MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 51
Viorel Roman
Bessarabien, Moldawien, Bukowina:

Die rumänische Frage

Nicht nur im Baltikum hat die „Los-von-Moskau“-Bewegung schon längst die politische Macht in Händen. In der Moldauischen SSR fordert die örtliche Volksfront den Anschluß der Sowjetrepublik an Rumänien. Noch verhindert die Rote Armee die Abtrennung.

Verbranntes Milizfahrzeug In Chisinau/Kishinev
Bild: Nowosti / APN

Imperien zerfallen, wenn Randvölker rebellieren, wenn die Anpassungsmechanismen versagen. Aufstieg und Zerfall der Mächte ähneln einander. Die unzufriedenen Slawen und Rumänen brachten Österreich-Ungarn zu Fall. England wandelte sein Kolonialreich zum Commonwealth um. Das Reich unter Gorbatschow gibt den nichtslawischen Völkern mehr kulturelle und politische Autonomie, versucht die Kosten der imperialen Bürokratie zu senken und ist auf dem Weg zur Entkolonialisierung.

Die zentrifugalen Kräfte sitzen im Baltikum, im Kaukasus und in Bessarabien, dem Land zwischen Pruth und Dnjestr an der rumänischen Grenze. Hier ist der Traum von der Vielvölker-Familie UdSSR ausgeträumt. Ähnlich wie in Estland, Lettland, Litauen, Aserbeidschan und Armenien ist auch die Republik der „Rumänen in der UdSSR“ von schweren Unruhen erfaßt. So lange es hinter dem Eisernen Vorhang eine amorphe Masse ‚befreiter‘ Völker gab, fiel die rumänische Frage in der UdSSR und die Tatsache, daß die ‚Moldauer‘ ethnisch und kulturell Rumänen sind, nicht auf. Grotesk kam es freilich nicht nur ihnen vor, daß sie sich nicht Rumänen nennen durften, sondern ausschließlich ‚Moldauer‘.

Um die Teilung des rumänischen Volkes zu legitimieren, hatte die sowjetische Wissenschaft vor Gorbatschow ein neues Volk mit einer neuen Sprache etablieren wollen, obwohl ‚Moldauisch‘ nichts anderes ist als Rumänisch mit kyrillischer Schrift. Rumänien ist so groß wie die Bundesrepublik Deutschland und hat 23 Millionen Einwohner, die Moldauische Sowjetrepublik Bessarabien bzw. das Land zwischen Pruth und Dnjestr hat die Größe der Schweiz und 4 Millionen Einwohner (64% Rumänen, 14% Ukrainer, 13% Russen, 9% Sonstige).

Erniedrigend und quälend empfanden diese ‚Sowjetmenschen‘ besonders den Zwang, ihre Sprache, das Rumänische, wie im Mittelalter mit kyrillischen Lettern schreiben zu müssen. Der Übergang zur lateinischen Schrift galt einst den Rumänen als ein befreiender Akt zur nationalen Selbstbehauptung.

Die Verwendung der Bezeichnung Bessarabien und Bukowina war in der UdSSR nicht erlaubt. Bessarabien erinnerte an das walachische Fürstengeschlecht Basrab (14. Jahrhundert) und damit an eine Zusammengehörigkeit mit den Rumänen. Nordbukowina, in die Ukrainische SSR eingegliedert, war als Begriff gelöscht.

Gebäude der Gebietsverwaltung des Ministe­riums für innere Angelegenheiten der Moldau­ischen SSR nach einem Überfall von Nationa­listen am 10. November 1989
Bild: Nowosti / APN

Die bessarabische Frage

Die rumänischen Fürstentümer Moldau und Walachei waren bis zum Aufstieg der Osmanen unabhängig. Nach schweren Kämpfen kam die Moldau 1513 unter türkische Souveränität. Der Widerstand gegen die Osmanen riß aber nicht ab.

Ende des 18. Jahrhunderts war das Osmanische Reich schwach wie seine Verbündeten. England verzettelte sich im amerikanischen Bürgerkrieg, Frankreich stand kurz vor der Revolution. Österreich nutzte das Machtvakuum und annektierte 1775 die „Österreichische Moldau“ bzw. die Bukowina. 1806 besetzte Rußland die Moldau und die Walachei und erhielt von Frankreich die Zustimmung zur Annexion. Bessarabien mit 86% rumänischer Bevölkerung wurde eine russische Provinz. Die Ausbeutung ging Hand in Hand mit einer Russifizierungspolitik. Die russischen Neuansiedler bekamen Boden, genossen Steuerfreiheit und waren vom Militärdienst befreit.

Beim Berliner Kongreß (1878) erlangte Rumänien die volle Unabhängigkeit. 1918 holte das Königreich Rumänien, das zu den Siegern des Ersten Weltkrieges gehörte, die Bukowina von der k.u.k. Monarchie und Bessarabien von der Sowjetmacht heim. Der gefestigte Sowjetstaat erkannte die rumänische Vereinigung nicht an und richtete 1924 in einem Gebietsstreifen östlich des Dnjestr, in Transnistrien, die autonome Sowjetrepublik Moldau ein. Dieser Akt hat zum ersten Mal die Anerkennung der Eigenständigkeit der rumänischen Minderheit in der UdSSR bekundet.

Die Moldauische SSR gehörte zur Ukrainischen SSR und sollte eine sowjetische Wiedervereinigung mit Bessarabien vorbereiten. Dies gelang im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939. Im „Geheimen Zusatzprotokoll“ zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag heißt es unter Punkt 3: „Hinsichtlich des Südostens Europas wird von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont. Von deutscher Seite wird das völlige politische Desinteressement an diesem Gebiet erklärt.“ 1940 forderte Stalin Rumänien in einem Ultimatum auf, Bessarabien und die Bukowina zu räumen. Die Bukowina, die niemals zu Rußland oder der UdSSR gehörte, wurde als „Entschädigung“ (Molotow) für die rumänische „Besetzung“ Bessarabiens zwischen den Weltkriegen einverleibt.

Die Beteiligung Rumäniens am deutschen Rußlandfeldzug war damit vorprogrammiert. 1941 standen deutsch-rumänische Truppen vor Stalingrad. Bessarabien wurde während des Krieges wieder rumänisch. Hitler wiederholte gegenüber Rumänien und Rußland die Politik Napoleons I. — und scheiterte nach dem gleichen Muster. Vor dem Einmarsch in Rußland erklärten beide „das völlige politische Desinteressement“ an der rumänischen Frage, in der Überzeugung, daß sich das Zugeständnis nach der Eroberung Moskaus erübrigen würde.

Nach dem Krieg modellierte Stalin die Grenzen der Moldauischen SSR, um späteren Überraschungen vorzubeugen, völlig neu. Die Nordbukowina und der südliche Teil Bessarabiens mit der Donaumündung, genauso wie die künstlich geschaffene autonome Sowjetrepublik Moldau östlich des Dnjestr gingen an die Ukrainische Sowjetrepublik. Sollte es zu einer unerwarteten Eröffnung der rumänischen Frage bzw. der Wiedervereinigung kommen, dann bleibt sehr wahrscheinlich das rumänische Gebiet der Donaumündung und die Nordbukowina in der Ukrainischen SSR.

Glasnost und Perestroika

Als treibende Kraft für die nationalen Autonomiebestrebungen hat sich seit 1988 die „Moldauische Volksfront“ durchgesetzt. In den Volksfrontprogrammen stehen die gleichen Forderungen wie im Baltikum — kulturelle und politische Autonomie — und darüber hinaus die Wiedervereinigung mit Rumänien. Am 28. Dezember 1988 forderte ein Ausschuß unter der Leitung des Präsidenten der Moldauischen SSR die Einführung des Rumänischen als Staatssprache und die Wiedereinführung der lateinischen Schrift. Bereits im März war „Die Stimme“ („Glasul“) in lateinischen Buchstaben erschienen.

„Nein zur russischen Sprache!“ und „Moldau den Moldauern!“ forderte am 27. August 1989 eine halbe Million Menschen in Chisinau/Kishinev. Die „Prawda“ tadelte die separatistischen und antirussischen Parolen, aber am 1. September 1989 wurde Rumänisch Staatssprache und die lateinische Schrift anerkannt. Der Vorschlag Gorbatschows, die russische Sprache solle weiterhin als interethnische Kommunikationssprache dienen, mißfällt den Russen wie den Rumänen. Das rasche und heftige Aufleben der rumänischen Frage in der UdSSR hatte eine ähnliche Reaktion der russischsprachigen Bevölkerung zur Folge.

In Chisinau/Kishinev und in den großen Städten spricht die Mehrheit als Folge der Russifizierungs- und Ansiedlungspolitik Russisch. Die Russen und Ukrainer, die den größten Anteil am politischen und administrativen Personal stellen, haben sich in der „Interfront“ organisiert. Sie wollen sich nicht als Besatzer beschimpfen lassen, aber die privilegierte Stellung im Staat halten. Diese sowjetischen ‚Modernisierungsopfer‘ traten gegen die „Moldauische Volksfront“ auf. Besonders die Forderung an die russische Oberschicht, binnen sechs Jahren eine Prüfung in Rumänisch ablegen zu müssen, falls sie ihre Position behalten wollen, beunruhigt die Russen zurecht. Es gibt keine Kurse, kein Lehrmaterial.

Die Angst der Kaste des russischen kommunistischen Funktionärsapparats, daß sie nicht termingerecht Rumänisch lernen wird, trägt sonderbare Blüten. In einem Referendum am 28. Januar 1990 hat sich die russischsprachige Mehrheit der Einwohner der Stadt Tiraspol für ein selbstverwaltetes, von der Moldauischen SSR „unabhängiges Gebiet“ ausgesprochen. Das Staatspräsidium hat das Referendum für ungültig erklärt. Beide Entscheidungen entlarven das ethnische Pulverfaß, bieten aber keine Lösung an.

Parolen gegen die Kommunistische Partei und die Sowjetarmee
Bild: Nowosti / APN

Die Wiedervereinigung

Die Rückkehr der Moldauischen Sowjetrepublik in den rumänischen Staat wurde von radikalen Aktivisten gefordert, auch damals schon, als Ceausescu herrschte und die Rumänen widerstandslos Auslandsschulden zahlten, froren und hungerten. Zum 72. Jahrestag der Oktoberrevolution in Chisinau/Kishinev haben rumänische Demonstranten die russische Parteiprominenz zum fluchtartigen Rückzug von der Ehrentribüne gezwungen. Der Gegenschlag der Autoritäten forderte 215 Verletzte. Sondertruppen aus Moskau wurden eingeflogen. Die Sowjetrepublik befand sich am Rande des Bürgerkriegs.

Am 22. Dezember 1989, während des Volksaufstandes in Bukarest, organisierte die „Moldauische Volksfront“ eine Demonstration auf dem Siegesplatz in Chisinau/Kishinev für die ‚Brüder‘ aus Rumänien. Auch der moldauische Staats- und Parteichef M. Lutschinski erklärte öffentlich seine „Unterstützung für die rumänische Revolution“. Zwei Tage später kam aus der moldauischen Hauptstadt eine Delegation der Volksfront mit 48 Waggons Lebensmittel und Medikamenten als Hilfe ins rumänische Jassy. Die Hilfeleistungen waren eine Übung im gemeinsamen Handeln. In Jassy und der rumänischen Moldau fiel kein Schuß, es gab keine Verletzten während der Weihnachtsrevolution.

„Wiedervereinigung!“ („Reunificare!“) riefen die Demonstranten bei dem Begrüßungsmeeting vor dem Rathaus in Jassy, der alten Hauptstadt des Fürstentums Moldau. Ein Tabu war gebrochen. Noch am 1. Februar verteilten die Brüder aus der UdSSR gefüllte Tragtaschen in Jassy, auf denen das gemeinsame Wappen, das Stierhaupt, umgeben von einem roten Stern, aufgedruckt war, um den Hitler-Stalin-Pakt zu denunzieren.

Der kulturellen Wiedervereinigung steht nichts mehr im Wege. Beide Länder haben offiziell die gleiche Sprache und Schreibweise. In Bukarest nahmen bei der Gründung des Kulturvereins „Pro Bessarabia, pro Bukowina“ auch Vertreter aus Chisinau/Kishinev teil. An den Grenzen zwischen der Moldauischen SSR und Rumänien ist auf der sowjetischen Seite die doppelte Stacheldrahtsperre — zwei und eineinhalb Meter hoch — über 50km weit abgebaut, die Grenze ist durchlässiger geworden. Für Kurzbesuche benötigt man kein Visum mehr.

Die politische Wiedervereinigung ist problematischer. „Denkt tausendmal darüber nach, bevor ihr eine unabhängige Richtung einschlagt, ohne Kompaß, ohne Karte, Reservekanister oder eine fähige Mannschaft“, sagte Gorbatschow während seines Besuches in Litauen, und die Wilnaer fragte er: „Bloß wegen der Wurst wollt ihr die Union zerbrechen lassen?“ Das kann der sowjetische Staats- und Parteichef in der Moldauischen Sowjetrepublik nicht wiederholen. Das Wohlstandsgefälle zwischen den beiden rumänischen Staaten ist gering und spielt keine Rolle.

Der Vergleich der zwei deutschen Staaten mit der Moldauischen SSR und der Republik Rumänien bietet sich an. Aus dem Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands konnten die Rumänen auf dem Weg zur „Wandlung durch Annäherung“ vieles lernen. Es hängt nicht alles davon ab, ob Gorbatschow sich hält oder fällt. Vor dem Besuch des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse Anfang des Jahres in Bukarest, forderte die Gruppierung „Nationales Aktionskomitee Bukarest-Chisinau“ offen die rumänische Wiedervereinigung. Rumänien, stellte diese Gruppe fest, ist geteilt wie Deutschland und „Rumänien hat seine DDR, das ist die Moldauische SSR“.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1990
, Seite 40
Autor/inn/en:

Viorel Roman: Akademischer Rat in Bremen und Verfasser mehrerer Bücher zu Rumänien.

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