FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1984 » No. 364/365
Bernd Girrbach • Thomas Kruchen

Die Türkei ohne Forum

Drei- oder vierhundert österreichische Hochschullehrer und Studenten veranstalteten eine Unterschriftensammlung für türkische Hochschullehrer und Studenten — was Botschafter Erdem Erner als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei zurückwies: eine authentische Interpretation der Schlußakte von Helsinki samt Madrider Folge durch Nato-Land Türkei; der mochten sich nicht anschließen: der Vorstand des Instituts für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Uni Graz, Prof. Konrad Günther, Assistent Wolfgang Beneder und Student Wolfgang Kolb; als Rädelsführer der Einmischung sandten sie den nachstehenden Text Mitte Dezember an die österreichischen Presseorgane, mit dem mäßigen Erfolg des Erstabdrucks im FORVM hier.

Angst, Bitterkeit und Resignation prägten die letzten Monate im Arbeitsleben des Juraprofessors Bahri Savci aus Ankara. An seiner Universität wehte ein eisiger Wind. Staatliche Willkür und Duckmäuserei machten die Runde; die türkische Verfassung von 1961, an der er maßgeblich mitgewirkt hatte, war nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem sie einst gedruckt wurde. Einziger Hoffnungsschimmer im Leben des weltweit renommierten Juristen: Noch sechs Monate, dann würde er pensioniert werden.

Doch dazu kam es nicht. Kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter wurde Savci die fristlose Kündigung auf den Tisch geknallt. Wegen „Bedrohung der staatlichen Sicherheit“, so wurde ihm gesagt, er sei entlassen und vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen — auf Lebenszeit, versteht sich — und ohne Pension. Professor Savci wird für den Rest seines Lebens auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Er und seine Kollegen wußten schnell: Wieder einmal hatte der gefürchtete, von den Militärs kontrollierte „Hochschulrat“ (YÖK) zugeschlagen.

Militärpolizei:
Demokratisches Potential verschwunden

Verein der ...

Mit dem Hochschulgesetz Nr. 2547 hatte ihn Staatspräsident General Kemal Evren am 11.11.1981 höchstpersönlich installiert. Seither beherrschen Massenentlassungen, Gefängnis, Folter, Indoktrination und Zensur die Wissenschaftspolitik an den 27 Universitäten der Türkei.

Von „den größten kulturpolitischen Säuberungsaktionen der türkischen Geschichte“ spricht ein jetzt veröffentlichter, bislang interner Bericht einer weltweit arbeitenden, international anerkannten Nichtregierungsorganisation. Er entstand vor Ort. Fundiert durch Augenschein und durch Gespräche mit betroffenen liberalen Professoren, wirft er grelles Licht auf das inzwischen fast zu Tode geschundene Leben an den geistigen Kaderschmieden des Landes. Die Organisation ist der Redaktion bekannt, sie bleibt jedoch ungenannt, um ihre Arbeit in der Türkei und besonders das Leben der Informanten nicht zu gefährden.

Die haben auch allen Grund, den fast allmächtigen YÖK zu fürchten. In wahren Entlassungsorgien setzte er bis heute weit über 200 kritische und unbequeme Hochschullehrer vor die Tür, ohne vorherige Untersuchung, ohne Angabe substantieller Gründe und — wie im Falle Savci — ohne Altersversorgung. Der „Hochschulrat“ schlägt Schneisen quer durch alle Disziplinen. Wirtschaftsprofessoren sind ebenso betroffen wie Juristen oder Mediziner. Sozialwissenschaften gelten als besonders „verdächtig“. An der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara, seit vielen Jahren Rekrutierungsfeld für die Spitze von Verwaltung und Diplomatie, feuerte der YÖK gleich ein Drittel der 150 Lehrkräfte.

... aufrecht ...

Hinzu kommt: „Aus Protest gegen die Entlassungen sind weit mehr als 400 weitere Hochschullehrer von sich aus gegangen.“ Damit, so der Bericht, „ist fast das gesamte demokratische Potential aus den türkischen Universitäten verschwunden“. Das ermutigt das Regime zu immer repressiveren Methoden.

Nachdem aufmüpfige Studenten (vor allem die organisierte Studentenschaft) schon lange vor dem Gesetz Nr 2547 mit Willkür-Verhaftungen und Gefängnisstrafen diszipliniert und kaltgestellt wurden, sind nun die Dozenten und Professoren dran. Als vergleichsweise privilegierte Gruppe mit guten Beziehungen und hohem Prestige waren sie bisher geschützt. Das ist jetzt vorbei. Ein Beispiel: Professor Yalcin Kücük, ein renommierter Wirtschaftsforscher. Er hatte in seinem neuesten Buch eine Sammlung älterer Zeitungsartikel veröffentlicht, die noch nie jemand beanstandet hatte. Nun witterten die Militärs plötzlich „Propaganda für den Kommunismus“ und verurteilten Kücük im Februar dieses Jahres zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis.

Ein Einzelfall? Keineswegs. Wenngleich exakte Zahlen fehlen, belegt der Bericht, daß zwischenzeitlich etliche Universitätsdozenten die berüchtigten (und zum Teil neu gebauten) Gefängnisse der Türkei bevölkern. Sie teilen dort übrigens das Los von 50.000 inhaftierten Grundschul- und Gymnasiallehrern.

... Begrabenen

Hinter den Toren der Gefängnisse endet auch für Professoren der Schutz von Menschenrechtsverletzungen. Erstmals dokumentiert der Bericht die Folterung von Hochschullehrern in der Türkei. Unter vielen Schwierigkeiten gelang den Berichterstattern die Kontaktaufnahme zu einer gefolterten Dozentin. Als üblich schilderte die Frau die „Methode des stehenden Sarges“. Dabei wird das Opfer in einen stehenden Sarg hineingestellt und eingeschlossen. Drei Tage lang darf das Opfer nicht auf die Toilette. Gefüttert wird durch ein in Mundhöhe ausgesägtes Loch.

Der YÖK ist allmächtig. Er plant nicht nur die Entwicklung des Universitätswesens im Allgemeinen, sondern auch den Ausbau jeder einzelnen Hochschule und ihrer Fakultäten. Er bestimmt die exakte Zahl von Beschäftigten und Studenten. Er schlägt die Rektoren vor, auch die Dekane der Fakultäten sind von des Hochschulrates Gnaden. Und jeden Dozenten kann er von heute auf morgen versetzen: An eine andere Uni, an eine andere Fakultät und — wenn es sein muß — auch ans nächste Postamt.

15 der 24 YÖK-Mitglieder werden vom Diktator persönlich, dem Ministerrat und dem Stab der Armee ernannt. Nur die verbleibenden neun stellt das Erziehungsministerium zusammen mit einer Versammlung der Universitätsspitzen. Als YÖK-Chef hat Evren den stockkonservativen Professor Ihsan Dogramaci eingesetzt. Der regiert mit eiserner Hand. Und ist sich auch für eine militärisch penible Reglementierung des universitären Alltags nicht zu schade.

Moschee:
Kadavergehorsam ...

Bart mit Gotha

So gehört zum YÖK-Instrumentarium auch eine universitäre Kleiderordnung. Sämtliche Bediensteten haben in Anzug und Krawatte zu erscheinen, bzw. die Damen in einem hochgeschlossenen, konservativ geschnittenen Kleid. Doch damit nicht genug. Weil der YÖK hinter Voll- und Kinnbärten die pure Subversion vermutete, mußten Tausende türkischer Akademiker unters Rasiermesser. Ein winzig gestutzter Schnauzer (Form und Länge sind vorgeschrieben) geht gerade noch durch.

Seit Anfang 1983 wird auch der wissenschaftliche Reiseverkehr strikt reguliert. Selbst wenn seine Reisekosten übernommen werden, darf ein Forscher fortan nicht mehr aus dem Land. Auf Kongresse reist nurmehr eine handverlesene Elite von Linientreuen; alle anderen kriegen keinen Paß. Zur Not werden sie — wie mehrfach geschehen — auch aus dem Flugzeug geholt.

Desweiteren gilt: Mitgliedschaft in politischen Parteien: Verboten; Veröffentlichung nichtwissenschaftlicher Aufsätze: Verboten; Drogenmißbrauch: Verboten; Einreichen von Beschwerden: Verboten. Gefragt ist Kadavergehorsam. Wer ihn verweigert, kriegt — wenn er Glück hat — das Gehalt gekürzt, normalerweise wird er gefeuert.

Türkische Straße:
... gefragt

Liberalisierung ...

Die Liste prominenter Opfer liest sich wie der türkische „Gotha“ der Wissenschaften. Gehen mußten unter anderen: Professor Cevat Geray, ehemaliger Unterstaatssekretär im Wohnungsbauministerium; Professor Korkut Boratav, Entwicklungsökonom und früherer UNCTAD-Repräsentant der Türkei; Professor Nuri Karacan, Wirtschaftsexperte; die Rechtsprofessoren Bülent Tanör und Yücel Sayman, usw. usw.

Die Berichterstatter sprechen von einem schleichenden Niedergang von Forschung und Lehre. Denn bei der Berufung neuer Wissenschaftler spielt fachliche Qualifikation nur eine nachgeordnete Rolle. So finden sich im türkischen Zitierindex von 1980, einem Gradmesser wissenschaftlichen Ansehens, von den 27 neuernannten Rektoren noch ganze sechs. Auch in der Forschungspolitik hat das Regime die Universitäten an die kurze Leine genommen. Allein der YÖK entscheidet, wer heute in der Türkei über was forscht. Projekte, die den Interessen von Privatwirtschaft und Militärs Rechnung tragen, genieße oberste Priorität.

... à la »Die Presse«

Neueste YÖK-Pläne zielen auf eine Beschneidung der bislang noch freien Informationsmöglichkeiten der Hochschulen. Ab 1984 sollen selbstgewählte Abonnements ausländischer Zeitschriften verboten werden. Dann bestellt der YÖK zentral. [Wir rechnen also mit 168 Abo-Abbestellungen. —FORVM.]

Der Hintergrund dieser Knebelungsaktivitäten ist seit langem bekannt. Die Militärregierung und allen voran Generalspräsident und Ehrendoktor aller türkischen Universitäten Kemal Evren, witterten in den Universitäten Nester der Konspiration, des linken Widerstandes und des Terrors. Für Evren sollten Universitäten weniger Stätten der Wissenschaft als staatliche Erziehungsanstalten sein. Gerade dort, meinte er knapp vor den Oktoberwahlen in Erzurum, „müssen wir für das Vaterland und unsere Nation gute Kinder erziehen“. — Daß kurz zuvor ausgerechnet eine staatliche Untersuchungskommission die Verwicklung von Hochschulen in den Terrorismus als Mär entlarvte, muß auch sein Nachfolger überhört haben.

Kaum belastet von alledem gibt sich die Leitung der Universität Stuttgart. Anfang 1983 hieß sie eine Delegation des YÖK willkommen. Die heimste bei den Schwaben prompt die Zusage zum Aufbau einer deutschsprachigen Fakultät an der Ege-Universität in Izmir ein. Finanzierungsumfang nach türkischen Quellen: 10 Millionen Mark. Das ungenügende Demokratieverständnis des türkischen Partners — „das ist alles nicht so schlimm“ (Stuttgarter Universitätspressestelle) — hat den Fortgang der Verhandlungen offenbar nicht beeinträchtigt. Das baden-württembergische Wissenschaftsministerium wartet, seinem eigenen Demokratisierverständnis gemäß, nur noch auf präzise Vorstellungen aus Izmir. Dann kann’s losgehen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1984
, Seite 52
Autor/inn/en:

Bernd Girrbach:

Dokumentarfilmer aus Heidelberg, 2014 im Alter von 58 Jahren in einem Waldstück bei der türkischen Stadt Fethiye verstorben.

Thomas Kruchen:

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