FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1968 - 1981 » Jahrgang 1969 » No. 185
Georg Lukács • Adelbert Reif

Deutschland, dein Marx!

Gespräch
Kürzlich hat Rudolf Augstein ein Werk veröffentlicht, das sich mit der Problematik der Deutschen in ihren Beziehungen zu Friedrich dem Großen beschäftigt. Wenn man von dieser Problematik ausgeht ...

Ich glaube, man muß allgemeiner beginnen: einerseits mit der Ablehnung jener Auffassung, nach der das deutsche Wesen schon im Teutoburger Wald barbarisch und verdorben gewesen wäre; anderseits muß man mit dem Vorurteil brechen, daß Deutschland durch die sogenannte demokratische Republik, die heute in Deutschland herrschend ist, die eigene Vergangenheit schon überwunden habe.

Deutschland ist ein Produkt der politisch-sozialen Tätigkeit der Deutschen in der kapitalistischen Ära; wenn ich die Deutschen zugleich als Produkte und Produzenten ihres gegenwärtigen Status auffasse, meine ich, daß es von ihnen selbst abhängt, ob dieser Zustand bleibt oder nicht. Wenn es sich um ein Rassenstigma handelte, so könnte man daran nichts ändern; aber da wir es mit einem historischen Produkt zu tun haben, ist eine Änderung durchaus möglich.

Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus hat sich in Deutschland ganz anders abgespielt als in den westlichen Ländern. In England und Frankreich hat die Entwicklung des Kapitalismus die nationale Einheit hervorgebracht. Hingegen führte die Auflösung des deutschen Feudalismus zur Auflösung der lockeren Staatlichkeit des einstigen Deutschen Reiches. Die Konzentrationstendenz des Kapitalismus trat in der karikaturistischen Form der kleinen Fürstentümer hervor. Sie bildeten eine Gegenkraft zur deutschen Einheit, so daß diese erst 1870 stattfinden konnte, zu einem Zeitpunkt also, da in Frankreich und England die nationale Einheit schon hundertjährige, und zwar revolutionäre Tradition aufwies.

Hier ist ein Gegensatz der Entwicklung, und in diesem Gegensatz trat Preußen unter dem sogenannten großen Friedrich zusammen. Es entstand eine großmachtartige Karikatur der westlichen Staaten, in der alle feudalen Traditionen konserviert und bürokratisiert waren. Unter Friedrich dem Großen, der sich gern als Aufklärer bezeichnete, hat nie eine wirkliche Überwindung des Feudalismus stattgefunden.

Für die deutsche Entwicklung ist charakteristisch, daß sich diese Überwindung im Grunde genommen auch später nicht vollzog.

Ökonomisch kann man z.B. sehen, daß die Agrarverhältnisse in Preußen nicht nur unter Friedrich dem Großen, sondern auch zur Zeit der Bismarckschen Reichsgründung eigentlich noch die alten gewesen sind. Noch zur Machtergreifung Hitlers unter Hindenburg hat wesentlich der Umstand beigetragen, daß es galt, die schüchternen Tendenzen einer Reform der preußischen Agrarverhältnisse während der großen Weltwirtschaftskrise 1929 im Keim zu ersticken. Nur ein Reichskanzler Hitler war für Hindenburg dafür die Garantie,

Von den ökonomischen Grundlagen bis zu den Ideologien gibt es in Deutschland eine Kontinuität des sich auflösenden, dekadenten Mittelalters: Von Friedrich dem Großen, von Bismarck usw. wurden die bestehenden Verhältnisse zwar etwas modernisiert, im wesentlichen aber unverändert übernommen.

Sie seben also von Friedrich dem Großen über Bismarck bis Hitler eine durchlaufende Linie?

Natürlich wurde das agrarische Preußentum nicht schlechthin das Muster des späteren Deutschen Reiches. Das Rheinland, Berlin, die übrigen Industriegebiete bestimmten die eigentliche Entwicklung. Was vom agrarischen Preußentum blieb, ist die bürokratisch-autoritäre Form des Regierens, ist das, was man um 1918 in Deutschland den „Obrigkeitsstaat“ genannt hat, mit einer Ideologie, deren beste Formulierung lautet: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“.

Wenn es heute um Reformen im Zusammenhang mit der Studentenbewegung geht, kann ein ausländischer Beobachter fragen, ob „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ nicht immer noch das ideologische Fundament des deutschen Wesens ist.

Ich sage: nicht am deutschen Wesen soll die Welt genesen, wie es 1914 hieß, sondern das deutsche Volk soll von seinem eigenen Wesen genesen.

Aber gerade ein solcher Wandel des Geschichtsverständnisses ist augenblicklich in der Bundesrepublik noch nicht spürbar.

Einerseits gibt es in Deutschland eine ganz schlechte historische Tradition, anderseits entstand besonders in Amerika eine Ideologie, gemäß welcher wir in einem ganz neuen Zeitalter stehen: Der Kapitalismus ist angeblich nicht mehr Kapitalismus, sondern etwas völlig Neues.

Nehmen Sie eine allgemeine kulturelle Kategorie wie das „Happening“: das hat nur Gegenwart und überhaupt keine Vergangenheit. Ich gebe zu, daß es in unserer Zeit ziemlich schwierig ist, zur Vergangenheit eine Verbindung herzustellen, und ich bin weit davon entfernt, die studierende Jugend der Welt dafür zu verurteilen, daß sie dieses Verständnis momentan nicht aufbringt. Die führende, gefeierte Geschichte zeichnet sich ja heute gerade dadurch aus, daß sie keine Geschichte ist.

Ohne Frage ist also etwas Neues notwendig. Nun wird zwar die Bedeutung des Marxismus heute viel stärker erkannt, als es noch vor zwanzig Jahren der Fall war, aber es gibt sogenannte orthodoxe Marxisten, die sich strikt an den Text von Marx halten, und natürlich kann man heute mit dem Text von Marx in der amerikanischen Ökonomie nur wenig anfangen. Trotzdem ist es falsch, den Marxismus aus diesem Grunde als veraltet anzusehen. Wenn man die Methode von Marx studiert, kann man sehr wohl die Eigenart des amerikanischen Kapitalismus ökonomisch erfassen. Diese Entwicklung des Marxismus beginnt erst jetzt. Wir sind dabei, die ersten Schritte auf diesem Wege zu unternehmen.

Es wäre deshalb außerordentlich wichtig, wenn es den in Deutschland arbeitenden Marxisten gelingt, die Jugend in dieser Hinsicht dem Marxismus näher zu bringen. Der junge Marx sagte, es gibt nur eine einheitliche Wissenschaft: die Wissenschaft der Geschichte. Für Marx war Geschichte das Menschwerden des Menschen. Und objektiv gesehen gehen ja alle Jugendlichen mit Recht davon aus, daß von der gegenwärtigen Gesellschaft in Deutschland — sowohl im modernen manipulationskapitalistischen wie auch im konservativ-reaktionären Sinn — eben diese Menschwerdung des Menschen verhindert und in den Hintergrund geschoben wird.

Es kommt jetzt also darauf an, der Jugend begreiflich zu machen, daß der richtige geistige Weg zur Überwindung der alten Anschauung eine Wendung zum richtig verstandenen Marxismus wäre. Ich glaube, daß in der genannten Beziehung der Marxismus in der zukünftigen Entwicklung Deutschlands wie anderer Länder eine sehr große Bedeutung hätte.

Der schlechteste Sozialismus ...

Was die Bundesrepublik betrifft, mißt die Jugend Marxismus und Sozialismus an den politischen Realitäten in Deutschland, z.B. an der politischen und ideologischen Wirklichkeit der DDR.

Das ist sehr verständlich. Der Sozialismus, der in den zwanziger Jahren bedeutenden Einfluß auf die Intelligenz Europas ausübte, hat mit seiner seitherigen Entwicklung sehr viel von diesem Einfluß verloren. Aber der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus. Das ist nur scheinbar ein Paradoxon.

Wer hat die Weltherrschaft Hitlers verhindert? Zweifellos die Sowjetunion. Man kann aufzählen, wie viele Tanks die Amerikaner den Russen geschickt haben usw., aber das ist alles Unsinn. Nach München wäre ohne die Sowjetunion eine Herrschaft des Faschismus über Europa entstanden, möglicherweise eine Weltherrschaft. Der Faschismus ist an der sozialistischen Sowjetunion — ich wiederhole jetzt: der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus — gescheitert.

Es ist den USA gelungen, die Atombombe zu erfinden, die auf den Krieg keinen wesentlichen Einfluß ausübte, denn Japan konnte man auch ohne sie besiegen, nachdem der Hitlerfaschismus besiegt war. Thomas Mann hat nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima in seinem Tagebuch notiert, daß diese Bombe eigentlich gegen Rußland geworfen wurde. Die Drohung mit der Atombombe wurde von der amerikanischen Politik als Mittel angesehen, den „American Way of Life“ zur Weltherrschaft zu bringen. Es war wieder nur die Sowjetunion, die ein Atompatt hervorgebracht hat und damit das Scheitern der Weltherrschaft des „American Way of Life“.

Ich glaube, daß ich mich hier nicht gegen den Vorwurf zu verteidigen brauche, ich sei ein begeisterter Anhänger Stalins. Ich werde aber nie vergessen, daß uns vor diesen zwei Gefahren — ich spreche das ruhig aus — nur die Stalinsche Sowjetunion gerettet hat. Ich denke, man versteht jetzt, daß in meinem Mund die Formulierung: Der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus, keine Phrase ist.

Heute stellt sich das Problem so — und meine ideologischen Reformbestrebungen zielen in diese Richtung —, daß es ohne eine Reform des Sozialismus in den sozialistischen Staaten keine wirkliche Reform des Marxismus im Weltmaßstab geben wird. Diese zwei Prozesse gehören zusammen. Trotzdem ist es unsere Pflicht, den Studenten zu sagen, daß sie ohne kritische Besinnung auf die Geschichte Deutschlands an der deutschen Mentalität nie etwas ändern werden.

Gibt es nicht schon Ansätze dafür?

Man muß vor allem verstehen, daß Deutschland eine unnatürliche Entwicklung seines Kapitalismus durchgemacht hat, was sich in der nationalen Frage und dementsprechend in der demokratischen Frage auswirkt. Deshalb wird eine ganze Reihe von Dingen, die in England oder Frankreich einfach unmöglich wären, in Deutschland wie eine Selbstverständlichkeit behandelt: Zum Beispiel der undemokratische Charakter des täglichen Lebens.

Man soll also die ideologische Zurückgebliebenheit in puncto Demokratie erkennen, wobei ich unter Demokratie jetzt die bürgerliche Demokratie mit allen ihren Fehlern verstehe. Denn selbst in dieser Hinsicht ist Deutschland ein zurückgebliebenes Land im Vergleich zu den anderen Ländern.

Glauben Sie, daß von dem heute politisch aktiven Teil der Jugend in der Bundesrepublik ein konstruktives Zukunftskonzept entwickelt werden kann?

Ich glaube, daß diese Studentenbewegung, die heute nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt stattfindet, eine außerordentlich positive Erscheinung ist. Wir sind jetzt in eine Zeit gekommen, da die beiden Sieger des Krieges gegen Hitler in eine innere Krise ihrer eigenen Systeme verfallen.

Daß im Stalinismus diese Krise ausgebrochen ist, sehen wir seit dem XX. Parteikongreß 1956; diese Entwicklung wird nicht zum Stillstand kommen.

Auf der anderen Seite ist die Niederlage Amerikas im Vietnamkrieg für den „American Way of Life“ so etwas wie das Erdbeben von Lissabon für den französischen Kapitalismus.

Wenn es auch noch viele Jahrzehnte vom Erdbeben von Lissabon bis zur Erstürmung der Bastille gedauert hat, die Geschichte kann sich in diesem Sinne wiederholen; aus diesen anfänglich ideologisch völlig unreifen und nur aus einem richtigen Gefühl des Aufstands entstehenden Bewegungen können wirkliche Bewegungen entstehen. Meines Erachtens ist das ein Prozeß, der Jahrzehnte beanspruchen wird.

Aber wenn man heute nicht mit dem Kampf beginnt, wird es auch in vierzig Jahren noch keine Änderung der Verhältnisse geben. Ich meine, daß alle Kräfte darauf konzentriert werden müssen, damit diese Änderung der Verhältnisse vollzogen wird.

An die Wahlen zum deutschen Bundestag im Herbst dieses Jahres knüpfen sich verschiedene Spekulationen.

Es ist sehr schwer für einen Beobachter aus der Ferne, Voraussagen zu machen. Ich lehne solche Voraussagen auch deshalb ab, weil für mich die Basis der Beurteilung viel zu schmal ist. Allerdings kann ich sagen, daß ich von den existierenden Parteien so gut wie nichts erwarte. Wenn die CDU/CSU die Majorität behält, wird um einige Nuancen reaktionärer regiert, als wenn SPD und FDP gemeinsam an der Spitze der Regierung stehen. Aber eine wirkliche Änderung des Lebens in Deutschland würde sich daraus nicht ergeben: weder notwendige Reformen noch — wie viele sagen — die Gefahr eines neuen Faschismus sehe ich als Alternativen für die zukünftige deutsche Entwicklung.

Ich glaube nicht — und hier macht die linke Publizistik, wenn sie für die Reaktion in Deutschland den Ausdruck Faschismus gebraucht, einen Fehler —, daß der offene Rechtsbruch zum System und zur herrschenden Methode wird, können doch die heutigen Parteien mit einer geringen Verstärkung der schon vorhandenen formellen Verdrehungen der Gesetze ganz gut auskommen.

Der Faschismus war ein Instrument, um die Weltherrschaft Deutschlands zu begründen. Die gegenwärtigen Führer Deutschlands sind sich vollkommen darüber klar, daß von einer deutschen Weltherrschaft keine Rede sein kann. Natürlich versucht man im Schatten Amerikas und durch Unterredungen mit Frankreich und England etwas mehr Anteil an den Weltbelangen zu erhalten, aber eine solche Illusion, mit der noch Hitler an die Macht gelangte, existiert meiner Ansicht nach heute nicht.

Könnten nicht der Liberalismus der FDP und die demokratischen Tendenzen innerhalb der SPD eine Bewußtseinsänderung der jungen deutschen Generation erzeugen?

Ich muß sagen, daß ich keinerlei Anzeichen dafür sehe. Soweit man die führenden Leute der SPD: Brandt, Wehner oder Schiller beurteilen kann, sind sie nicht in einer Weise veranlagt, daß man von ihnen eine entscheidende Wendung erwarten dürfte. Im Falle eines Wahlsieges würden sie selbstverständlich in gewissen Fragen um einige Nuancen liberaler als die CDU/CSU sein, man würde sicherlich kleine Kompromisse mit dem Osten zu schließen versuchen, aber ich bin sehr skeptisch, daß eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft in der Bundesrepublik stattfinden könnte.

Seitdem die Sozialdemokratie den Weg der Anpassung gegangen ist, hat noch keine sozialdemokratische Regierung, wo immer sie sich etablierte und wie immer sie beschaffen war, eine wirkliche Änderung des Systems hervorgebracht.

Selbst im früheren Österreich, wo echte Sozialdemokraten wie Otto Bauer an der Spitze standen, war die ganze Geschichte doch eine mißlungene Kapitulation vor der österreichischen Bourgeoisie.

Was die deutsche Sozialdemokratie 1918 und nach 1918 leistete, war eine Kette von Kapitulationen. Ich sehe nicht, wo in der ganzen Einstellung von Brandt oder Wehner oder Schiller und anderen Führern ein Element wäre, aus dem man eine radikale Änderung der deutschen Verhältnisse in absehbarer Zeit folgern könnte.

Nach einer neueren demoskopischen Umfrage ist die Bereitwilligkeit unter den westdeutschen Jugendlichen, einer Gewerkschaft anzugehören, weit stärker als die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in einer Partei.

Die Parteien, leider die kommunistische mit inbegriffen, haben infolge ihrer ausschließlichen Einstellung auf taktische Entscheidungen und Verlust einer großen historischen Perspektive für die jungen Menschen ihre Anziehungskraft verloren. Die einzige Sache wäre, wenn ich an Deutschland denke, daß Politiker und Theoretiker eine Art linke Sozialdemokratie begründeten, vorausgesetzt natürlich, sie würden Massen finden.

Die Entfremdung des Menschen kann nur im Sozialismus aufgehoben werden. Aber die ersten Schritte im Kampf gegen eine manipulierte Demokratie und für eine wirkliche Demokratie, die noch nicht sozialistisch ist, müßten innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unternommen werden. Dazu könnte als Organ nur eine Art — ich sage das jetzt aus Verlegenheit — USP dienen, die die alten sozialistischen Prinzipien wieder aufnimmt und versucht, sie zu verwirklichen. Die Anläufe zu einer solchen Bewegung sind in Deutschland allerdings außerordentlich schwach.

Sozialismus heißt Rätesystem

Könnte nicht die Initiative zur Neubelebung des unabhängigen sozialdemokratischen Gedankens heute von den Gewerkschaften ausgehen?

Das wäre nicht ausgeschlossen. Der heutige Arbeiter ist zwar in bezug auf seine Arbeitszeit und seinen Arbeitslohn besser gestellt als der frühere Arbeiter. Er ist aber ebenso ein ausgebeuteter Arbeiter und ein entfremdeter Mensch. Wenn es also eine Partei gäbe, die diese Ausbeutung und Entfremdung zum Gegenstand einer gesellschaftlihen Praxis machen könnte, dann wäre das ein wirklich großer Schritt vorwärts.

Sie sprachen von einer bürgerlichen Demokratie, die in Deutschland überhaupt erst geschaffen werden müßte. Könnten Sie spezifizieren, was Sie unter bürgerlicher Demokratie verstehen?

Marx hat in der Dualität des idealistischen Citoyen und des de facto herrschenden Bourgeois das wesentliche Merkmal der bürgerlichen Demokratie gesehen. Heute ist der idealistische Citoyen zu einem Lakaien der Bourgeoisie geworden. Er ist nur dazu da, um Wahlparolen zu formulieren; wenn sich bei verschiedenen deutschen Parteien gewisse Schriftsteller dazu hergeben, so wird damit nichts geändert.

Eine Bewegung, die versucht, die Interessen der Öffentlichkeit gegenüber den bourgeoisen Lobbies durchzusetzen, würde die Dualität von Bourgeois und Citoyen noch nicht sprengen, wäre noch nicht sozialistisch, könnte jedoch gegenüber der heutigen Entwicklung wirklich etwas bedeuten. Aber ich wage nicht vorauszusagen, wie die Chancen in Deutschland dafür stehen.

Um aus meinen persönlichen Anschauungen kein Geheimnis zu machen: unter sozialistischer Demokratie verstehe ich eine Demokratie des Alltags, so wie diese Demokratie in den Arbeiterräten von 1871, 1905 und 1917 entstanden ist, wie sie in den sozialistischen Ländern einmal existierte und dort neu erweckt werden muß.

Die Arbeiterräte entstehen nur dann, wenn große Massen des Proletariats spontan in Bewegung geraten. Die Arbeiterräte von 1905 und 1917 hat niemand „gemacht“. Lenin war kein Che Guevara, auch Trotzki nicht. Keiner von ihnen hat Arbeiterräte „gegründet“. Sie haben sich lediglich an die Spitze von Arbeiterrätebewegungen gestellt. Von solchen Bewegungen kann heute überhaupt keine Rede sein.

Das bedeutet freilich keineswegs, daß man nicht propagandistisch beides, sowohl eine Erneuerung der bürgerlichen Demokratie wie die ersten Schritte zu einer Entwicklung der sozialistischen Demokratie, in Angriff nehmen sollte. Ich muß nur gestehen, ich sehe momentan keine spontane Massenbasis für die eine noch die andere Bewegung. Daher meine Skepsis.

Nun gibt es in der Bundesrepublik — wie auch in den anderen Ländern — eine weitere Kraft: ich meine die Intellektuellen.

Die Intelligenz wird in den kommenden Veränderungen eine größere Rolle spielen als früher. Wenn zum Beispiel im 19. Jahrhundert die Gewerkschaften den Achtstundentag erreichten, dann war das nicht nur eine ökonomische Angelegenheit, sondern eine Zurückdrängung der damaligen Entfremdung. Wenn heute ein längeres Wochenende gesichert wird, geschieht gegen die Entfremdung noch nichts. Das Problem ist jetzt nicht mehr freie Zeit, sondern wie diese freie Zeit verbracht werden soll. Was geschieht in der freien Zeit? Mit dieser Frage wächst objektiv die Bedeutung der Ideologie und damit die Bedeutung der ideologischen Führer, der Gelehrten, Schriftsteller und Künstler ganz erheblich.

Ich fürchte aber, daß die heutige Literatur sich zu sehr auf einem rein praktischen Niveau bewegt; was die frühere Literatur großgemacht hat — man denke an die Literatur der Aufklärung, von Voltaire bis Diderot und Rosseau —, das fehlt eben unserer Literatur. Es gibt natürlich Ausnahmen; einzelne Teile der Dramen von Hochhuth, die „Berliner Antigone“, „Billard um halbzehn“ von Böll und Dürrenmatts „Alte Dame“ gehören dazu. Aber hier handelt es sich um Ausnahmefälle in der eigenen Produktion dieser Schriftsteller; man kann nicht sagen, daß die Produktion von Dürrenmatt das Niveau der „Alten Dame“ je wieder erreicht hätte. Literatur und Wissenschaft verzichten heute weitgehend auf ihre eigene Macht, indem sie sich in das System einbauen lassen. Solange unsere Literatur die seit Homer und den griechischen Tragikern vorbestimmte Mission nicht sieht, solange unterliegt man einer Täuschung, wenn man glaubt, daß man heute eine spezifisch moderne Literatur gefunden hat.

Die Literatur von heute begibt sich großer Möglichkeiten, die selbstverständlich nicht unmittelbare Möglichkeiten sind. Ich meine nicht, daß unbedingt die Leser von Diderot die Bastille gestürmt haben, ich glaube aber, daß ohne Rosseau und Diderot eine Ideologie, die zum Bastillesturm geführt hat, nicht zustande gekommen wäre.

Diese großen Möglichkeiten versäumt heute nicht nur die Literatur, sondern weitgehend auch die Wissenschaft und die sogenannte Philosophie. Die negative Dialektik von Adorno bedeutet im Grunde: „Ich sehe als intelligenter Mensch, daß der Kapitalismus ein menschenunwürdiges und niederträchtiges System ist. Da es aber heute nur eine negative Dialektik gibt und nicht eine positive wie bei dem veralteten Marx, kann ich auf diese Weise im System ausgezeichnet leben. Das System ist auch durchaus bereit, mich einzubauen, es ist bereit, mir die höchsten Ehren in dieser Beziehung zu geben.“

Und das ist in der modernen Literatur und Kunst ein außerordentlich verbreiteter Standpunkt. Nie werden die Happeningmalereien jene soziale Wirkung haben, die Daumiers Zeichnungen hatten.

Das würde bedeuten, daß das politische Engagement der Schriftsteller in der Bundesrepublik, ihre ganze Linksaktivität wertlos wäre?

Ich unterschätze das nicht. Man darf nicht vergessen, daß Leute mit sehr großer ideologischer Wirkung, zum Beispiel Lessing oder Heine, es abgelehnt haben, einer bestimmten politischen Partei anzugehören. Das Gedicht „Deutschland“ von Heine ist eine Abrechnung mit dem alten Deutschland, viel radikaler als es eine bloße politische Abrechnung sein könnte, obgleich ohne direkte Beziehung zu irgendeiner der damaligen Parteien. Deshalb glaube ich, daß die große Dichtung in der heute so wichtigen ideologischen Vorbereitung der Umwälzung dieser Gesellschaft eine desto größere Rolle spielen kann, je vertiefter Literatur und Wissenschaft auf die entscheidenden Menschheitsfragen eingehen.

Es kommt darauf an, dem Menschen die wirkliche Perspektive zu geben. Natürlich ist das keine neue Geschichte. Das steht schon in der Iphigenie, in gewissem Sinn schon in der Ilias, wenn Priamos zu Achilles kommt und Achilles gegen die damaligen Normen des Lebens die Leiche Hektors zurückgibt.

Der heutige Kampf gegen Entfremdung ist letzten Endes ein Bewahren des Menschheitlichen und ein Höherentwickeln des Menschheitlichen unter ökonomisch sehr günstigen, sozial außerordentlich ungünstigen Bedingungen. Hier ist der Punkt, wo die Literatur mehr leisten kann, als sie bisher geleistet hat.

Wenn Sie die Romane von Solschenizyn gelesen haben — dort ist eine Menschheitskritik des Stalinschen Regimes enthalten, eine Kritik, die tiefer ist und tiefer wirken wird als alle Pamphlete und Erklärungen, nach denen Stalin ein Dummkopf und ein Verbrecher gewesen ist. Indem Solschenizyn zeigt: was geschieht mit denen, die interniert werden, und was geschieht mit denen, die internieren — durch seine Darstellung dieses menschlichen Kontrastes vollbrachte er eine große Leistung. Nur wenige leisten das in der deutschen Literatur, wobei es gar keine Frage ist, daß Solschenizyn diese Leistung unter viel schwierigeren Bedingungen vollbrachte, als es je ein deutscher Schriftsteller heute tun müßte.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1969
, Seite 357
Autor/inn/en:

Georg Lukács:

Geboren 1885 in Budapest. Philosoph, Literaturhistoriker und politischer Theoretiker. Seit 1918 war Lukács Mitglied der ungarischen KP, 1919 wirkte er als stellvertretender Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räterepublik. Lukács emigrierte nach Wien, Berlin und Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Ungarn zurück und arbeitete als Professor. Lukács war führendes Mitglied des Petöfi-Klubs und beteiligte sich am Ungarnaufstand 1956.

Adelbert Reif:

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