umgebung und dem Modellverhalten zu beenden. Das ist nicht zu trennen von der Möglichkeit, sich selbst in einigen der ersten, für die menschliche Aktivität bestimmten Zonen zu erkennen. Die Leute werden noch lange Zeit die Periode der Verdinglichung im städtischen Milieu akzeptieren müssen. Aber das Verhalten, mit dem sie sie akzeptieren, kann augenblicklich geändert werden. Man muss die Ausbreitung des Misstrauens gegen diese luftigen und kolorierten Kindergärten, die im Westen wie im Osten neue Schlafstädte bilden, unterstützen. Nur wer wach wird, stellt die Frage nach einer bewussten Konstruktion des städtischen Milieus.

5. Eine unteilbare Freiheit

Der wichtigste Erfolg der gegenwärtigen Städteplanung ist, dass sie die Möglichkeit dessen, was wir Unitären Urbanismus nennen, vergessen lässt, d.h. die lebendige, durch die Spannungen des gesamten alltäglichen Lebens geförderte Kritik an dieser Manipulation der Städte und ihrer Einwohner. Lebendige Kritik bedeutet: Errichtung von Stützpunkten für ein experimentelles Leben, Vereinigung derer, die ihr eigenes Leben auf einem für ihre Zwecke ausgerüsteten Territorium erschaffen wollen. Diese Stützpunkte sollen auf keinen Fall reserviert sein für eine von der Gesellschaft getrennte „Freizeit“. Keine Raum-Zeit-Zone ist vollständig abtrennbar. Praktisch übt die globale Gesellschaft immer einen Druck auf ihre aktuellen „Ferienreservate“ aus. In den situationistischen Stützpunkten, die die Funktion von Brückenköpfen für eine Invasion des gesamten Alltags übernehmen werden, wird dieser Druck in umgekehrter Richtung ausgeübt werden. Der Unitäre Urbanismus ist das Gegenteil einer spezialisierten Aktivität. Die Anerkennung eines getrennten urbanistischen Gebiets bedeutet schon die Anerkennung der ganzen urbanistischen Lüge und der Lüge im ganzen Leben.

Das Glück wird im Urbanismus versprochen. Er wird also aufgrund dieses Versprechens gerichtet werden. Die Koordinierung der künstlerischen und wissenschaftlichen Mittel der Entlarvung muss zu einer vollständigen Entlarvung der bestehenden Konditionierung führen.

6. Die Landung

Der ganze Raum ist schon besetzt von dem Feind, der alles bis zu den Grundregeln dieses Raumes für seinen Gebrauch gezähmt hat (über die Gerichte hinaus sogar die Geometrie). Der authentische Urbanismus erscheint in dem Augenblick, in dem gewisse Zonen dieser Besatzung entledigt werden. Hier fängt das an, was wir Konstruktion nennen. Diese kann mithilfe des von der modernen Physik gefundenen Begriffs des „positiven Lochs“ verstanden werden. Die Freiheit zu materialisieren, heißt zuerst, dieser gezähmten Welt einige Parzellen ihrer Oberfläche zu entziehen.

7. Das Licht der Zweckentfremdung

Die Grundübung der Theorie des Unitären Urbanismus wird die Umschreibung der gesamten theoretischen Lüge des Urbanismus sein, ihre Entwendung zum Kampf gegen die Entfremdung. Wir müssen ihre Rhythmen umkehren.

8. Bedingungen des Dialogs

Das Funktionelle ist das, was praktisch ist. Und praktisch ist einzig die Lösung unseres Grundproblems: die Verwirklichung von uns selbst (unsere Lossagung vom System der Isolierung). Das ist das Nützliche und das Benutzbare. Nichts anderes. Alles andere sind nur winzige Ableitungen des Praktischen, seine Mystifizierung.

9. Das Rohmaterial und seine Transformation

Die situationistische Zerstörung der gegenwärtigen Konditionierung ist schon die gleichzeitige Konstruktion der Situationen. Sie bedeutet die Befreiung der unerschöpflichen Kräfte, die im versteinerten Alltag eingeschlossen sind. Die gegenwärtige Städteplanung, die als eine Geologie der Lüge auftritt, wird mit dem Unitären Urbanismus vor einer Technik zur Verteidigung der ständig bedrohten Bedingungen der Freiheit weichen, und zwar in dem Moment, in dem die — als solche immer noch nicht vorhandenen — Individuen frei ihre eigene Geschichte konstruieren.

10. Das Ende der Vorgeschichte der Konditionierung

Wir unterstützen nicht die Forderung, man müsse zu irgendeinem Stadium vor der Konditionierung zurückkehren; man muss über sie hinausgehen. Wir haben die Architektur und den Urbanismus erfunden, die ohne die Revolution des alltäglichen Lebens nicht verwirklicht werden können; das bedeutet die Aneignung der Konditionierung durch alle Menschen, ihre unbegrenzte Bereicherung, ihre Erfüllung.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1976
, Seite 16
Autor/inn/en:

Attila Kotányi:

Geboren 1924 in Ungarn, gestorben 2003 in Düsseldorf. Poet, Philosoph, Autor, Architekt, Urbanist. Flüchtete nach dem gescheiterten ungarischen Aufstand 1956 aus Budapest nach Brüssel und schloss sich dort der Situationistischen Internationale an. Wurde aus dieser 1962 unter dem Vorwurf des „christlichen Mystizismus“ ausgeschlossen.

Raoul Vaneigem:

Geboren 1934 in Lessines (Belgien). Künstler, Autor und Kulturphilosoph, Mitglied der Situationistischen Internationale.

Pierre Gallissaires:

Geboren 1932 in Talence (Gironde). Übersetzer und Mitgründer der Edition Nautilus in Hamburg.

Hanna Mittelstädt:

Geboren 1951 in Hamburg. Autorin und Übersetzerin, Mitgründerin der Edition Nautilus in Hamburg.

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