Grundrisse » Jahrgang 2004 » Nummer 10
Karl Reitter

Ein Popanz steht Kopf

Zu Postones Buch: „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“

Postones Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ erschien im Original bereits Mitte der 90er Jahre und liegt nun auch in deutschsprachiger Übersetzung vor. Diese Arbeit kann durchaus als eine Art Manifest der sogenannten Wertkritik bezeichnet werden. Die Wertkritik stellt nun keinesfalls eine einheitlich Strömung dar, ganz im Gegenteil. Sowohl AktivistInnen der Krisis-Gruppe als auch der „Initiative Sozialistisches Forum“, letztere mit klar antideutscher Ausrichtung, haben gemeinsam an der Übersetzung gearbeitet, obwohl sich diese Gruppen äußerst kritisch, ja feindselig gegenüberstehen und ihre Form der Auseinandersetzungen bis an die Grenze der Handgreiflichkeit heranreicht. Aber Postone ist es mit seinem Buch offenbar gelungen, der Wertkritik eine so allgemeine programmatische Form zu geben, daß die unterschiedlichsten Strömungen darin eine diskussionswürdige Basis ihres Marxverständnisses erkennen. Grund genug, sich genau mit diesem Buch auseinanderzusetzen.

Aus Postones Arbeit wird klar, daß Wertkritik gegenwärtig wohl als Sackgasse angesehen werden muß. Ihre ursprüngliche Intention bestand darin, ein vorgebliches Defizit des bisherigen Marxismus, oftmals als „Arbeiterbewegungsmarxismus“ oder „traditioneller Marxismus“ bezeichnet, zu korrigieren. Vereinfacht gesagt, ging es darum, den gesellschaftskritischen Gehalt der Begriffe der Kapitalanalyse, wie Ware, Wert, Doppelcharakter von Arbeit und Ware usw. herauszuarbeiten und damit gleichzeitig die Verkürzungen des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ zu kritisieren. Diesem wurde vorgeworfen, die Kritik Marxens am Kapitalismus auf ungerechte Verteilung, Ausbeutung usw. zu reduzieren, somit die Tiefendimension der Marxschen Begriffe ebenso zu verkennen wie die notwendige Tiefe der Kritik am Kapitalismus. Allerdings ist die Wertkritik sehr rasch übers Ziel hinausgeschossen und hat tatsächliche oder vermeintliche Verkürzungen sehr rasch durch eigene ersetzt. Ja, in gewissem Sinne wurde der oftmals sehr grob und unzureichend dargestellte „Arbeiterbewegungsmarxismus“ einfach auf den Kopf gestellt. Wurde diesem etwa aus wertkritischer Perspektive vorgeworfen, die Kritik am Kapitalismus auf ungerechtre Verteilung zu reduzieren, so wurde diese Verkürzung sehr rasch durch ein völliges Unverständnis der Ausbeutung und ihrer Konsequenzen ersetzt; auf die ehemalige Verehrung der fordistischen, industriellen ArbeiterInnenklasse folgte die Verwerfung des Klassenbegriffs überhaupt usw. usf. ... Franz Schandl schreibt etwa über den Begriff der Ausbeutung: „Ausbeutung ist eine moralisch aufgeladene Kategorie, die jedoch wenig begreift.“ [1] Mit dieser Aussage wird die Reduktion des Ausbeutungsbegriffs auf ungerechte Verteilung für bare Münze genommen. Im Kern bezeichnet jedoch Ausbeutung jenen Prozeß, durch den das Klassenverhältnis selbst produziert wird, in dem sich das Kapital die Produkte unserer Arbeit aneignet, und dieses Angeeignete uns als sachliche Macht entgegentritt. Ausbeutung ist Prozeß, das Privateigentum an Produktionsmittel das Resultat. Zu sagen, „Wir arbeiten, aber die Bosse profitieren“ ist bestenfalls nur ein Moment der Ausbeutung, keineswegs ihr eigentlicher Mechanismus. Gleichzeitig werden einmal gewonnene Erkenntnisse schematisch immer wieder wiederholt. Zentrales Beispiel dafür ist die Kritik an der Arbeit, die auch im Buch von Postone zentral ist. Es ist sicher richtig und notwendig, der von Gewerkschaften und Sozialdemokratie (und nicht nur von ihr) transportierten Arbeitsmoral entgegenzutreten, die Affirmation der Lohnarbeit durch ihre Kritik zu ersetzen. Aber nach dem siebenundfünfzigsten Artikel gegen die Arbeit, nach dem x-ten Manifest gegen sie, usw., wäre doch wohl die Frage angebracht, ob hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.

In Postones Buch finden sich nun alle Halbwahrheiten, Verkürzungen, Unzulänglichkeiten und Fehldeutungen gesammelt und versammelt. Das erste Problem, und damit sind wir bereits mitten in der Kritik an Postone, ist die Art und Weise, wie die Thesen vorgetragen werden. Anstatt die Auseinandersetzung mit Marx zu eröffnen und eine neue Debatte zu ermöglichen, wird die Rezeption von Marx hermetisch abgeriegelt. Das liegt weniger an dem schwer erträglichen Pathos, mit dem Postone die Erfindung des Rades präsentiert. Tatsächlich hat Stefan Breuer bereits ab Mitte der 70er Jahre vieles von dem vorweggenommen, was in Postones Buch als zentrale Aussage formuliert wird. Die Auseinandersetzung wird deshalb so erschwert, weil Postone suggeriert, seine höchst selektive und einseitige Interpretation sei bei Marx eins zu eins zu finden, während jene Passagen, deren Buchstaben und Geist Postone ignoriert oder verschweigt, böswillige Erfindungen und Verzerrungen des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ darstellten. Breuer war da weitaus redlicher. Er unterschied zwischen dem „guten“ Marx, das sei der Marx des „automatischen Subjekts“, der Marx der subjektlosen Herrschaft, der Marx des abstrakten Werts und dem „üblen“ Marx, das sei der Marx des transhistorischen Arbeitsbegriffes, des Klassenkampfes – Marx, der Gattungsgeschichtler, der uns die Geschichte der Emanzipation durch Arbeit erzählen würde. Breuer anerkannte zumindest, daß seine Interpretation nicht restlos in den Marxschen Texten aufgeht. Wenn wir in der Folge einige Zitate aus den Marxschen Texten bringen werden, so wollen wir damit nicht reklamieren, wir seien im Besitz des „wahren“ Marxverständnisses, oder Marxinterpretation erschöpfe sich in bloßer Verständnisleistung, insofern alles klipp und klar in den blauen Bänden stünde. Es ist selbstverständlich legitim, ja notwendig, Marx auch zu kritisieren, seine Unklarheiten und schwachen Stellen aufzuzeigen und auf dieser Basis eine „neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx“ – so der Untertitel des Buches – vorzuschlagen. Statt sich mit den Wendungen und Aspekten der Marxschen Kritik detailliert auseinanderzusetzen, behauptet Postone seine höchst einseitige Darstellung sei der wirkliche Marx, die von ihm ausgeblendeten Aussagen geistlose Erfindungen des Traditionsmarxismus. Indem Postone Auffassungen von Marx mit jenen des sogenannten Arbeiterbewegungsmarxismus vermengt und vermischt, indem er kaum unterscheidbar macht, was seine höchstpersönliche Interpretation und was die Auffassung von Marx darstellt, wo und in welchem Punkt über Marx hinauszugehen sei, wo wir anknüpfen müssen und welche Passagen bei unserem Philosophen des 19. Jahrhunderts als eher problematisch einzustufen sind, sind wir mit einem höchst hermetischen Text konfrontiert.

Mein Hauptproblem ist jedoch, daß das Buch aus der Perspektive der sogenannten objektiven, wissenschaftlichen Erkenntnis und nicht der Perspektive der Revolte heraus geschrieben ist. Postone will uns zeigen, wie der Kapitalismus ist, in seinem unveränderliche Sosein. Er, Postone, als schreibendes und denkendes Subjekt steht hier, der Kapitalismus ist dort, als Objekt der Erkenntnis. Es ist eine kalte, gefrorene Welt, die uns Postone da zeigt. „Der Begriff des Wissenschaftlichen fußt also auf einer offensichtlichen Unwahrheit, nämlich auf der Vorstellung, es sei möglich, einen Gedanken auszudrücken, der den Denkenden ausschließt.“, schrieb John Holloway. [2] Postone breitet vor uns eine erstarrte, identitätslogisch fixierte, kalte Welt aus, in der Momente der Revolte, des Widerstandes und der Befreiung nur Verwirrung stiften können. Aber den Kapitalismus als starr, als geschaffen zu analysieren, bedeutet für mich, den Kapitalismus im Kern zu verfehlen, das Prozeßhafte, Unfertige, sich im Fluß Befindliche zu ignorieren und schon in der Theorie auszuschalten. Wie wir sehen werden, endet das Buch auch mit der Perspektive auf objektive, jenseits unseres Begehrens, Wünschens und Kämpfens ablaufende Prozesse. Kurz gesagt, die Botschaft lautet letztlich: Der Kapitalismus wird sich (hoffentlich) selbst abschaffen, indem er Arbeit und Proletariat abschafft. Und was tun wir bis dahin?

Hinzu tritt, daß Postones Buch trotz des nicht unbeträchtlichen Umfangs einen sehr unfertigen, ja skizzenhaften Eindruck hinterläßt, der wiederum im krassen Gegensatz zum erwähnten Duktus steht. Wer den Begriff der Zeit gemeinsam mit Arbeit und Herrschaft auf den Buchumschlag setzen läßt, von dem ist wohl zu erwarten, daß er das Verhältnis zwischen Uhrzeit und abstrakter Arbeit genau entwickelt. Aber gerade jene Passagen, in denen sich Postone diesem Thema widmet, also die Kapitel 5 („Abstrakte Zeit“) und Kapitel 8 („Die Dialektik von Arbeit und Zeit“) sind ausgesprochen vage beziehungsweise enttäuschend.

Im Kapitel fünf versucht Postone, den Zusammenhang zwischen der Einführung der gleichförmigen, abstrakten Uhrzeit und der kapitalistischen Produktionsweise nachzuzeichnen. Doch seine Aussagen bleiben ausgesprochen vage. „Die Ursprünge abstrakter Zeit sollten in der Vorgeschichte des Kapitalismus, im Spätmittelalter gesucht werden.“ (310) Aber sind sie dort auch zu finden, und wenn: wie und wo? „Der Ursprung abstrakter Zeit scheint also mit der Organisation der gesellschaftlichen Zeit zusammenzuhängen.“ (315) Scheint es so, oder ist es so? „Ich behaupte also, daß das Aufkommen einer solchen neuen Zeitform mit der Entwicklung der Warenförmigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zusammenhängt.“ (323) Zweifellos eine Behauptung, für die vieles spricht, aber wäre es nicht nützlich, diese Behauptung genauer zu explizieren? Was unterscheidet „warenförmige Verhältnisse“ von „kapitalistischen Verhältnissen“? Es wird zwar an einer Stelle das mittelalterliche, städtische Bürgertum kurzum als „Bourgeoisie“ (318) bezeichnet, aber Postone behauptet an keiner Stelle eine direkte Verbindung zwischen kapitalistischer Produktionsweise und dem Entstehen der gleichförmigen Zeitmessung durch die Uhr. Wie auch, klafft zwischen beiden Phänomenen immerhin – nach seiner eigener Darstellung – ein Zeitraum von ungefähr vier Jahrhunderten. Welchen Erkenntniswert hat also der Verweis – und mehr ist es ja nicht – auf die strukturelle Affinität zwischen Zeitmessung und gesellschaftlicher Durchsetzung des abstrakten Zeitmaßes als Maß des abstrakten Wertes? Das Verhältnis von gesellschaftlicher Durchsetzung der gleichförmigen Uhrzeit und der kapitalistischen Arbeitsorganisation ist aber sehr gut und ausführlich analysiert worden. Als eine Studie unter vielen sei die Arbeit von Edward Thompson „Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism“ erwähnt. [3] Die Analysen der Durchsetzung der gleichförmigen Uhrzeit im Europa des 12. Jahrhunderts mögen sicher nicht uninteressant sein; dennoch kommt Postone nicht über vage Analogien hinaus. Wenn er Seiten später selbstbewußt behauptet: „Es wurde beispielsweise gezeigt, daß die Marxsche Bestimmung der Wertgröße eine soziohistorische Theorie der Entstehung absoluter mathematischer Zeit als gesellschaftliche Wirklichkeit und als Begriff unterstellt.“ (323) [Da haben sich die ÜbersetzerInnen selbst übertroffen] so müssen wir leider einwenden: Gezeigt wurde da nichts, bestenfalls skizziert.

Abgesehen davon, ignoriert Postone weitgehend den elaborierten Versuch Sohn-Rethels, den Zusammenhang zwischen Warenform und Abstraktion zu analysieren. Sohn-Rethel versuchte, die Abstraktion als solche aus den Abstraktionen des Warentausches abzuleiten, genauer, Sohn-Rethel meinte, daß Warentausch unbewußt eine Reihe von Abstraktionen, ein „Absehen-von, Auskammern-von“ voraussetzt und dergestalt Abstraktion gesellschaftlich wirksam werden konnten. Daher wurde er zeitlebens von der Intuition geleitet, „daß im Innersten der Formstruktur der Ware - das Transzendentalsubjekt zu finden sei.“, [4] da Abstraktion nicht nur die Dinge in der Welt, sondern auch das Subjekt erfassen müsse. Die Abstraktionen, so Sohn-Rethel, seien historisch mit dem geldvermittelten Warentausch gesellschaftlich wirksam geworden. Von dieser These ausgehend, versuchte Sohn-Rethel nicht nur die abstrakten Begriffe der Naturwissenschaft, etwa die gleichförmige Uhrzeit, auf ihren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zurückzuführen, sondern auch die Basis für die Trennung von Hand- und Kopfarbeit verständlich zu machen. Es sei kein Zufall, daß mit dem Aufkommen der Münze [5] in der griechischen Antike die Philosophie sich als getrennte Kopfarbeit, abgesondert vom übrigen Produktionsprozeß, etablieren konnte, ja mußte. Das ehrgeizige und umfangreiche Programm von Sohn-Rethel halte ich zwar für gescheitert, wer jedoch den Zusammenhang von Warenproduktion und Abstraktion untersucht, sollte Sohn-Rethel nicht einfach wie Postone mit einigen Worten abtun. Postone zitiert Sohn-Rethel im Grunde nur, um sich von dessen Begriff der „Produktionsgesellschaft“ abzugrenzen.

Was verstand Sohn-Rethel unter diesem Ausdruck, warum muß Postone dagegen polemisieren? Sohn-Rethel entwickelte einmal den Begriff der „gesellschaftlichen Synthesis“. Unter gesellschaftlicher Synthesis verstand er den Modus, oder wenn mensch will, den Mechanismus, der den gesellschaftlichen Zusammenhang herstellt. Sohn-Rethel unterscheidet dabei zwei mögliche Mechanismen des gesellschaftlichen Zusammenanhangs in allen nur denkbaren Gesellschaften. Entweder werden gesellschaftliche Beziehungen durch den Tausch konstituiert, oder sie werden unmittelbar in der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, also im Arbeitsprozeß selbst konstituiert. Die erste Form entspräche prinzipiell der Klassengesellschaft, die zweite wäre zumindest der Möglichkeit nach klassenlos. Tatsächlich spricht alles dafür, daß beide Formen in der kapitalistischen Gesellschaft verwirklicht sind. Natürlich passen sie nicht zusammen. Synthesis durch den Tausch und Synthesis durch die gesellschaftliche Gesamtarbeit stehen in strikter Entgegensetzung. Der entgegengesetzte Doppelcharakter von Tauschwert und Gebrauchswert, von Verwertungsprozeß und Arbeitsprozeß muß sich auch im entgegengesetzten Doppelcharakter der gesellschaftlichen Beziehungen zeigen. Wir verhalten uns zueinander einerseits als Käufer und Verkäufer, aber zugleich müssen wir gesellschaftliche Beziehungen jenseits des Tauschverhältnisses ausbilden: Liebe, Freundschaft, und nicht zuletzt der konkrete Zusammenhang im Arbeitsprozeß sind solche Formen. Postone hingegen erklärt schlicht und einfach diese zweite Form für inexistent. „Vielmehr“, so schreibt er auf Sohn-Rethel gemünzt, „bewertet er die unterschwellig durch Arbeit in der industriellen Produktion bewirkte Art gesellschaftlicher Synthesis positiv als nicht-kapitalistisch und stellt sie der über den Tausch sich vollziehenden Vergesellschaftung gegenüber, die er negativ einschätzt.“ (275) Postone als strikter Monist kennt jedoch nur eine Form, die Synthesis durch den abstrakten Wert. Daher distanziert er sich von der Auffassung Sohn-Rethels: „Die gesellschaftliche Synthesis wird in der vorliegenden Studie nie als eine Funktion der Arbeit betrachtet, sondern als Form der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Produktion stattfindet.“ (276) Daß Postone die soziale Wirklichkeit „so betrachtet“, akzeptieren wir gerne, aber die Frage, ob diese Betrachtung auch angemessen sei, bleibt offen. Im übrigen hat schon Stefan Breuer haargenau die selbe Versicherung, wonach „Gesellschaft eben so sei“ ,vorgetragen: „Konstitutiv für den gesellschaftlichen Zusammenhang ist nicht die lebendige Arbeit, auch nicht das konkrete Bedürfnis, ‚Grundbestand der Gesellschaft an sich’, ‚maßgebende Struktur der Gesellschaft’ ist vielmehr der Tausch, in dem die konkreten Einzelarbeiten auf ihren gemeinsamen Nenner reduziert werden – abstrakte Arbeit als Substanz des Wertes.“ [6]

Wir stoßen hier auf einen ganz zentralen Punkt bei Postone, nämlich seine Tendenz, die kapitalistische Gesellschaft fast ausschließlich als gut geöltes Karussell darzustellen. Der Tausch mache die Dinge nicht nur gleich, der abstrakte Wert allein verbinde und verknüpfe alternativlos unsere gesellschaftlichen Existenzen. Entgegensetzungen, Widersprüche, Konflikte, all das wird seitenlang als nicht existent, als unwesentlich oder als reine Illusion des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ dargestellt. Auch auf Postone trifft die Aussage von Holloway über die traditionellen Strömungen im Marxismus zu: „In der Zukunft wird es einen radikalen Bruch geben, aber in der Zwischenzeit können wir den Kapitalismus so behandeln, als wäre er eine sich selbst reprozuzierende Gesellschaft“ [7] An die Stelle von Widerspruch und Konflikt setzt Postone Übereinstimmung und Harmonie – eine zwar entfremdete, abstrakte, verkehrte, aber dennoch ungestörte, alternativlose Harmonie ohne wirkliche Mißklänge. Auf den letzten Seiten des Buches jedoch meint er einen Punkt erkennen zu können, an dem der Kapitalismus zerschellen könnte. Wer jedoch nach etwa 400 Seiten zu lesen aufhört, wird kaum auf die Idee kommen, hier läge ein Werk vor, das systematisch die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise untersucht.

Das größte Erstaunen löste das achte Kapitel aus, „Die Dialektik von Arbeit und Zeit“ übertitelt. Was Postone uns hier vorstellt, ist im Kern nichts anderes als die sehr beredt vorgetragene Rezeption des Begriffs der Produktivkraft der Arbeit, wie ihn Marx auf den Einleitungsseiten des „Kapitals“ entwickelt. Postone verspricht uns durch seine „erneute Interpretation der Marxschen Basiskategorien eine begriffliche Neubestimmung des Wesens des Kapitalismus“ (432) vorzulegen. Und was folgt wirklich? Nicht viel mehr als eine umständliche Darstellung des Begriffs der Produktivkraft der Arbeit. Worauf läuft Postones Argumentation in diesem Abschnitt hinaus? Bei oberflächlicher Lektüre könnte der Eindruck entstehen, Marx würde beiden Dimensionen von Arbeit und Ware, also konkrete und abstrakte Arbeit, Tauschwert und Gebrauchswert, als quasi unabhängig von einander konzipieren. Dieses Mißverständnis könnte durch folgende zwei Aussagen von Marx provoziert werden.

Aussage 1: „Dieselbe Arbeit ergibt daher in denselben Zeiträumen stets dieselbe Wertgröße, wie immer die Produktivkraft wechsle.“ (MEW 23; 61)

Aussage 2: „Produktivkraft ist natürlich stets Produktivkraft nützlicher, konkreter Arbeit und bestimmt in der Tat nur den Wirkungsgrad zweckmäßiger produktiver Tätigkeiten.“ (MEW; 60)

Die erste Aussage interpretiert Postone mit Blick auf den Traditionsmarxismus so: „Die Wertgröße scheint also allein eine Funktion von verausgabter abstrakter Arbeitszeit zu sein, vollkommen unabhängig von der Gebrauchswertdimension der Arbeit.“ (433) Eine Stunde abstrakter Arbeit ergibt eben eine geronnene Stunde abstrakten Wert; diese Aussage scheint keinen Bezug zum Gebrauchswert zu enthalten. Dann verweist Postone triumphierend auf das Handweber-Maschinenweberbeispiel im „Kapital“. Mit der Einführung der Maschine wurde die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, läßt uns Marx annehmen, halbiert. Nun gilt es das doppelte Quantum Garn in Gewebe zu verwandeln, um eine Stunde abstrakter Arbeit zu produzieren und den entsprechenden Gegenwert im Austausch zu erhalten. Selbst wenn eine abstrakte Stunde eine abstrakte Stunde bleibt, steigt doch die Gebrauchswertmenge, die in dieser einen Stunde zu produzieren ist: also sind beide Dimensionen verklammert, und die abstrakte Zeit ist ihr Maß. Jede bessere Einführung in das „Kapital“ hat diesen Zusammenhang klar herausgearbeitet. Mit steigender Produktivkraft der Arbeit steigt also notwendig die Masse an Gebrauchswert, die erzeugt werden muß, um der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit zu entsprechen. Wer, wie die armen Handweber, in einer Stunde weiterhin nur halb soviel wie die Maschinen leistet, wird als Gegenwert auch nur eine halbe, statt der tatsächlich geleisteten ganzen Arbeitsstunde vergütet bekommen. So weit, so gut. Im übrigen kann die Verklammerung von Gebrauchs- und Tauschwert an vielen anderen Beispielen gezeigt werden, etwa bei der Untersuchung der Reproduktionsschemata im II. Band des „Kapitals“. Postone jedoch präsentiert diesen Zusammenhang als großartige, neue Erkenntnis: „Somit ist diese Bewegung der Zeit eine Funktion der Gebrauchswertdimension der Arbeit in ihrer Wechselwirkung mit dem Wertrahmen und kann als eine Art konkreter Zeit verstanden werden. Bei der Untersuchung der Interaktion von konkreter und abstrakter Arbeit, die den Kern der Marxschen Analyse des Kapitalismus ausmacht, haben wir zeigen können, daß ein Wesenszug des Kapitalismus in einem (konkreten) Zeitmodus liegt, der die abstrakte Zeitbewegung ausdrückt.“ (441, Hervorhebung im Original) Es ist kaum zu fassen: Postone buchstabiert uns einfach den Begriff der Produktivkraft vor, in dem er den Zusammenhang zwischen Aussage 1 und Aussage 2 von Marx erläutert und meint nun, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Nein! ruft er triumphierend aus: Tauschwert und Gebrauchswert sind keine unabhängigen Dimensionen, sie stehen in Wechselwirkung, und die abstrakte Zeit ist ihr Maß!

Um den sozialphilosophischen Gewinn zu verstehen, den Postone mit seiner eher umständlichen Rezeption des Begriffs der Produktivkraft der Arbeit errungen zu haben meint, muß auf ein weiteres Postulat unseres Autors verweisen werden. Denn Postone ist felsenfest überzeugt, daß der Traditionsmarxismus fälschlich die beiden Dimensionen von Arbeit und Ware, also konkrete und abstrakte Arbeit, Tauschwert und Gebrauchswert, als völlig unabhängige, für sich bestehende Dimensionen begreife. Deshalb, so könnte mensch Postone paraphrasieren, müsse der Traditionsmarxismus auch Arbeit und Proletariat vom Kapital unabhängig setzen. Aus dieser Perspektive kritisiert Postone den traditionellen Marxismus uns dessen Ausrufung des Proletariats zum revolutionären Subjekt. Die TraditionsmarxistInnen meinten, daß Proletariat existiere außerhalb und unabhängig vom Kapitalismus, als unschuldiges und vor allem arbeitendes Subjekt („Standpunkt der Arbeit“). Postone hält dagegen: „Die Marxsche Kritik ist nicht positiv. Ihr grundsätzlicher Standpunkt ist nicht der einer bestehenden gesellschaftlichen Struktur oder Gruppierung, die für vom Kapitalismus unabhängig gehalten wird.“ (541) Der Arbeiterbewegungsmarxismus hingegen behauptete, das Proletariat und seine Arbeit seien im Grunde völlig unabhängig vom Kapital. Das jedoch, so Postone, sei völlig falsch, weil das Proletariat nur im und durch den Kapitalismus existiere. Weil es also Teil des Kapitalismus, und zwar notwendiger Teil sei, wäre es integriert. „Wie festgestellt, widerspricht die Marxsche Analyse der Auffassung, der Kampf zwischen der Kapitalistenklasse und dem Proletariat sei einer zwischen der herrschenden Klasse im Kapitalismus und einer, die den Sozialismus verkörpere, und der Sozialismus bedeute deshalb die Selbstverwirklichung (sic!) des Proletariats.“ (532) „Weit davon entfernt, die vergesellschafteten Produktivkräfte darzustellen, die in Widerspruch mit den kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse geraten und dadurch auf die Möglichkeiten einer postkapitalistischen Zukunft verweisen, ist die Arbeiterklasse für Marx das wesentliche, konstituierende Element dieser Verhältnisse selbst. Sowohl die Arbeiterklasse als auch die Kapitalistenklasse bleiben an das Kapital gebunden, die erstere jedoch um einiges mehr: das Kapital könnte ohne Kapitalisten existieren, jedoch nicht ohne wertproduzierende Arbeit.“ (535f) Jetzt wird auch der strategische Gewinn seines achten Kapitels klar: Die beiden Dimensionen sind eben ineinander verklammert, und die abstrakte Zeit ist ihr gemeinsames Maß. Also existiert auch die arbeitende Klasse nur als Pol eines Verhältnisses, keineswegs unabhängig vom Kapital oder außerhalb desselben. Und weil das Proletariat das wesentliche, konstituierende Element dieser Verhältnisse selbst ist, ist es völlig integriert, der Klassenkampf Illusion. Klassen und Klassenkampf gibt es zwar, räumt Postone ein, sie sind aber völlig bedeutungslos. Die Klassenherrschaft sei Marx (sic!) „zufolge nicht der letzte Grund der gesellschaftlichen Herrschaft, sondern ist selbst aus einer ihr übergeordneten, abstrakten Herrschaftsform herzuleiten.“ (199) Klassenkampf, so wäre Postone zu paraphrasieren, sei also ein bloßes Zubehör zum Kapitalismus.

Angesichts derartiger Argumentationslinien wird die Auseinandersetzung freilich recht mühsam. Sollen wir wirklich unzählige Zitate Reigen tanzen lassen, die glasklar machen, daß die revolutionäre Rolle des Proletariats gerade aus dessen Verstrickung ins Kapital abgeleitet wurde? Sollen wir wirklich daran erinnern, daß nach Marx allein der Kampf der vorkapitalistischen Klassen notwendig mit dem gemeinsamen Untergang beider sich bekämpfenden Kontrahenten enden mußte, hingegen das Proletariat als Allgemeine verkörpert, mithin sein Klasseninteresse darin besteht, Klassen überhaupt aufzuheben, und keineswegs sich als Klasse festzuhalten und zu bestätigen? Weil wir auch „v“, also variables Kapital sind, weil wir nur als Pol des Kapitalverhältnisses existieren, deshalb kann an die revolutionäre Rolle des Proletariats gedacht werden, und nur deshalb. Marx kann natürlich kritisiert, seine entsprechenden Aussagen hinterfragt werden. Die Heere von Pappkameraden, die Postone aufstellt, machen die Auseinandersetzung so mühsam und unfruchtbar. Wenn Postone uns sagen will, daß zur Arbeiterklasse zu gehören Pech [8] und nicht Glück sei, so wollen wir antworten, daß dies in der Tat völlig richtig ist, oder wie Holloway sagt: „Nur insoweit, als wir nicht die Arbeiterklasse sind, kann die Frage der Emanzipation überhaupt gestellt werden.“ [9] Aber ebenfalls mit Holloway ist daran zu erinnern, daß wir beides sind, Proletariat und Nicht-Proletariat zugleich. Gerade diese innere Spannung und Entgegensetzung versucht Postone sozialphilosophisch zu beseitigen. Im Grunde ist er monistischer Identitätstheoretiker. Die Herrschaft des abstrakten Werts macht alles gleich, friert die Welt identitätslogisch ein. Das Proletariat ist, was es ist, nicht mehr und nicht weniger. Da gibt es keinen Überschuß, keine Unklarheiten, kein Noch-Nicht, keine angezweifelte, brüchige, vielschichtige Identität, kein Spiel von Identität und Nichtidentität, letztlich keine Wirklichkeit unserer schwankenden Existenzen.

Die Harmonie des Yin-Yang

Wir alle kennen den Yin-Yang Kreis. Die Momente bedingen einander gegenseitig, schmiegen sich ineinander und haben jeweils auch das andere Element in sich. Beide Seiten können niemals unabhängig von einander existieren, das eine bedarf des anderen, um zu sein, was es ist, und umgekehrt. Der Yin-Yang Kreis ist ein gutes Bild, um das Verhältnis von Gebrauchswert zu Tauschwert, von konkreter zu abstrakter Arbeit, von Proletariat zum Kapital zu kennzeichnen, das Postone entwirft. Die beiden Dimensionen von Arbeit und Ware sind Postone zufolge gleichzeitig durch das Kapitalverhältnis gesetzt. Mit seinen eigenen Worten: „Weil jede besondere Art der Arbeit als abstrakte Arbeit fungieren und jedes Arbeitsprodukt als Ware dienen kann, werden Tätigkeiten und Produkte, die in anderen Gesellschaften nicht als ähnlich klassifiziert würden, im Kapitalismus als gleiche, als Vielfalt (konkreter) Arbeiten oder als besondere Gebrauchswerte klassifiziert. In anderen Worten: die durch abstrakte Arbeit historisch konstituierte abstrakte Allgemeinheit etabliert auch die konkrete Arbeit und den Gebrauchswert als allgemeine Kategorien.“ (237) Von konkreter Arbeit und von Gebrauchswerten zu sprechen, ist nach Postone also nur im Kapitalismus sinnvoll. Da jedoch konkrete wie abstrakte Arbeit nur zwei Aspekte des selben Yin-Yang Kreises darstellen, ist es nicht nur möglich, sondern auch geboten, den Begriff Arbeit strikt für den Kapitalismus zu reservieren. Daher der Schluß: „Die Aufhebung des Kapitalismus bedeutet auch die Aufhebung der durch das Proletariat verrichteten konkreten Arbeit.“ (59) Arbeit ist also genuin kapitalistisch. Abschaffung des Kapitalismus bedeutet folglich Abschaffung der Arbeit. In den Aussendungen der Krisis-Gruppe liest sich dieser Gedanke folgendermaßen: „Arbeit ist keine überhistorische Kategorie, keine unveränderliche Bedingung menschlicher Existenz, sonst könnte sie weder in die Krise geraten noch ließe sie sich kritisieren. Sie ist ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft, ein Zwangsprinzip, das immer sinnloser wird, aber eben deswegen um jeden Preis aufrecht erhalten werden muß.“ [10]

Diese Terminologie könnte als etwas skurrile Sprachregelung durchgehen. An die Stelle der Arbeit tritt in einer nachkapitalistischen Gesellschaft nützliche Tätigkeit, und in der Antike wurden nicht Gebrauchswerte, sondern Gebrauchsgüter produziert usw. Allerdings wird mit diesem Vorschlag eines der wesentlichsten Elemente revolutionärer Hoffnung aufgegeben. Im Gegensatz zu Postones Harmoniedenken sind die Verhältnisse keineswegs in der Balance. Es kann Gebrauchswert ohne Tauschwert, es kann konkrete Arbeit ohne abstrakte geben, aber nicht umgekehrt. Marx: „Ein Ding kann Gebrauchswert sein, ohne Wert zu sein“, jedoch: „Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein.“ [11] Das Kapital ist von uns abhängig, es ist unser Produkt, aber wir sind nicht im gleichen Maße vom Kapital abhängig. [12] Indem Postone dieses Ungleichgewicht in Harmonie verwandelt, verschließt er sich einem der wesentlichsten Momente der Rebellion und Revolte gegen das Kapitalverhältnis. „Aus dieser Perspektive (darauf komme ich noch zu sprechen) wird die konkrete Dimension der Arbeit sozusagen durch die abstrakte angeeignet. Diese strukturelle Aneignung der Gebrauchswertdimension der Arbeit durch ihre abstrakte Dimension macht die grundlegende Enteignung der kapitalistischen Gesellschaftsformation aus.“ (525)

Den Gebrauchswert einfach als die harmonische Ergänzung des Tauschwerts darzustellen, überspringt und verkürzt die gesamte Debatte um die Qualität der Gebrauchswerte im Kapitalismus, die seit Jahrzehnten geführt wird. Es gab zumindest drei Strömungen: Gebrauchswerte wurden entweder als materielle Basis der Emanzipation verstanden (diese Position unterstellt Postone pauschal dem „Arbeiterbewegungsmarxismus“); [13] oder als neutrale Mittel, als bloßes Potential; und drittens wurde auch auf die destruktiven Seiten verwiesen, etwa in der Debatte um den „grünen“ Marx, der auf die umweltschädigenden Aspekte des Kapitalismus sehr wohl hingewiesen hat. Auch hier ist es eine gewisse Zumutung für die LeserInnen, wie Postone einerseits diese Debatte ignoriert, andererseits so tut, als ob die Prägung und Formung der Gebrauchswerte im Kapitalismus seine großartige neue Entdeckung wäre.

Ich will noch ein weiteres Bild verwenden, das den Geist des Postonschen Arbeitsbegriffs illustrieren kann. Ein Blatt Papier hat unabdingbar zwei Seiten, aber es kann nicht gesagt werden, diese Seiten würden nicht zusammen passen, in Gegensatz zueinander stehen. Wenn ich also eine Seite des Papiers verwerfen möchte, muß ich das ganze Blatt zusammenknüllen und in den Papierkorb werfen. Und genau das schlägt uns Postone vor: Weg mit der Arbeit, weg mit dem Arbeitsbegriff! Ärgerlich ist nun, daß Postone behauptet, diese seine Auffassung von Arbeit sei jene von Marx, oder zumindest im Grunde jene von Marx, abgesehen von einigen unklaren Stellen. „Zwar konstituiert und bestimmt Marx zufolge die Arbeit tatsächlich die Gesellschaft – aber nur im Kapitalismus“ (107) Arbeit ist ein Spezifikum des Kapitalismus, Punktum. Nur der Arbeiterbewegungsmarxismus würde den Popanz des transhistorischen Arbeitsbegriffs erfinden, von dem es sich endlich zu befreien gelte. „Die Marxsche Analyse des Entwicklungsverlaufs des kapitalistischen Produktionsprozesses verweist jedoch nicht auf die zukünftige Möglichkeit einer Affirmation des Proletariats und der von ihm verrichteten Arbeit. Ganz im Gegenteil verweist sie auf die Möglichkeit der Abschaffung dieser Arbeit.“ (489) Die Art der Postoneschen Aussagen bedeuten fast den Abbruch der Diskussion, bevor sie richtig begonnen hat. Postone sollte zur Kenntnis nehmen, daß auch andere Menschen Marx ausführlich gelesen haben. Selbstverständlich vertritt Marx einen transhistorischen Arbeitsbegriff, und zwar von den „Pariser Manuskripten“ aus 1844 bis zu seinem Tode. Etwas Anderes zu behaupten, ist einfach Unsinn oder Vertrauen auf die Unkenntnis des Publikums. Daß sich innerhalb dieses Rahmens Verschiebungen und Veränderungen bei Marx erkennen lassen, gestehen wir gerne zu. Anstatt jedoch zu sagen: „Achtung, Marx tendiert zu einem höchst problematischen, transhistorischen Arbeitsbegriff, wir sollten diese Konzeption überdenken und nach Momenten bei Marx suchen, die dieses Konzept relativieren“, will uns Postone weismachen, sein skurriler Arbeitsbegriff sei jener von Marx, des authentischen Postone-Marx, versteht sich.

Umgekehrt erhärtet sich der Verdacht, daß Postone dem Schein des bürgerlichen Denkens aufsitzt, allerdings um 180 Grad gewendet. Das bürgerliche Denken kann den Arbeitsprozeß als solchen nicht von seiner kapitalistischen Form trennen, identifiziert das eine mit dem anderen. Marx geht davon aus, daß der Arbeitsprozeß unter doppeltem Gesichtspunkt betrachtet werden muß. Einerseits ist er immer durch die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse formbestimmt, andererseits hat er immer auch überhistorischen Charakter: „Auf der einen Seite nennen wir die Elemente des Arbeitsprozesses verquickt mit den spezifischen gesellschaftlichen Charakteren, die sie auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe besitzen, und auf der andern Seite fügen wir ein Element hinzu, das den Arbeitsprozeß unabhängig von allen bestimmten gesellschaftlichen Formen als einen ewigen Prozeß zwischen Mensch und Natur überhaupt zukommt.“ [14] Das bürgerliche Denken kann diese innere Entgegensetzungen nicht begreifen und schließt also: Weil der Arbeitsprozeß ewig ist und eine andere als die kapitalistische Form undenkbar ist, ist auch der Kapitalismus ewig. Postone kehrt diesen Gedanken einfach um: Da der Arbeitsprozeß nur in der kapitalistischen Form historisch existiert, eine andere Form undenkbar ist, bedeutet Abschaffung des Kapitalismus also Abschaffung der Arbeit. Auf Postone trifft – um 180 Grad gewendet – zu, was Marx über die bürgerliche Ideologie schreibt: „Ebenso daß, weil der Produktionsprozeß des Kapitals überhaupt Arbeitsprozeß ist, der Arbeitsprozeß als solcher, der Arbeitsprozeß in allen gesellschaftlichen Formen notwendig Arbeitsprozeß des Kapitals ist. (...) Es ist die dieselbe Logik, die schließt, daß weil Geld Gold ist, Gold an und für sich Geld ist, daß weil Lohnarbeit Arbeit, alle Arbeit notwendig Lohnarbeit ist.“ [15] Postone kann und will Entgegensetzungen nicht denken. Die Dinge sind, was sie sind, der kapitalistische Arbeitsprozeß ist kapitalistischer Arbeitsprozeß und nichts anderes. Marx hingegen unterscheidet sehr wohl zwischen der kapitalistischen Formbestimmung und der allgemeinen Natur des Arbeitsprozesse: „Weil sich das Kapital des Arbeitsprozesses bemächtigt hat, der Arbeiter daher für den Kapitalisten statt für sich selbst arbeitet, verändert der Arbeitsprozeß jedoch nicht seine allgemeine Natur.“ [16]

Hat also Marx recht und Postone unrecht? Das ist mit diesen Hinweisen keineswegs gesagt. Darüber wäre zu diskutieren. Aber die unentwegt an den Haaren herbeigezogenen Behauptungen zum Kern der Marxschen Aussagen machen die Debatte so unendlich mühsam. Wie soll mensch darauf reagieren? Mit Zitatenschlachten, mit Exegese, mit „Was Marx wirklich sagte“? Nebenbei bemerkt: Axel Honneth betitelte seine Kritik an Cornelius Castoriadis mit „Eine ontologische Rettung der Revolution“. Castoriadis, der sich seinerseits von Marx abzugrenzen versuchte, fokussierte ähnlich wie Marx, Negri oder auch Holloway die schöpferische, weltschaffende Potenz der Praxis, das „Tuns“, die Arbeit, in der Weite, die dieser Begriff bei Marx besitzt. Das Ontologische, ja das Rettende der Revolution ortete der Habermasschüler Honneth treffsicher im weiten Praxisbegriff Castoriadis’. Welterschließendes, weltschöpfendes, weltkonstituierendes Tun, verstellt und gebrochen in der Lohnarbeit? Vergessen wir diesen Unfug, schlägt uns Postone vor. Gut, aber können wir uns bei Max Weber wirklich wohler fühlen?

Herrschaft und Totalität

„In seinem Mittelpunkt steht die Beherrschung von Menschen durch abstrakte, quasi-unabhängige Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch die warenförmig bestimmte Arbeit vermittelt sind und die Marx in den Kategorien Wert und Kapital zu erfassen sucht.“ (199) „Nach Marx besteht die gesellschaftliche Herrschaft im Kern nicht in der Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern in der Beherrschung von Menschen durch abstrakte gesellschaftliche Strukturen, die von den Menschen selbst konstruiert werden.“ (61f) Diese zwei Zitate mögen als Illustration genügen. Kapitalismus bedeutet nach Postone die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. An deren Stelle tritt, wie die Zitate ja klar belegen, die Subsumtion von uns allen unter verdinglichte Strukturen, egal ob wir Kapital oder nur unsere Arbeitskraft besitzen. Diese anonyme Herrschaftsstruktur relativiert, ja beseitigt die Gegensätze innerhalb der Gesellschaft. Entfremdung und Verdinglichung umfassen alle gleichermaßen, ArbeiterInnen wie Kapitalisten. Zwar schrieb ein engagierter Schriftsteller des 19. Jahrhunderts: „Insofern steht hier der Arbeiter von vornherein höher als der Kapitalist, als der letztere in jenem Entfremdungsprozeß wurzelt und in ihm seine absolute Befriedigung findet, während der Arbeiter als sein Opfer von vorn herein dagegen in einem rebellischen Verhältnis steht und ihn als Knechtungsprozeß empfindet.“, [17] doch ist es wohl an der Zeit, die Rudimente des Arbeiterbewegungsmarxismus zu überwinden. Wenn die Herrschaft von Menschen und Klassen über andere durch die abstrakte Herrschaft von Strukturen und Verhältnissen ersetzt wird, dann ist klar, daß der Klassenbegriff und vor allem der Klassenkampf ein höchst altmodisches Konzept darstellen.

Allerdings ist auch bei dieser Frage der Verdacht nicht abzuwehren, daß Postone Schein mit Sein verwechselt. Marx postuliert schon auf den ersten Seiten des „Kapitals“, daß sich die Form der Herrschaft durch das Kapitalverhältnis grundlegend ändert. „Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären.“ [18] schrieb Marx über die Form der vorkapitalistischen Herrschaft. Im Grunde verwechselt Postone einfach zwei Dinge. Weil Herrschaft sachliche Form annimmt, hält er sie für eine Herrschaft von Sachen. Auf mögliche Mißverständnisse hat Marx explizit hingewiesen: „Es charakterisiert endlich die Tauschwert setzende Arbeit, daß die gesellschaftliche Beziehung der Personen sich gleichsam verkehrt darstellt, nämlich als gesellschaftliches Verhältnis von Sachen. (...) Wenn es also daher richtig ist zu sagen, daß der Tauschwert ein Verhältnis zwischen Personen ist, so muß aber hinzugesetzt werden: unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis.“ [19] Die Herrschaft des Menschen über den Menschen stellt sich nach Marx zwar als Verhältnis von Dingen dar; hinter dieser Hülle verhalten sich aber Personen. Nur Postone kann diese nicht mehr entdecken. Er hält den sachlichen Schein für die Sache selbst. Selbst Adorno, der in manchen Aspekten den Auffassungen von Postone nahe kommt, und der Sätze wie: „Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, ob sie subjektiv von einem Profitmotiv geleitet werden oder nicht.“ formulierte, ließ sich vom sachlichen Schein keineswegs beirren und konstatierte: „In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warenaustausches versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen.“ [20] Zugegeben, auch die Bourgeoisie kann nicht ganz willkürlich herrschen und unterliegt auch Gesetzen. Aber das gilt im Prinzip für jede Form der Herrschaft. Selbst die Pharaonen waren dem Imaginären ihrer Epoche untergeordnet. Nur weil Herrschende auch Bedingungen und Gesetzen unterliegen, zu schließen, Herrschaft sei obsolet, ist ein Trugschluß. Das wäre, als sei Herrschaft dadurch zu widerlegen, daß alle Menschen Sauerstoff einatmen müssen, mithin alle unterschiedslos von einem Dritten abhängen. Wir alle erinnern uns wohl noch an die Rhetorik der grünen Bewegung in den 80er Jahren. Wurde damals nicht argumentiert, der Klassenkampf sei gegenstandslos, weil die Gattung selbst von der ökologischen Katastrophe bedroht sei? Wer gesellschaftlichen Verhältnissen mit simplen falsch/richtig-Dichotomien, also mit simpler, identitätslogisch binärer 0-oder-1-Logik zu Leibe rücken will, wird scheitern. Nebenbei bemerkt: Auch wenn der Bourgeoisie mitunter das Ausmaß der notwenigen Arbeitszeit „als regelndes Naturgesetz gewaltsam [sich] durchsetzt, wie wenn einem das Haus über den Kopf zusammenpurzelt“, [21] so hält sich unser Mitleid doch in Grenzen. Sind wir schon so abgestumpft und zugerichtet, daß wir den Haß, die Wut, die Überheblichkeit und Lächerlichkeit der Herrschenden nicht mehr wahrnehmen können, daß deren Gewalt gegen Revolte und Widerstand niemals exzessiv scheint, während auf Protest und Widerstand der Unterdrückten stets die Keulen der Moral und der Menschenrechte, sowie die Angemessenheitsfrage niedersaust?

Ein angemessener Begriff von Herrschaft darf nicht ignorieren, daß trotz der sachlichen Form die strikt persönliche Herrschaft keineswegs einfach verschwunden oder gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Wenn eine Frau von ihrem Mann halb tot geprügelt wird, weil sie daran denkt, ihren Göttergatten zu verlassen, so kann wohl schwerlich davon gesprochen werden, konkrete, personale Herrschaftsformen gehörten der Vergangenheit an. Auch im Arbeitsprozeß selbst ist das unmittelbare persönliche Kommando nicht verschwunden. Selbst wenn mensch das Konzept subjektloser Herrschaft akzeptiert, müßte zumindest zugestanden werden, daß diese Form persönlicher, unmittelbaren Herrschaft verwoben ist. Postone jedoch behauptet umgekehrt, daß die Klasse der KapitalbesitzerInnen für den Kapitalismus schlicht redundant sei. Marx: „Ich kann das Kapital wohl von diesem einzelnen Kapitalisten scheiden und es kann auf einen andern übergehen. Aber indem er das Kapital verliert, verliert er die Eigenschaft Kapitalist zu sein. Das Kapital ist daher wohl vom einzelnen Kapitalisten trennbar, nicht von dem Kapitalisten, der als solcher dem Arbeiter gegenübersteht.“ [22]

Wie einst Stefan Breuer will Postone seine Vorstellung von Herrschaft mit den Begriffen „Totalität“ beziehungsweise „reelle Subsumtion“ plausibel machen, insbesondere im Abschnitt „Produktion und Verwertung“. Der Kerngedanke läßt sich folgendermaßen darstellen: Ursprünglich übernimmt die kapitalistische Produktionsweise einfach die vorkapitalistischen Arbeitsmethoden und unterwirft sie dem Diktat der Profitproduktion. Diese Phase wäre mit Marx als formelle Subsumtion zu bezeichnen. Auch wenn das kapitalistische Kommando einiges ändert, etwa durch schärferes Arbeitstempo, Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit usw., bleibt doch der Arbeitsprozeß im Prinzip, wie er vorher entstanden ist. Dies ändert sich erst mit der reellen Subsumtion. Nun wird der Arbeitsprozeß von Grund auf nach kapitalistischen Verwertungsbedingungen umstrukturiert. Diesen Übergang analysiert Marx unter anderem in der Analyse der Entwicklung von der Manufaktur zur großen Industrie. Dieser Umschlag läßt sich paradigmatisch vor allem am Verhältnis Arbeiter – Arbeitsmittel begreiflich machen. Während in der Manufaktur der Arbeiter das Werkzeug anwendet, wird er in der großen Industrie umgekehrt von der Maschine angewandt. Postone zitiert und interpretiert ausführlich das 13. Kapitel des „Kapitals“, wo Marx etwa schreibt: „In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden als lebendige Anhängsel einverleibt.“ [23] Daraus linear zu schließen, die ArbeiterInnen würden zu willenlosen Rädchen, tatsächlich zu seelenlosen Dingen, ist freilich nicht nur verkürzt, sondern verblüffend weltfremd. Der Kapitalismus bedurfte immer der Aktivität der Arbeitenden. Dienst nach Vorschrift war immer ein Kampfmittel, der erste Schritt zur Arbeitsverweigerung. Den Widerspruch, die ArbeiterInnen einerseits in Marionetten verwandeln zu wollen, während es andererseits ihrer aktiven Teilname bedarf, konnte und kann das Kapital nie lösen. Bloß die Form hat sich historisch verändert. Die große Industrie war unter anderem ein Versuch des Kapitals, das Unbeherrschbare irgendwie doch zu beherrschen. Das sagt auch Marx, und er spricht es gerade im 13. Kapitel aus. Ich erinnere an die berühmte Aussage: „Sie [die Maschinerie] wird das machtvollste Kriegmittel zur Niederschlagung der periodischen Arbeiteraufstände, strikes usw. wider die Autokratie des Kapitals. (...) Man könnte eine ganze Geschichte der Erfindungen seit 1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel wider Arbeitermeuten ins Laben traten.“ [24] Postones Analyse hat zudem etwas seltsam Zeitloses. Mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt Postone die Entwicklung nach dem Hochfordismus. Als habe Marx mit seiner Untersuchung der Großen Industrie tatsächlich das letzte Wort gesprochen, als seien wir immer noch mit gigantischen Fließbandanlagen konfrontiert, ignoriert Postone die Entwicklung der letzten dreißig Jahre. Ist es nicht eine Banalität, daß das Kapital in den postfordistischen Verhältnissen bestimmte Kompetenzen an die Werktätigen zurückgeben mußte? Selbst wenn mensch wie Postone die reale Entwicklung der kapitalistischen Produktionsformen ausblendet, genauer, sie in den 20er und 30er Jahren anhält, läßt sich der sozialphilosophische Referenzpunkte der kreativen Subjektivität nicht ausblenden oder verleugnen. Das Tun muß gebrochen, die Subjektivität kontrolliert werden. Die Methoden der Großen Industrie machen ja nur dann Sinn, wenn ich einen Gegenpol anerkenne. „Das ‚Kapital’ ist eine Untersuchung der Selbst-Negation des Tuns. Von der Ware bewegt sich Marx weiter zu Wert, Geld, Kapital, Profit, Pacht, Zins – zu immer dunkleren Formen, die das Tun verbergen, zu immer entwickelteren Formen der Unterdrückung der kreativen Macht.“ [25] Oder wie Castoriadis bemerkte: „Die Unternehmensführung muß die Arbeiter einerseits aus der Produktion möglichst ausschließen, kann sie andererseits aber auch nicht aus der Produktion ausschließen. Der sich daraus ergebende Konflikt ist ein äußerer zwischen Entscheidungsträgern und Ausführenden, wird jedoch auch von jedem Ausführenden und Entscheidungsbefugten verinnerlicht. Wäre die Produktion statisch und die Technik versteinert, so könnte dieser Konflikt allmählich seine Konturen verlieren und verwischen. Die ökonomische Expansion und die ständigen technologischen Umwälzungen wecken ihn jedoch immer wieder aufs neue.“ [26] Das 13. Kapitel muß unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes gelesen werden. Durch die Organisation der Produktion selbst, genauer, durch die Einführung der Großen Maschinerie sollte die rebellische Arbeitersubjektivität kontrolliert und beherrscht werden. Das gelang zweifellos eine ganze Epoche lang, aber es konnte nicht die letzte Form der Produktion darstellen. Zu sagen, in der Manufaktur wende der Arbeiter das Werkzeug an, in der Großen Industrie wende umgekehrt die Maschine den Arbeiter an, und dies als letztes Resultat und Schußfolgerung der Kapitalanalyse darzustellen, ist – mit Verlaub – doch etwas simpel.

Wenn nun reelle Subsumtion wie bei Breuer oder Postone als Prozeß des mit sich selbst identisch Werden des Kapitalismus verstanden wird, dann kann die Konsequenz tatsächlich nur in einem Bild der Gesellschaft münden, in dem Widerspruch, Klassenkampf und Revolte als illusionär und vor allem sozialphilosophisch unhaltbar erscheinen müssen. Um es möglichen KritikerInnen dieser Kritik an Postone einfach zu machen, soll eine gerne zitierte Belegstelle bei Marx – selbstverständlich bereits von Breuer erwähnt [27] – vorweg angeführt werden: „Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes Gesetz zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dies organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen, und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben [darin], alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird historisch zur Totalität.“ [28] Der Kontext, aus dem diese Stelle stammt, verweist jedoch nicht unbedingt auf das geschlossenes Gehäuse des abstrakten Werts. Marx meint hier nur, daß der Kapitalismus vorkapitalistische Formen – konkret geht es um die Form des Grundbesitzes – auflösen und beseitigen muß. Gerade in den „Grundrissen“, aus denen diese Passage stammt, entwickelt Marx einen sehr interessanten Gedanken, der auch jenen zu denken geben sollte, die eine strikt objektivistische Sichtweise des Kapitalismus vertreten zu müssen meinen, sprich eine Sichtweise, in welcher der Kapitalismus ohne unser Zutun – vor allem ohne unsere Kämpfe – selbst eine letzte Schranke errichtet, an der er zerschellen muß; ein Gedanke für jene also, die Postones Position vertreten.

Ich will diese Überlegung direkt und unmittelbar formulieren: Das Kapital kann keine letzte, endgültige Form finden. Jede Form ist zugleich ein Hemmschuh. Was sind Formen des Kapitals? Die wesentlichsten Formen sind variables und konstantes, also lebendige Arbeitskraft und totes, angehäuftes Kapital. Beide Formen können keine letzten, endgültigen sein. Als variables Kapital, als Arbeitskraft besteht das Kapital unmittelbar aus der Form seines Feindes, in den Massen der ArbeiterInnen. Als totes Kapital, als geronnene lebendige Arbeit bedarf es doch wieder der lebendigen Arbeit, um in Bewegung gesetzt zu werden. Als bloßes Finanzkapital, ohne Berührung mit der realen Welt, ist es zwar den Gefahren und Risken nicht mehr ausgesetzt, kann jedoch nur über den Ausgleich der Profitrate akkumulieren, da es selbst keine lebendige Arbeit einsaugen kann.

Im sogenannten Maschinenfragment der „Grundrisse“ zeigt Marx, daß auch der Gegensatz von fixem und flüssigem Kapital das Formproblem verschärft. Zur Erläuterung: Unter fixem Kapital versteht Marx jenes Kapital, daß über einen Produktionszyklus hinaus fungiert, also etwa umfangreiche industrielle Anlagen, Eisenbahnnetze, Pipelines usw., die fix mit einer bestimmten Form von Gebrauchswert verbunden sind und nur unter Mühen wieder verflüssigt werden, also einem Formwandel, etwa der Verwandlung in Geldkapital durch Verkauf zugänglich sind. Flüssiges Kapital wäre etwa die Arbeitskraft und das Leder einer Schuhfabrik, das bereits nach einem Produktionszyklus als Schuhware auf die Formverwandlung in Geld harrt. Marx zeigt im „Maschinenfragment“ folgenden Widerspruch auf: Einerseits verkörpert die Große Maschinerie, die nur als fixes Kapital vorgestellt werden kann (Kapital, welches über die einzelnen Produktionszyklen übergreift), den ArbeiterInnen gegenüber die Wissenschaft, die Produktivkraft schlechthin. „In der Maschinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit stofflich der lebendigen als beherrschende Macht entgegen und als aktive Subsumtion derselben unter sich, nicht nur durch Aneignung derselben, sondern im realen Produktionsprozeß selbst ...“ [29] Das Problem ist nun, daß das fixe Kapital in bestimmter Gebrauchswertform fixiert ist. Dem Begriff des Kapitals entspricht es aber, jedem bestimmten Gebrauchswert gegenüber gleichgültig zu sein, umgekehrt ist das fixe Kapital als automatischer Produktionsapparat in bestimmter Gebrauchswertform fixiert und davon nicht abzulösen. „Die Maschinerie erscheint als die adäquate Form des capital fixe und das capital fixe, soweit das Kapital in seiner Beziehung auf sich selbst betrachtet wird, als die adäquateste Form des Kapitals überhaupt. Andererseits, soweit das capital fixe in seinem Dasein als bestimmter Gebrauchswert festgebannt, entspricht es nicht dem Begriff des Kapitals, das als Wert gleichgültig gegen jede Form des Gebrauchswerts und jede derselben als gleichgültige Inkarnation annehmen oder abstreifen kann. Nach dieser Seite hin, nach der Beziehung des Kapitals nach außen, erscheint das capital circulant als die adäquate Form des Kapitals gegenüber dem capital fixe.“ [30] Das heißt also, das Kapital kann mit seinem Begriff nicht identisch werden, weil es keine ihm angemessene letzte Form finden kann. Es existiert ebenso adäquat wie inadäquat als konstantes wie variables Kapital, und ebenso adäquat wie inadäquat als fixes wie flüssiges Kapital. Die Totalität findet keine Form. Der letzte Grund für dieses Formproblem ist natürlich der Gegensatz zur lebendigen Arbeit, zum Tun, welches das Kapital bricht und das in erstarrter, sachlicher Form die Basis der Klassenherrschaft darstellt. Die mit sich selbst identische Totalität muß also scheitern. Verwundert habe ich daher in einer Besprechung von Capital & Class, Nr. 54 gelesen: „Postone macht sich zu Recht über »Post-Marxisten« und »Post-Modernisten« lustig, die der Kategorie der Totalität die Gültigkeit absprechen, als trügen Hegel und Marx die Schuld an ihr. Dabei reflektieren diese nur (Hegel unkritisch, Marx kritisch) die totalisierende Logik der Wertform, die sich selber so erdrückend aufzwingt, daß alle Beziehungen von ihr erfaßt werden.“ [31] Verwundert, weil von Marx bis Marcuse immer wieder der Gedanke formuliert wurde, daß Widerspruch und Negation bei Hegel letztlich Scheincharakter annehmen müssen, daß nach dem Durchgang durch Zerrissenheit und Kampf, nach Widerspruch und Entzweiung die abschließende Versöhnung das geschichtliche und gedankliche Resultat sein muß. Die Beziehung Marx zu Hegel ist natürlich uferlos diskutiert worden; dies soll kein weiterer Beitrag sein. Und doch ist die Sprache verräterisch. Postone zieht nämlich – von seiner Warte aus gar nicht zu Unrecht, wie ich meine – eine Parallele zwischen seinem Marx und Hegel und meint, Marx habe den Hegelschen Geist durch die gesellschaftliche Substanz abstrakter, sich selbst bewegender Werte ersetzt. Gesellschaft sei Totalität, die „substantiell homogene Totalität“ Hegels (132f). Homogen – das schreibt Postone ungerührt so hin.

Überwindung des Kapitalismus?

Haben wir letztlich Postone unrecht getan, nicht genau genug gelesen? Ist Postone keineswegs der monistische Identitätstheoretiker, als der er hier vorgestellt wird? Sagt Postone nicht, daß die kapitalistische Gesellschaft „... nicht zu einer einheitlichen Identität geworden ist, die das Nicht-Identische vollkommen assimiliert habe“ (286) Tatsächlich können ganze Passagen in diesem Buch kaum anders verstanden werden, denn als Plädoyer für ein geschlossenes Gehäuse des abstrakten Werts und seiner substantiellen Homogenität. Aber blicken wir weniger auf die Uneinheitlichkeit seiner Argumentation, sondern beachten wir seine Überlegungen bezüglich der Überwindung des Kapitalismus.

Wo ist nun das Moment des Nicht-Identischen zu finden? Alle Momente des gesellschaftlichen Lebens, die Gebrauchswertdimension wie das Proletariat, Wissenschaft wie Technik, sind für Postone nur Aspekte des Ewiggleichen. Als Kandidaten für die Überwindungen der kapitalistischen Verhältnisse kommen diese Dimensionen demnach keineswegs in Frage, und eine rebellische, widerständige, nach Befreiung strebende Subjektivität wird so selbstverständlich ausgeschlossen, daß es kaum einer expliziten Bekräftigung bedarf. Sind wir alle also im identitätslogischen Gehäuse des Kapitals eingeschlossen? Stoßen wir immer nur auf seine Aspekte, seine Formen, seine Produkte, seine Verhältnisse? Ist Veränderung Utopie? Die Antwort Postones: Ja und Nein. Proletariat und Gebrauchswert als Kandidaten der Befreiung scheiden, wie gesagt, aus. Was verbleibt? Postone hätte es uns allen einfacher machen können. Er hätte schreiben können, die Lösung liege im Abschnitt „Widerspruch zwischen der Grundlage der bürgerlichen Produktion und ihrer Entwicklung selbst“ der Marxschen „Grundrisse“. Er hätte sagen können: Sehen wir uns diese Stelle genau an, diskutieren wir ihre Voraussetzungen und Schlußfolgerungen. Statt dessen läßt er uns wie ein Krimischreiber 520 Seiten nach dem Mörder suchen, um seine Identität stückweise zu enthüllen. Marx denkt in diesem Abschnitt, auf den die Überlegungen Postones hinauslaufen, die Tendenz des tendenziellen Falls der Profitrate und die Entwicklung der großen Maschinerie zusammen und versucht, eine zukünftige mögliche Entwicklung zu antizipieren: „Es ist nicht mehr der Arbeiter der modifizierten Naturgegenstand zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die unmittelbare Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.“ [32] In einer solchen Phase, so Marx, müsse „die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion“ zusammenbrechen. In der Sprache Postones klingt diese Stelle so: „Dies resultiert darin, daß proletarische Arbeit mit der fortdauernden Entwicklung der kapitalistischen industriellen Produktion vom Standpunkt der Produktion von stofflichem Reichtum zunehmend überflüssig und deshalb letztlich anachronistisch wird ...“ (534) Wenn das Proletariat überhaupt noch etwas produziert, so Postone, dann Wert, mitnichten jedoch Gebrauchswert. „In der Marxschen Analyse kommt dem Proletariat also weiterhin eine strukturell wichtige Funktion für den Kapitalismus zu: Quelle des Werts zu sein, nicht jedoch Quelle des stofflichen Reichtums.“ (535) Der stoffliche Reichtum trudelt nämlich quasi automatisch aus dem automatisierten industriellen Produktionsprozeß ein, den ein paar gelangweilt herumstehende Proletarier nebenbei ein wenig überwachen. In einer derartigen Gesellschaft sind praktisch „Wert und proletarische Arbeit“ (540) abgeschafft, ergibt sich die „Möglichkeit einer Lebensweise, in der Arbeit keine gesellschaftlich vermittelnde Rolle spielt“ (542), wird „Arbeit ... als gesellschaftlicher Quelle stofflichen Reichtums bedeutungslos“ (544), wird „proletarische Arbeit als Quelle stofflichen Reichtums zunehmend bedeutungslos ...“ (548) Könnte es nicht sein, daß dieser von Marx angedachte zukünftige gesellschaftliche Zustand doch eher noch Jahrhunderte entfernt ist, so er überhaupt den Fluchtpunkt der kapitalistischen Entwicklung darstellt? Geht aktuell die gesellschaftliche Entwicklung nicht wieder in die Richtung der erneut gestiegenen Bedeutung des absoluten Mehrwerts, was sich im Drängen des Kapitals zeigt, sowohl die Wochen- wie auch die Lebensarbeitszeit auszudehnen? Auch wenn ein derartiger von Marx angedachter Zustand in einigen hundert Jahren aktuell sein möge, was können wir bis dahin tun? Tatsächlich endet die Arbeit von Postone im striktesten Ultraobjektivismus, der überhaupt denkbar ist. Wir können nur abwarten, bis der Kapitalismus selbst durch die Entwicklung gigantischer Produktionsanlagen das Proletariat und seine Arbeit abgeschafft hat.

[1Franz Schandl. „Mehrwert und Verwertung“ in: Streifzüge Nr. 30, April 2004

[2John Holloway, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, Münster 2002, Seite 78

[3E. P. Thompson, „Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism“ Past and Present, 38 Dec. 1967

[4Alfred Sohn-Rethel, „Geistige und körperliche Arbeit“ Frankfurt am Main 1973 Seite 12

[5Dazu: Alfred Sohn-Rethel, „Das Geld, die bare Münze des Apriori“, Berlin 1990

[6Stefan Breuer, „Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation“, Hamburg 1995 Seite 79

[7John Holloway, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, Münster 2002, Seite 158

[8Karl Marx: „Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück, sondern ein Pech.“ (MEW 23; 532)

[9John Holloway, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, Münster 2002, Seite 167

[10e-mail Aussendung vom 30.3.04 von krisisweb/ at /gmx.net

[11MEW 23; 55

[12„Das Kapital ist von der Arbeit in einer Weise abhängig, wie die Arbeit nicht vom Kapital abhängig ist. Ohne die Arbeit hört das kapital zu existieren auf. Die Arbeit wird ohne das Kapital zu praktischer Kreativität, zu kreativer Praxis, Menschlichkeit.“ John Holloway, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, Münster 2002 Seite 209

[13„Die Idee, die Produktionsweise sei wesensmäßig vom Kapitalismus unabhängig, beruht des weiterten aus einem eindimensionalen, linearen Verständnis von technischen Fortschritt – Fortschritt der Arbeit – der oft dem gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt gleichgesetzt wird.“ (116 )

[14Karl Marx, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Frankfurt am Main 1969, Seite 25

[15Karl Marx, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Frankfurt am Main 1969, Seite 10

[16Karl Marx, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Frankfurt am Main 1969, Hervorhebung im Original, Seite 24

[17Karl Marx, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Frankfurt am Main 1969, Seite 18

[18MEW 23; 91

[19MEW 13; 21

[20Theodor. W. Adorno, Soziologie Schriften I, Frankfurt am Main 1979, Seite 14

[21MEW 23; 89

[22Grundrisse, Seite 211, Ausgabe Europäische Verlagsanstalt, ohne Jahresangabe

[23MEW 23; 445

[24MEW 23; 459

[25John Holloway, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, Münster 2002 Seite 63

[26Cornelius Castoriadis, „Gesellschaft als imaginäre Institution“, Frankfurt am Main 1984, Seite 136

[27„Totalität ist keine Erfindung herrschsüchtiger Intellektueller, sondern eine Realität, die sich nicht einfach wegdekretieren läßt. Sie manifestiert sich in der Tendenz des Kapitals, „alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen“ (Gr. 189); sie zeigt sich in der Universalisierung und Globalisierung der dem Kapitalverhältnis eigenen Produktions- und Zirkulationsformen, und nicht zuletzt in der massiven Expansion der experimentellen Wissenschaften, die immer tiefer in die Infrastrukturen der Materie intervenieren und längst keine Grenzen mehr kennen.“ Stefan Breuer, „Die Gesellschaft des Verschwindens“, Hamburg 1995, Seite 9

[28Grundrisse, Seite 189, Ausgabe Europäische Verlagsanstalt, ohne Jahresangabe

[29Grundrisse, Seite 585, Ausgabe Europäische Verlagsanstalt, ohne Jahresangabe

[30Grundrisse, Seite 586, Ausgabe Europäische Verlagsanstalt, ohne Jahresangabe

[32Grundrisse, Seite 592f, Ausgabe Europäische Verlagsanstalt, ohne Jahresangabe

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2004
, Seite 15
Autor/inn/en:

Karl Reitter:

Marxistischer Autor in Wien und Mitglied der grundrisse, Redaktionsmitglied von Context XXI von Dezember 2000 bis November 2001.

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