Internationale Situationniste » Numéro 3
Pierre Gallissaires (Übersetzung) • Hanna Mittelstädt (Übersetzung) • Giuseppe Pinot-Gallizio

Diskurs über die industrielle Malerei und eine anwendbare einheitliche Kunst

Auf dem kleinen Vorplatz zwischen den beiden Gebäuden des Museums der modernen Kunst unterhalb der Président-Wilson-Avenue ist am Donnerstag, dem Tag vor Eröffnung der Pariser Biennale, eine seltsame Malmaschine in Gang gesetzt worden. Auf ihrem Rolldreifuss ähnelt sie von weitem der Silhouette gewisser Mobiles von Calder. Aus der Nähe betrachtet besteht sie aus einer Reihe verbundener Rollen, die durch einen kleinen Zweitaktmotor bewegt werden. Eine lange Papierrolle wickelt sich ab, die durch sich zuckend bewegende Malarme mit automatischen Tintenflecken überdeckt wird. Das Enderzeugnis wird durch ein Messer in kleine Stücke gehackt — das Ganze geschieht in einer chaotischen und ratternden Kreisbewegung.

Jean-Francois Chabrun (L’Express, 8.10.59)

Die Kolloidmikromoleküle sind im Lager der Kunst schon aufgetreten und, haben sie ihren Dichter auch noch nicht gefunden, so kümmern sich doch Tausende von Künstlern darum, sie in ihre Gewalt zu bringen.

Die grosse Ära der Harze hat begonnen und mit ihr der Gebrauch des in Bewegung begriffenen Stoffes. Das Kolloidmikromolekül wird den Relativitätsbegriff tief einprägen; die Konstanten der Materie werden endgültig fallen; in den Händen der Mächtigen werden all die Ideologien der Ewigkeit und der Unsterblichkeit zerbröckeln und die Sorge darum, einen Stoff zu verewigen, wird sich immer mehr auf ihr Nichts reduzieren, wobei sie den Künstlern des Chaos die unerschöpfliche Freude am ewigen Neuen zurücklassen.

Das Neue, das durch Zufall von einer unendlichen, aus den befreiten Energien des Menschen hervorgegangenen Schöpfung erfasst wird, trägt zur Niederlage des Goldwertes bei, dieses Bildes erstarrter Energie des sich auflösenden infamen Banksystems. Die patentierte Gesellschaft, die durch die einfachen Gedanken und die zerstückelten Gebärden der wie Ungeziefer im Ameisenhaufen gefangenen Künstler und Wissenschaftler verstanden und gegründet wird, ist ihrem Ende nahe. Der Mensch entwickelt sich zum Ausdruck eines kollektiven Sinnes und zum Werkzeug hin, das an seine Übermittlung angepasst ist: zu einem System des „potlatch“, d.h. der Geschenke, die nicht bezahlt werden können — außer durch andere aus dem Reich der Poesie stammende Experimente. Wir müssen uns einfallen lassen, dass die Maschine das passende Werkzeug ist, eine inflationistische industrielle Kunst zu schaffen, der vor allem das Anti-Patent zugrunde liegt. Die neue industrielle Kultur wird im Volk erzeugt sein oder sie wird nicht sein. Die Epoche der Mandarine ist zuende. Neue, neuer Werkzeuge würdige Ausdrucksformen werden die unnützen Federn brechen und die ganze bittere Tinte, die die Welt erniedrigt hat, bis zur letzten Spur wegwaschen.

Allein aus der ständigen und erbarmungslosen, untrennbar verbundenen Schöpfung und Zerstörung wird die aufregende und unnütze Suche nach vorübergehend brauchbaren Gegenständen bestehen; sie wird die Grundlagen der Ökonomie untergraben und die Werte zerstören bzw. deren Bildung verhindern. Das immerwährende Neue schafft dann die durch die höllische Maschine, die Königin des „Alles Gleichen“, hervorgerufene Langeweile und Angst ab. Durch die neuen Möglichkeiten entsteht die neue Welt des „Alles Vielfältigen“. Die Quantität und die Qualität verquicken sich in ihrer Bewegung — der Zivilisation des genormten Luxus — die die Traditionen aufhebt. Es wird nicht mehr gesagt „Du weißt, was Du verlierst; was Du findest, dass weißt Du nicht“, sondern „Die Sprichwörter der Alten lassen die Jungen verhungern.“ Eine neue herrschsüchtige Kraft führt die Menschen zu einer unvorstellbaren Heldengeschichte. Sogar die Gewohnheit, die Zeit festzusetzen, wird zerstört! In der jetzt vor uns stehenden Epoche wird die Zeit zuerst ein rührender Wert, eine schlagende Währung sein. Sie wird nach den plötzlichen Veränderungen der Augenblicke des gestalteten Lebens und den sehr seltenen Momenten der Langeweile gemessen. Im wesentlichen werden sich Menschen ohne Gedächtnis entwickeln, Menschen im Zustand einer ständigen Leidenschaftlichkeit, die immer wieder vom Nullpunkt ausgehen.

Es wird die Zeit der kritischen Unwissenheit sein.

Die zu fügsamen Gefangenen unseres Verlangens gewordenen Maschinen werden derartige Kunsterzeugnisse zutagebringen, dass wir nicht einmal Zeit genug haben, sie in unserem Gedächtnis festzuhalten — die Maschinen erinnern sich für uns daran. Andere Maschinen springen zur Zerstörung ein, indem sie wertlose Situationen erzeugen. Unter den Leuten kommt es zu keinen Konkurrenzkämpfen um Kunstwerke mehr, lediglich das künstlerische Klima und die Umstände werden wechseln. Die Welt ist dann zur Bühne und zum Parkett einer ununterbrochenen Repräsentation, zu einem grenzenlosen Luna-Park geworden, der neue Gefühlsregungen und Leidenschaften schafft…

So müssen wir die Straßen der Zukunft mit der unerforschbaren Materie bemalen, die große Himmelsbahn mit Signalen abstecken, die unserem großartigen Unternehmen ebenbürtig sind. Dort, wo heute Natriumraketen Signale sind, stellen wir morgen Regenbögen, Fata Morganas und Nordlichter auf, die wir selbst erzeugt haben.

Aus all diesen Gründen werdet Ihr — immer noch mächtige Herren der Erde — uns die Maschinen früher oder später zum Spielen geben und wir werden sie zum Ausfüllen dieser Freizeit bereitstellen, deren Anwendung zur Erreichung perfektionierter Banalität und zur fortschreitenden Verdummung Ihr heute schon mit irrsinniger Gefräßigkeit im Voraus genießt.

Wir brauchen diese Maschinen dazu, unsere Straßen zu bemalen, die glänzendsten und einmaligsten Webereien herzustellen, mit denen sich fröhliche Mengen nach dem Kunstgefühl eines einzigen Augenblicks kleiden. Kilometerlange bedruckte, eingeschnitzte, farbige Papierrollen singen Hymnen für den seltsamsten und entzückendsten Wahnsinn. Häuser aus bemaltem, abstoßendem, lackierten Leder; aus Metall oder Holz; aus Harz und vibrierendem Zement bilden auf der Erde ein ungleiches und ständiges Reizmoment. Wir werden die Bilder nach Belieben mit den Film- und Fernsehkameras festhalten, die der kollektive Erfindungsgeist des Volkes geschaffen hat und die Ihr Euch unheilvoll zu eigen gemacht habt, um uns in der absoluten Herrschaft der Langeweile einzuschliessen.

Mit der Automation gibt es keine Arbeit im üblichen Sinne des Wortes und keine Ruhe mehr, sondern eine Zeit, die für freie, anti-ökonomische Energien offen ist. Wir wollen die erste Stiftung der industriellen Poesie gründen und daneben errichten wir die Anlagen der unmittelbaren Zerstörung, um die Produkte der Gefühlsregungen, kaum sind sie erzeugt worden, sofort wieder zu zerstören, damit unser Geist vor Nachahmungen geschützt wird und wir sofort wieder zum „Stand der Gnade“ des Nullpunktes zurückfinden.

Jetzt ist der Mensch ein Teil der von ihm hergestellten Maschinen. Sie verneinen und beherrschen ihn. Dieser Unsinn muss umgekehrt werden — sonst gibt es keine Schöpfung mehr. Die Maschine muss beherrscht werden, indem wir sie nur für die einmalige, unnütze und anti-ökonomische Handlung gebrauchen. So wird die Bildung der neuen, nach-ökonomischen, aber überpoetischen Gesellschaft gefördert.

Ihr mächtigen und symmetrischen Herren; die der modernen Biologie heute zugrunde liegende Asymmetrie überschwemmt schon die Felder der Kunst und der Wissenschaft: sie richtet Eure symmetrische, nach den Axiomen einer fernen Vergangenheit errechnete Welt zugrunde, die zur absoluten Bewegungslosigkeit der in Eurer Teilung kristallisierten Langeweile angelegt ist. Euren Raum haben die neuesten Schöpfungen der Kunst schon zerstört und jetzt können die kilometerlangen Bilder sogar durch Zeitangaben ausgedrückt werden: 20 Minuten oder eine Stunde Malerei, die wie die Filme, wie ein Breitwandfilm ohne Rahmen mit dem Chronometer gemessen wird.

Die Zeit, die magische Kette, nach der die Menschen der alten Landwirtschaftskulturen ihre Erfahrungen auf dem Gebiet der Poesie und des Lebens ausrichteten, ist stehengeblieben und hat Euch gezwungen, Eure Geschwindigkeit umzuschalten. Die Grundwerkzeuge Eurer Macht, der Raum und die Zeit, werden unnützer Tand in euren Händen von mißgestalteten und lahmen Kindern sein. Eure idealistischen Konstruktionen des Übermenschen und des Genies sind umsonst; umsonst auch Eure Szenerien, Eure riesigen Stadtgebiete …

Ihr, heute noch mächtige Herren im Osten und Westen, habt unterirdische Städte gebaut, um Euch vor den von Euch entfesselten Strahlungen zu schützen und Eure blutigen Schätze zu verbergen. Und unschuldige Künstler werden aus Euren Abwasserkanälen Atomheiligtümer und -kathedralen machen, indem sie die Merkmale der industriellen Kultur, neue Tierkreise und vorübergehende Kalender aufzeichnen. Die frischen Energien der aus ihrem langen Schlaf gerüttelten Massen verwandeln Eure grausigen Termitenhügel aus Stahlbeton zu prunkvollen, umwandelbaren und immer wieder wechselnden Gebäuden. Die Künstler werden die „teddyboys“ der alten Kultur sein. Was Ihr nicht zerstört habt, werden wir zerstören, um alles zu vergessen …

Die neuen Verzierungen, die sich auf Webereien und Wohnung, auf Transportmitteln und Trinkgewohnheiten, auf Nahrungsmittel, Beleuchtung und Experimentalstädte beziehen, werden einmalig, künstlerisch und unwiederholbar sein. Man nennt sie nicht mehr unbeweglich, sondern beweglich und einfach gebräuchlich, da sie zu vorübergehenden Werkzeugen des Vergnügens und des Spiels geworden sind. Kurz, wir werden wieder arm, sehr arm und auch sehr reich sein im Sinn eines neuen Verhaltens.

All unsere Güter werden kollektiv und einer schnellen Selbstzerstörung unterworfen sein. Die poetische Qualität wird nicht mehr auf die uns schon bekannten Sinne, sondern auf die wirken, die wir noch nicht kennen. Dann gibt es keine Architektur, keine Malerei mehr, weder Worte noch Bilder. In der Zukunft haben unsere Werke weder Oberfläche noch Masse. Wir nähern uns der vierten Dimension der reinen Poesie, einer Zauberkunst, die aber nur durch alle verwirklicht werden kann. Wir stehen unmittelbar vor einem Zustand der Wildheit im modernen Sinn und mit modernen Werkzeugen; in dem das gelobte Land und das Paradies nichts anderes sein können als unsere Umwelt, die eingeatmet, verzehrt, berührt und durchdrungen werden kann. In dieser nicht greifbaren Szenerie wird sich ein neues Gebiet der Leidenschaften bilden — ein freier Mensch, dem es nur an Zeit fehlt, um all seine Begierden zu befriedigen und immer wieder neue zu erfinden. Immer haben alle Ideologien und Religionen die Kräfte des Verlangens ausgenutzt. indem sie ihnen nur eine illusorische Befriedigung in einem Jenseits gewährten. Mit dem heute immer noch gültigen Ergebnis, dass die Wissenschaft und die Kunst auf die unüberschreitbare Mauer des „Warum?“ stoßen. Wir wollen jede Art von „Warum?“ für immer auslöschen. Die neuen Propheten treten jetzt auf, um diese Mauern niederzureißen. Indem der Mensch diesen Wegweisern folgt, erreicht er morgen den ungetrübten Nektar, von dem er sich nährt wie die Bienen von einem wunderbaren Honig, ohne sich um etwas kümmern zu müssen — sogar nicht einmal um seinen Tod, der zum bloßen Liebesakt für die dunklen Höhlen werden wird, die sich in dem endlosen Weltlabyrinth, einem kleinen Teil der Totalität, aufschließen. Das gesamte neue Verhalten wird ein Spiel sein und jeder lebt sein Leben aus Lust am Spiel, indem er sich nur für die Emotionen interessiert, die beim Spiel mit seinen endlich ausführbaren Wünschen entstehen. Die ersten Elementarwerkzeuge dieser Revolution stellen unseres Erachtens diese entwertenden Mittel der industriellen Kunst dar, gerade deswegen, weil sie zunächst die Werkzeuge eines Vergnügens sind. Deswegen fühlen wir uns, wenn wir unsere winzigen Resultate wie z.B. die industrielle Malerei vorstellen, stolz und sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, wenn wir nach ihrem Empfang urteilen wollen. Die industrielle Malerei war der erste Versuch eines Spiels mit den Maschinen — und ihr unmittelbares Ergebnis war die Entwertung des Kunstwerks. Tausende von Künstlern, die ihre Zeit heute damit verlieren, dieselben Einzelheiten zu wiederholen, werden die durch die Maschinen angebotenen Möglichkeiten von nun an anerkennen.

Es gibt dann diese riesige „Bild“ genannte Banknote, die zum Wettkampf um den maximalen Gewinn bestimmt ist, nicht mehr, sondern tausend und abertausend Kilometer Malerei, die zum Selbstkostenpreis auf den Straßen und den Märkten angeboten und Millionen von Menschen gefallen werden, indem sie sie zu anderen Experimenten der Ausstattung ihrer Umwelt anreizen. So triumphieren die großen Zahlen, die Grundlage der Qualität und damit werden unbekannte Werke erstellt in einer Welt, in der eine neue Identität durch die Schnelligkeit der Veränderung bestimmt wird: der Wert wird mit der bloßen Veränderung ineinanderfließen. AlI die gegenwärtigen Spekulationen gehen zuende.

In Dänemark, Situationisten bei Christian Christensen.
Unbeugsamer Revolutionär, war Christensen der Theoretiker und Organisator der dänischen Arbeiterbewegung am Beginn des Jahrhunderts.

Dieses Spiel der industriellen Malerei hat 1958 in Turin, Mailand und Venedig angefangen. Es ist 1959 in München fortgesetzt worden, wo die Dritte Konferenz der S.l. die 11 Punkte der Amsterdamer Erklärung, eines noch okkulten, aber für den Aufbau eines unitären Urbanismus sicheren Programms, zu gleicher Zeit billigte. Dann wurde die industrielle Malerei als Versuch eines Beitrags zur momentanen Gefühlsanregung in Paris — im Mai in der Galerie Drouin — ausgestellt. Dank unserer Arbeit stimmten viele Künstler mit dem Punkt überein, dass die Einheit der Kultur die einzige Idee ist, die fähig ist, die Maschine zu beherrschen und endlich eine industrielle Kultur auf der Ebene der Möglichkeiten eines Zeitalters zu gründen, das gerade anfängt: das große Atomzeitalter.

Freilich sind wir arm — aber was macht das aus? Unsere Armut ist ein Teil unserer Kraft. Nur umsonst kann man uns in unserer Erfindung noch isolieren; uns aus Vereinigungen ausschließen, denen wir uns nicht anschließen wollen; uns beschimpfen oder totschweigen. Das Volk kann unsere Poesie verstehen, dem übel wird bei Euren müden Götzen, den spukhaften Mächten aller Automatismen des Denkens und der Technik; bei diesem zänkischen Konservatismus der kastriertesten Rasse der Welt: der Intellektuellen.

Fangen wir also mit den langen Tagen der atomaren Schöpfung an. Uns allein, Künstlern und Wissenschaftlern derselben Poesie, kommt es jetzt zu, die Erde, die Ozeane, die Tiere, die Sonne und die anderen Sterne, die Luft, die Gewässer und die Dinge auf eine andere Weise zu schaffen. Uns wird es zukommen, den Lehm anzuhauchen, um den neuen, nur zur Ruhe des siebten Tages geschaffenen Menschen ins Leben zu rufen.

Der Diskurs von Pinot-Gallizio ist im November unter dem Titel « Per un arte unitaria applicabile » in Italien veröffentlicht worden.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1976
, Seite 31
Autor/inn/en:

Giuseppe Pinot-Gallizio:

Geboren 1902 in Alba (Piemont), gestorben 1964 ebenda. Linker Politiker, Chemiker und Maler. Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale — trat 1960 aus, da er die zunehmende Orientierung auf politsche statt künstlerischer Aktion nicht teilte.

Pierre Gallissaires:

Geboren 1932 in Talence (Gironde). Übersetzer und Mitgründer der Edition Nautilus in Hamburg.

Hanna Mittelstädt:

Geboren 1951 in Hamburg. Autorin und Übersetzerin, Mitgründerin der Edition Nautilus in Hamburg.

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