MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 55
Birge Krondorfer
Ars Electronica

Digitale Träume — virtuelle Welten

In einem Traum ist alles erlaubt, jede Freiheit der Imagination, die in der Welt der vernünftigen Wahrnehmung nicht existieren könnte.

Frances-Marie Uitti, von der dieses Zitat stammt, ist eine der Protagonistinnen des diesjährigen technotronischen Festivals. Die Cellistin „mit den zwei Bogen in einer Hand“ ist noch eine der wenigen Teilnehmerinnen, die den Begriff der Technik im klassischen Sinn füllt: techne als Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit, Wissenschaft — und nicht allein auf „den energetischen Charme der Simulation“ (P. Weibel) baut, der ansonsten diese Veranstaltung prägt. Die Künstlerin hat sich den thematischen Ausgangspunkt der ARS ELECTRONICA zum Motto ihrer Komposition gemacht (Violoncello, Elektronik, Video).

1609 schrieb Johannes Kepler, der seine wichtigsten Jahre in Linz verbrachte, die wohl erste Science-Fiction-Erzählung „Somnium“ oder „Der Traum vom Mond“, in der er die Frage stellte, wie sich die Himmelsphänomene vom Mond aus betrachtet darstellen würden. Für Kepler waren Mathematik, Geometrie, Metaphysik, Naturwissenschaft, Philosophie und Musik keine Einzeldisziplinen, sondern vereinigten sich auf der Basis von Zahlenverhältnissen zu einem universellen Zusammenhang in der Weltharmonie.

Von daher der Konnex zur Interdisziplinarität der Veranstaltung mit ihren ziffernmäßigen Träumereien. Bloß — die Frage drängt sich auf — wie läßt sich denn mit, in, von Zahlen träumen? Künstliche Wirklichkeit, basierend auf der Computerlogik des 0/1 als gewünschte virtuelle Welt, als computerkontrollierte Maschinenwelten, die intelligent auf unsere Bedürfnisse reagieren? Haben wir eine Ursehnsucht nach dem reinen Schein, die nun endlich durch die neuen Technologien beantwortet wäre? Oder ist es der Wunsch aus der immer komplexer werdenden Gesellschaft simulativ zu flüchten in ‚schöne neue Welten‘ —, um uns scheinbar beschirmt durch die Bilder im Reich der Hypermedien ein virtuelles Sein einzurichten?

Eben hierin liegt ja das Neue der emportauchenden Einbildungskraft, das Neue des künftigen Bewußtseins: daß der Diskurs der Wissenschaft und der Fortschritt der Technik zwar als unerläßlich angesehen werden, daß sie aber nicht mehr für sich selbst interessant sind und wir das Abenteuer anderswo, in der Einbildung suchen.

(V. Flusser)

Was also am Computer als simulative Welt passiert, wäre eine Verbindung von Einbildungskraft als kreativer Phantasie mit der Tradition seit Pythagoras, die Welt mit Hilfe von Zahlen zu deuten und Analogien zu erforschen.

Eine erkenntnistheoretische Analogie hat sich tatsächlich in den letzten Jahren herauskristallisiert, die die bisherige naturwissenschaftliche ‚Objektivität‘ radikal in Frage stellte: „Damit ... ist ausgedrückt, daß heute — und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt — das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt dem Subjekt entgegensetzt. Wissenschaftliche Analysen der Materie zeigen, daß sie nichts weiter ist als ein Energiezustand, d.h. ein Zusammenhang von Elementen, die ihrerseits nicht greifbar sind und von Strukturen bestimmt werden, die jeweils nur eine lokal begrenzte Gültigkeit haben. Die Wissenschaftler treffen sich da mit den Versuchen zeitgenössischer Künstler, z.B. mit denen, die neue Technologien verwenden: Videodisc, Laser, synthetische Bilder.“ (J.-F. Lyotard)

Unter der Voraussetzung eines synergetischen Zusammenhangs von Kunst, Technik und Politik läßt sich auch ein Konnex zur interpersonellen Ebene herstellen. Die von der Technologie geforderte und geförderte Interaktivität löst die starre Geometrie des Verhaltens und wendet sie in ein dynamisches Chaos um, in eine instabile Heterarchie — gegen hierarchische Strukturen — selbst-organisierender Systeme und Gruppen. Doch bergen reale und imaginäre Vernetzungsoptionen auch Gefahren. Nicht nur die militärstrategischen Ausbeutungen dieser Künste des neuen Lebens, wo die letzten Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wunschvorstellungen fallen können (z.B. die Cyber-Modelle als Interaktion zwischen Mensch und Maschine), ist nicht zu vergessen (vgl. MONATSZEITUNG 53, U.S.), sondern ebenso die historischen Erfahrungen mit futuristischen Entwürfen, die fast immer faschistische Tendenzen zeitigten. Vorsicht ist ebenso geboten bei der Frage, wer denn dann über die ‚virtual reality‘ verfügen wird — jenseits artiger Orte wie der Ars. Denn „von den Maschinen des Geistes und vom Geist der Maschinen“ (Symposionthema) zu sprechen, setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus, welches ambivalent zwischen schöpferischer Fiktion und bio-maschinellem Determinismus schwankt.

Sind wir wirklich (nicht mehr als) „naive Hypermaten“?

In vier Programmschwerpunkten kann man sich mit der brisanten Problematik auseinandersetzen:

  • erweiterte Symposien (internationale Vorträge, Environments, Computerdarstellungen);
  • Prix ARS ELECTRONICA (für Musik, Animation, Grafik und neu: interaktive Kunst);
  • Künstlerkanal (internationales interaktives Medienprojekt mit Publikumsbeteiligung, SatellitenTV);
  • Performances (intermediale Aufführungen, Konzerte, Musiktheater und Installationen).

ARS ELECTRONICA vom 8.-14. September in Linz.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1990
, Seite 72
Autor/inn/en:

Birge Krondorfer:

Politische Philosophin und feministische Aktivistin. „Freie“ Lehrende für Bildungs-, Kultur-, Genderwissenschaften seit 1990 an inter/nationalen Universitäten. Veröffentlichungen zur Theorie- und Praxisbildung der Geschlechterdifferenzen. Organisierung von Frauengroß- und kleinkonferenzen seit 1985. Mitgründung und ehrenamtlich tätig in der Bildungsstätte Frauenhetz/Wien und im VfW. Tätig in der Erwachsenenbildung; zertifiziert in Groupworking, Supervision, Mediation, Interkulturelles Training.

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