Grundrisse » Jahrgang 2008 » Nummer 28
Daniel Fuchs • Minimol
Interview mit Pun Ngai:

„Deshalb spreche ich immer von Arbeit und Körper, denn mit dem Körper kommt mehr Subjektivität ins Spiel ...“

Interview mit Pun Ngai, Sozialwissenschafterin (Professorin am Social Work Research Center der Peking University und der Hongkong Polytechnic University) und Gründerin eines Arbeiterinnen-Netzwerks zur Unterstützung von Wanderarbeiterinnen (Chinese Working Women Network) in der im südchinesischen Perflussdelta gelegenen Stadt Shenzhen. [1] Gemeinsam mit Li Wanwei ist sie Herausgeberin des Buches Dagongmei. [2] Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen, dessen deutsche Ausgabe im September 2008 erschienen ist (siehe auch die Rezension von Max Henninger in dieser Ausgabe der grundrisse). Das Interview entstand anlässlich der Veranstaltung „Weltfabrik und Wohnheimregime in China – Kontrolle und Widerstand weiblicher Arbeitskraft“ Mitte Oktober 2008 in Wien, bei der das Buch vorgestellt wurde.

Wie wir im neu erschienenen Buch erfahren, verweist die Bezeichnung dagongmei insbesondere auf den geschlechtsspezifischen Charakter des gegenwärtigen Proletarisierungsprozesses in China. Aus den Geschichten, die die jungen Arbeiterinnen erzählen, entsteht der Eindruck, dass die Erfahrungen als Wanderarbeiterin – trotz der harten Arbeits- und Lebensbedingungen in den Fabriken – die patriarchalen Geschlechterverhältnisse in den Herkunftsdörfern langfristig gehörig durcheinander wirbeln. Teilst du diesen Eindruck?

Ich würde sagen, dass die dagongmei die patriarchalen Geschlechterverhältnisse tatsächlich bis zu einem gewissen Grad verändern, weil sie unabhängiger werden und ein höheres Einkommen haben, mit dem sie die Familie unterstützen können. Dadurch erhöht sich ihr Status, und wenn sie zurück ins Heimatdorf kommen, erhalten sie mehr Mitsprache. Auf diese Art und Weise fordern sie also die patriarchale Geschlechterordnung wirklich heraus. Das Problem ist jedoch, dass sie ab dem Zeitpunkt der Heirat eingeschränkt werden, da sie außerhalb ihres eigenen Dorfes heiraten müssen. Während sie also in ihrem eigenen Dorf bereits eine Verbesserung ihres Geschlechterstatus erreicht haben, müssen sie mit der Heirat in das Dorf des Ehemanns gehen. Diese jungen Arbeiterinnen sind in ihrer Denkweise befreiter als zuvor. Sie kennen nur die Fabrikarbeit und sind nicht gewillt, im Haushalt oder in der Landwirtschaft zu arbeiten. Daher kommt es häufig zu familiären Auseinandersetzungen und Streit, insbesondere mit der Schwiegermutter. Ich würde also sagen, dass eine reale strukturelle Veränderung schwierig ist, sie jedoch etwas in Bezug auf ihre persönliche Unabhängigkeit verändern können. [3]

Die Geschichten im Buch vermitteln jedoch den Eindruck von Veränderungen in den Geschlechterverhältnisse auch nach der Heirat. Wie schätzt du demzufolge die Möglichkeiten ein, dass die jungen Frauen in naher Zukunft selbst über die Heirat entscheiden können?

Sie können bereits jetzt über ihre Heirat entscheiden. Das konnten sie sogar vor der Reformperiode, da eine Wahlfreiheit bezüglich der Heirat schon in der Mao-Ära befürwortet wurde. Nach den Reformen und durch die Migration erlangten Frauen vom Land jedoch neue Möglichkeiten, sich weiterhin bestehenden Kontrollen zu entziehen. Sie finden ihren potentiellen Ehemann nunmehr in der Stadt. In dieser Hinsicht verfügen sie bereits über mehr Freiheit. Ich habe über die Einschränkungen gesprochen, denen sie unterliegen, wenn sie zurück in ihr Heimatdorf gehen und Kinder zur Welt bringen. Denn wenn sie einen Sohn zur Welt bringen, erlangen sie Macht. Wenn sie aber eine Tochter zur Welt bringen, lastet noch immer viel Druck auf ihnen. Deshalb meine ich, dass die Befreiung der Frauen noch sehr eingeschränkt ist. Auf dem Land haben sie auch keine finanziellen Mittel. Das ist nicht wie beim Arbeiten in der Stadt, wo sie über mehr Geld verfügen. Zurück auf das Land zu gehen bedeutet landwirtschaftliche Arbeit und Hausarbeit. Am Ende des Jahres verkaufen sie dort ihre landwirtschaftlichen Produkte, also das, was sie von der Ernte übrigbleibt. Allerdings geht der Großteil des Einkommens zurück an die Familie des Ehemanns bzw. zum Ehemann selbst. In dieser Hinsicht verlieren sie daher ihre ökonomische Unabhängigkeit. Wenn einige Arbeiterinnen zurückgehen und einen kleinen Laden gründen, dann könnten sie erfolgreich sein und über wirkliche Macht verfügen. Die meisten von ihnen scheitern damit jedoch nach ein paar Jahren.

Ihr müsst verstehen, dass die Arbeiterinnen im Oral-History-Buch nicht wirklich den Durchschnitt widerspiegeln. Einige von ihnen haben sich an das Arbeiterinnen-Netzwerk gewandt, weil sie gebildeter sind. Das ist überall der Fall, nicht nur bei uns. Wenn du zum Beispiel seit drei Jahren in einer Fabrik arbeitest und dort weiterhin bleiben willst, dann wirst du zur Linienführerin eines Fertigungsbandes, weil die Fabrik dich braucht, um Kontrolle über die Arbeiterinnen zu erlangen. Daher gibt es einen gewissen Prozentsatz an Arbeiterinnen, die relativ gesehen höhere Positionen erlangen und daher über mehr Macht verfügen. Normalerweise waren es diese Arbeiterinnen, die sich an unser Netzwerk gewandt haben.

Seit 2004 wurde das Prozedere für Scheidungen erleichtert. Gibt es seither mehr Scheidungen, die von Frauen eingereicht werden?

Ich habe keine Daten zur Hand, würde aber sagen, die Zahl an Scheidungen nimmt jährlich zu. Diesen Anstieg an Scheidungsfällen gibt es nicht nur in urbanen, sondern auch in ländlichen Regionen. Besonders auf dem Land stehen geschiedene Frauen jedoch vor einer sehr schwierigen Situation. Mehrheitlich heiraten sie nach der Scheidung erneut, weil es für Frauen auf dem Land sehr schwierig ist, alleinstehend zu bleiben. Sie müssen nach der Scheidung ins Dorf der Eltern zurückkehren, wo sie allerdings auf Dauer als Last empfunden werden. Daher ist der auf sie einwirkende Druck, erneut zu heiraten, sehr groß.

Die ArbeiterInnenkämpfe nehmen besonders seit 2003, mit der nunmehr 2. Generation von WanderarbeiterInnen, stetig zu. Was sind für dich dabei die wesentlichsten Unterschiede zu Auseinandersetzungen der ArbeiterInnen in den späten 1980er und 1990er Jahren? Wie würdest du das emanzipatorische Potential der aktuellen ArbeiterInnenkämpfe einschätzen?

Ich würde sagen, dass die meisten Auseinandersetzungen in den späten 1980er und 1990er Jahren individuelle Fälle waren. Ich meine, es gab nur sehr wenige kollektive Kämpfe und Streiks, aber bereits eine große Zahl an arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen. Das heißt, die ArbeiterInnen versuchen, die Firma zu klagen, oder sie wenden sich an die Arbeitsbehörde oder die Gewerkschaft um Unterstützung für eine mögliche Aussprache zu erhalten. Seit 2000, vor allem 2004, 2005 und 2006, ist es jedoch zu einem dramatischen Anstieg an kollektiven Kämpfen in China gekommen. Deshalb sehe ich auch eine Tendenz in Richtung zunehmender spontaner Streiks. Allerdings ist ein Punkt, den ich immer betone, dass diese Art spontaner Streiks ohne langfristige Organisation, ohne jegliche Unterstützung von außen und manchmal auch ohne AnführerInnen stattfinden. Wenn die ArbeiterInnen ihre Forderungen erfüllt bekommen, zerstreuen sie sich einfach wieder. Sie versuchen nicht, sich längerfristig zu organisieren, da das gegenwärtig politisch zu gefährlich ist. Ich würde auch sagen, dass diese kollektiven Kämpfe momentan im Wesentlichen Auseinandersetzungen mit ökonomischen Forderungen sind. Die ArbeiterInnen sehen keinen Sinn darin, mit einer bleibenden Organisation irgendwelche Risiken einzugehen, denn das, was sie wollen, sind Lohnerhöhungen. Deshalb gibt es fast keine Form von dauerhafter Organisierung unter den ArbeiterInnen.

Aber hast du auch Erfahrungen mit politisch motivierten Kämpfen gemacht? Ching Kwan Lee [4] schreibt beispielsweise von ArbeiterInnen, die bei Streiks auf die Mao-Ära verweisen und Parolen aus dieser Periode verwenden.

Ja sicher, auch in einem meiner Artikel habe ich erwähnt, dass die maoistische Sprache bei den meisten dieser spontanen Streiks verwendet wird. Sie ist dabei ein Mittel, um ihre Forderungen zu rechtfertigen, doch die Forderungen selbst sind noch immer weitgehend ökonomischer Natur. Ich meine, wir können vorhersagen, dass sich das langfristig möglicherweise verändern wird, aber im Moment bleiben politisch motivierte Kämpfe sehr beschränkt. In einigen Fällen wird jedoch die Forderung nach einer von den ProduktionsarbeiterInnen gewählten, basisdemokratischer organisierten Gewerkschaft formuliert.

Seit Mitte der 1990er Jahre sind Gewerkschaftszweige der ACFTU (All-China Federation of Trade Unions) [5] in allen Betrieben, inklusive privaten und solchen in ausländischem Besitz, rechtlich vorgeschrieben. Einige AutorInnen (z.B. Anita Chan [6]) geben sich hinsichtlich gewerkschaftlichen Organisationsversuchen auf Betriebsebene recht positiv (oft wird das Beispiel Wal-Mart angeführt). Wie schätzt du die Rolle der ACFTU für die Situation der WanderarbeiterInnen ein?

Ich würde sagen, dass die ACFTU in den nächsten Jahren unter größerem Druck stehen wird, die Arbeitskräfte in den Unternehmen gewerkschaftlich zu organisieren. Unter diesem wachsenden Druck wird die ACFTU tatsächlich in die Fabriken gehen und dort mehr Gewerkschaften gründen. Aber das Typische an diesen Gewerkschaften ist, dass sie von der Unternehmensleitung kontrolliert werden. Auch wenn die ACFTU in die Unternehmen geht und vom Management die Öffnung der Firma für die Gewerkschaft verlangt: Kaum ist die Gewerkschaft im Betrieb gegründet, steht sie schon unter der Kontrolle des Managements, soweit ich die Entwicklung überblicke. Es ist schwierig vorherzusagen, ob sich diese Gewerkschaften in wirklich demokratische verwandeln können, so dass der Großteil der ArbeiterInnen an der Basis die Möglichkeit hat, ihre Gewerkschaften zu wählen. Dem Gewerkschaftsgesetz nach können in China nahezu alle ProduktionsarbeiterInnen Gewerkschaftsmitglieder werden, dem Gesetz nach können sie die Gewerkschaft wählen, die Realität sieht jedoch anders aus. Ich bin also nicht so optimistisch wie Anita Chan.

Welche Perspektiven haben deiner Meinung nach Forderungen nach unabhängigen Gewerkschaften, die bisher (z.B. 1989) brutal niedergeschlagen wurden?

Ich würde sagen, zur Zeit keine. Es gibt Leute außerhalb der Fabriken, die für unabhängige Gewerkschaften eintreten. Aber soweit ich weiß, fordern die meisten WanderarbeiterInnen keine unabhängige Gewerkschaft. Wenn sie eine Gewerkschaft verlangen, dann in erster Linie die ACFTU an ihrem Arbeitsplatz und die ist nicht wirklich unabhängig. Und wahrscheinlich wissen die WanderarbeiterInnen, dass die Regierung keine unabhängigen Gewerkschaften zulassen wird, und die meisten von ihnen haben auch kein wirkliches Verständnis davon, was eine Gewerkschaft ist. Sie haben nicht den gleichen Hintergrund wie die ArbeiterInnen in den staatlichen Betrieben. Sie sind ArbeiterInnen, die vom Land kommen, auf dem Land existiert der Begriff der Gewerkschaft nicht. Und wenn sie ein Gewerkschaftskonzept haben, so bezieht es sich im Grunde auf die ACFTU.

Ein zentrales Charakteristikum des Reformprozesses seit Beginn der 1980er Jahre ist die zunehmend strukturelle Verflechtung der Interessen von lokalen Regierungen und örtlichen Unternehmen. Wie wird die Rolle des Staates und der Zentralregierung von den dagongmei angesichts des Ausbeutungsverhältnisses wahrgenommen? Wird Kritik an der Zentralregierung geäußert?

Normalerweise nicht. Die meisten Arbeiterinnen setzen gewöhnlich Hoffnung in die Regierung. Ich meine, für euch hört es sich verrückt an, dass die Menschen bei Protesten stets zum Regierungsgebäude gehen und bei Regierungsbeamten um Hilfe bitten. Das ist im Westen eher selten der Fall, aber in China setzen sie anfangs Hoffnung in die Regierung. Erst wenn sie dabei enttäuscht werden, gehen sie zurück und agieren auf eigene Faust gegen die Firma. Ich würde sagen, dass die ArbeiterInnen mit der Zeit jedoch die Verbindung zwischen Staat und Kapital erkennen werden, da sich die Kontrolle des ausländischen Kapitals über lokale Regierungen zunehmend ausweitet. Ob sie den Fokus der Kämpfe langfristig verschieben werden, ist schwierig zu sagen. Wie Ching Kwan Lee beschreibt, liegt der Fokus der Kritik von freigestellten ArbeiterInnen [7] in den staatlichen Betrieben auf der Regierung. Bei den WanderarbeiterInnen ist das im Moment jedoch nicht der Fall.

Eine in den Erzählungen beschriebene Strategie der Arbeiterinnen besteht darin, bei Protesten Kontakt zu den Medien zu suchen: Welche Rolle spielen Informationen über Arbeitsbedingungen und -konflikte für die Legitimation der KP?

Wie ich bereits gesagt habe, setzten viele ArbeiterInnen Hoffnung in den Staat. Daher vertreten sie die Ansicht, dass die Zentralregierung oder zumindest die Provinzregierung durch die mediale Berichterstattung auf ihre Probleme aufmerksam gemacht werden könne, und diese in der Folge intervenieren bzw. die ArbeiterInnen in ihren Forderungen unterstützen würden. Die Versuche, Kontakte zu den Medien herzustellen, zielen folglich in erster Linie darauf ab, die Aufmerksamkeit höherer Regierungsebenen zu erlangen. Diese sollen der lokalen Bezirksregierung Anweisungen zu Verhandlungen mit der Firma geben. Der Großteil der somit unter Druck gesetzten Betriebe macht schließlich auch gewisse Zugeständnisse gegenüber den ArbeiterInnen.

Welches Verhältnis haben junge Arbeiterinnen heute zur chinesischen Geschichte? Was denken sie über die Revolution von 1949 oder die Kulturrevolution?

Sie haben ein sehr geringes Geschichtsbewusstsein. Die meisten Arbeiterinnen hatten keine Gelegenheit, etwas darüber zu lernen, und sie wissen daher auch sehr wenig über die Kulturrevolution. Informationen erhalten sie am ehesten noch über das Fernsehen, aber in ihren Schulen existiert keine systematische Auseinandersetzung mit der Geschichte.

Meiner Erfahrung nach wird die Kulturrevolution von ihnen selten erwähnt. Es ist eben nicht so wie unter Intellektuellen, die während der Periode der Kulturrevolution negativere Erfahrungen gemacht haben. In Bauern- und Arbeiterfamilien hatte die Kulturrevolution einen geringeren Einfluss, daher sprechen sie auch weniger darüber. Ich meine, die jüngere Generation weiß nichts darüber. Um die Kulturrevolution zu thematisieren, braucht es deshalb gewöhnlich jemanden von außerhalb, der etwas darüber weiß. Ich meine, die dagongzai, [8] die männlichen Wanderarbeiter, interessieren sich noch eher für die Geschichte, besonders für den militärischen Aspekt der Revolution. Sie sprechen gerne vom Krieg zwischen der KP und den NationalistInnen, und darüber wie es gelang, diesen zu gewinnen. Als ich in der Fabrik war, habe ich viele derartige Gespräche unter den Arbeitern miterlebt. Allerdings nichts bezüglich der Kulturrevolution …

Seit einigen Jahren gibt es Lockerungen im hukou-System. Die Forderung nach dessen Abschaffung und nach Niederlassungsfreiheit würde sich als fabrik- und regionenübergreifende Initiative anbieten. Aufgrund der starken Repression und der dezentralen Verwaltung des Systems scheint es aber schwierig, öffentlich eine solche Kampagne zu lancieren. Dennoch: Existieren Versuche in diese Richtung?

In den letzten zehn Jahren gibt es immer wieder Forderungen nach einer Lockerung der hukou-Kontrolle. Die hinter den Forderungen stehenden sozialen Kräfte beschränken sich auf die Elite der MigrantInnen, die sich bereits in den Städten niedergelassen hat und der dort auch mehr Sympathie entgegengebracht wird. Sie treten dafür ein, dass diese Elite einen legalen Status, das Recht in der Stadt zu bleiben, erhält. Ich würde daher sagen, diese Forderungen kommen von der Mittelklasse und nicht wirklich von der Arbeiterklasse der MigrantInnen. Die Kampagne ist also gegenwärtig noch sehr stark an der Mittelklasse orientiert, wobei es eigentlich gar keine wirkliche Kampagne ist. Die Forderungen laufen über die Medien, um Druck auf die Zentralregierung für eine Aufhebung des hukou-Systems auszuüben. Wie ihr schon gesagt habt, besteht die Schwierigkeit allgemein jedoch darin, dass das System sehr dezentralisiert ist und lokale Stadtregierungen kein Interesse haben, etwas zu verändern. Deshalb sehe ich dahingehend auch in naher Zukunft kein großes Potential.

Die Rolle von Verwandtschaftsnetzwerken tritt in den Erzählungen als zentral für die Wanderungen der dagongmei in die Städte auf. Welche Bedeutung siehst du in diesen Netzwerken für die Selbstorganisierung in den Fabrikwohnheimen und den Widerstand der jungen Arbeiterinnen?

Ja, sie sind wirklich sehr wichtig, da sich die Arbeiterinnen über diese Netzwerke organisieren und gegenseitig helfen. Besonders in schwierigen Zeiten stützen sie sich auf die Netzwerke, so zum Beispiel wenn sie auf der Suche nach einem neuen Job sind oder Geld benötigen, weil jemand aus dem Heimatdorf krank wurde. Deshalb würde ich sagen, dass diese Netzwerke sehr einflussreich sind und auch eine Vertrauensbasis schaffen. Die Arbeiterinnen vertrauen niemandem, außer ihrem eigenen Verwandtschaftsnetzwerk. Wenn dort beispielsweise der Entschluss zu einem Streik gefällt wird, dann schließen sich diesem alle an.

Meinst du nicht, dass diese Verwandtschaftsnetzwerke auch zu Brüchen und Spaltungen hinsichtlich kollektiver Kämpfe führen können, weil Arbeiterinnen aus einer Region nicht mit solchen aus anderen Regionen zusammenarbeiten wollen?

Ja, das ist immer der Fall. Ich würde sagen, dass es normalerweise sehr starke Spaltungen gibt, die Differenzen jedoch bei Streiks durch gemeinsame Interessen kurzfristig überwunden werden können. Es hängt wirklich davon ab, ob alle Arbeiterinnen, ungeachtet der jeweiligen Herkunft, gewisse Forderungen, wie z.B. nach einer Lohnerhöhung, teilen. Wenn das eintritt, dann handeln sie auch über die verwandtschaftlichen Spaltungen hinweg. An gewöhnlichen Tagen bleiben sie allerdings getrennt, wobei man dazu sagen muss, dass diese Verwandtschaftsnetzwerke mit etwa 100 Personen sehr groß sein können.

Mittlerweile gibt es immer mehr AutorInnen, die auf den zahlenmäßigen Rückgang der WanderarbeiterInnen im Perflussdelta verweisen, und im so genannten „Abstimmen mit Füßen“ (d.h. das Verlassen der Arbeitsstätte) eine wichtige Form des Widerstands gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen verorten. Andererseits scheint dies zum Beispiel im Jangste-Delta und in der Region Beijing-Tianjin kaum eine Rolle zu spielen. Wie schätzt du die Möglichkeiten ein, damit längerfristig Druck auf die Betriebe auszuüben?

Sie üben bereits einigen Druck auf die Betriebe aus, da der Großteil der ArbeiterInnen nicht wirklich lange in einem Betrieb oder einer Fabrik bleibt. Die meisten ArbeiterInnen, auch jene, die in Beijing oder Tianjin arbeiten, bleiben nach meiner Erfahrung nur für ein paar Monate, niemand bleibt für mehrere Jahre. Diejenigen, die mehrere Jahre in ein und demselben Betrieb arbeiten wollen, gehören zum Management-Personal.

Ich würde sagen, dass es auf lange Sicht nicht unbedingt ein Vorteil ist, da es zu keiner Akkumulation der Macht der ArbeiterInnen kommen kann. Wenn die ArbeiterInnen Macht erlangen wollen, dann bedeutet das, dass sie lange genug an einem Ort bleiben müssen, um ein größeres Netzwerk aufzubauen. Es braucht zumindest ein Netzwerk von ArbeiterInnen, um wirklich mit der Betriebsleitung verhandeln zu können.

Und umgekehrt, wie beurteilst du den Standortwechsel von Betrieben? Gibt es bereits viele Unternehmen, die ihre Fabriken z.B. aus dem Perflussdelta ins Innere und in den Westen Chinas verlagern?

Ja, seit Beginn dieses Jahres gibt es bereits massive Verlagerungen aus dem Perflussdelta. Viele Fabriken wandern nach Jiangxi oder Guangxi, da diese beiden Regionen nicht wirklich entwickelt sind, jedoch seit etwa zwei Jahren versucht wird, schnell in der Entwicklung aufzuholen. Der Lohn kann dort um ein Drittel niedriger sein als in Shenzhen und im gesamten Perflussdelta. Die Verlagerungen stellen einen Versuch des Kapitals dar, dem neuen Arbeitsvertragsgesetz [9] zu entkommen, denn das neue Gesetz wird in den Zonen der Exportindustrie um einiges schärfer implementiert als in Jiangxi oder den inneren Regionen.

Das neue Arbeitsvertragsgesetz, das du eben erwähnt hast, ist im Jänner 2008 in Kraft getreten. Welche anderen konkreten Auswirkungen kannst du bisher feststellen?

Bis dato hat es negative Auswirkungen, d. h. mehr Unternehmen entlassen ArbeiterInnen, vor allem ArbeiterInnen, die an die zehn Jahre beschäftigt sind. Nach zehn Jahren werden die ArbeiterInnen Teil der Stammbelegschaft. Deshalb entlassen sie ArbeiterInnen, die acht oder neun Jahre beschäftigt sind.

Die zweite negative Auswirkung ist, dass die Unternehmen ArbeiterInnen nicht mehr direkt, sondern über eine Arbeitsvermittlungsagentur einstellen. Das ist ein Weg, die direkte Beziehung Arbeit-Kapital zu vermeiden. Diese Arbeitsvermittlungsagenturen schießen aus dem Boden. Soweit die negativen Konsequenzen.

Auf die Dauer jedoch wird das neue Arbeitsvertragsgesetz auch positive Auswirkungen haben. Mehr ArbeiterInnen werden sich den genauen Inhalt des neuen Arbeitsvertragsgesetzes aneignen und wenn sie sich damit vertraut machen, wird es ihnen möglich sein, das Unternehmen zu verklagen und Entschädigungen einzufordern. Längerfristig wird das neue Arbeitsvertragsgesetz wichtig sein, da es Strafen vorsieht für Unternehmen, die sich nicht an dessen Bestimmungen halten. Wenn die ArbeiterInnen also lernen, so können sie dieses Gesetz als Werkzeug für ihren Kampf nutzen, noch nicht jetzt, wie gesagt, aber auf längere Sicht gesehen.

Wir beobachten im Perlflussdelta in allen Sektoren eine Zunahme an arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen. Aber im Ganzen gesehen würde ich sagen, dass dieses Gesetz in der Bauindustrie und im Dienstleistungssektor größere Auswirkungen haben wird, denn es ist nationales Recht und gilt für alle Industriesektoren. Diese beiden Industrien sind hinsichtlich der Anzahl der ArbeiterInnen bedeutend, es werden jedoch selten Arbeitsverträge mit den ArbeiterInnen unterzeichnet. In den Fabriken hingegen haben mehr als 50 Prozent der ArbeiterInnen Arbeitsverträge. Wenn die ArbeiterInnen sich mit den Bestimmungen dieses Gesetzes vertraut machen, so kann es ein machtvolles Instrument werden.

Und das ist der Grund dafür, dass das neue Gesetz z.B. im Perlflussdelta größere Auswirkungen hat, wie du vorher bereits erwähnt hast, es geht hier um den Sektor der Arbeit und nicht um die Kontrolle durch die Zentralregierung …

In den Fabriken haben die ArbeiterInnen bereits eine lange Geschichte von Kämpfen und der Großteil der ArbeiterInnen verfügt bereits über eine juristische Grundkenntnis ihrer Rechte, in Beijing oder Tianjin jedoch haben die ArbeiterInnen weniger juristische Kenntnisse und daher auch weniger Ahnung von ihren Rechten. Die NGOs, die sich mit Arbeit und Arbeitsrecht befassen, werden also Zeit brauchen, um den ArbeiterInnen die gesetzliche Lage und ihre Rechte zu vermitteln. Wenn sie dabei vorsichtig vorgehen, ist das möglich, denn sie vermitteln ja nur den Inhalt von Gesetzen, die von der Regierung erlassen wurden.

Wenn du sagst, die ArbeiterInnen in der Bauindustrie und im Dienstleistungssektor wissen weniger über ihre gesetzlichen Rechte, wie denkst dann über die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches auf dem Land in den Herkunftsdörfern? Denn auch wenn sie in verschiedenen Sektoren arbeiten, wenn sie zurück aufs Land gehen, dann haben sie die Möglichkeit, ihre Erfahrungen auszutauschen und auch über ihre gesetzlichen Rechte zu sprechen.

Sicherlich, die ArbeiterInnen lernen immer auf dem Land voneinander, es existiert jedoch auch eine Pfadabhängigkeit. Das bedeutet, dass ArbeiterInnen eines Dorfes in einen bestimmten Industriesektor arbeiten gehen und andere ArbeiterInnen aus demselben Dorf folgen ihnen, so dass hier eine bestimmte Pfadkontrolle, eine Pfadabhängigkeit besteht. Es ist nicht gemischt, normalerweise gibt es in einem Dorf zwei oder drei Sektoren, z.B. gehen die Männer auf Baustellen in Bejing und die Frauen nach Shanghai oder in andere Städte. Ein Dorf hat ungefähr 1000 EinwohnerInnen, das schafft eine gewisse Begrenzung in sich selbst für die Anzahl der Sektoren.

Bisher bleiben die Kämpfe der WanderarbeiterInnen meist lokal beschränkt. Darüber hinaus scheinen deren Auseinandersetzungen von Protesten der freigestellten ArbeiterInnen aus staatlichen Betrieben getrennt zu bleiben. Siehst du dennoch ein Potential für zukünftige Zusammenschlüsse der Kämpfe?

Ja, längerfristig gesehen würde ich sagen, dass hier schließlich einiges zusammenlaufen wird. Vor allem, da nach der Reform in den staatlichen Betrieben die Rekrutierung von neuem Personal beginnt und sie werden WanderarbeiterInnen in den staatlichen Betrieben einstellen. Langfristig gesehen werden die ArbeiterInnen in diesem Sektor die gleichen Interessen teilen wie die WanderarbeiterInnen in den Betrieben, die sich in ausländischem Besitz befinden. Aber meiner Meinung nach geht es hier nicht um die Verbindung zu den entlassenen (freigestellten) ArbeiterInnen, denn diese sind bereits weg, es geht hier um die neue Belegschaft, um die neue Arbeitskraft.

Im Buch „Made in China“ [10] argumentierst du, dass die Aushöhlung des Klassenbegriffs in der Mao-Ära und dessen Marginalisierung seit den 1980er Jahren im hegemonialen Modernisierungsdiskurs entscheidende Auswirkungen sowohl auf staatliche Politik und institutionelle Kontrollen hinsichtlich Fragen der Arbeitsverhältnisse, als auch auf den Entstehungsprozess der neuen ArbeiterInnenklasse hat. Kannst du dieses Verhältnis kurz skizzieren?

Wenn ich kritisiere, dass die Klassenanalyse in China ausgehöhlt wurde und diesen Diskurs führe, so spreche ich im Wesentlichen zu den Intellektuellen. Es wird versucht, diese ganze Frage außer Acht zu lassen. Aber wenn wir die strukturelle Basis des heutigen Chinas betrachten, so ist China bereits eine Weltfabrik geworden.

Für uns liegt es auf der Hand, dass eine neue ArbeiterInnenklasse im Entstehen ist, denn es gibt bestimmte Veränderungen in der Gesellschaft und offensichtlich haben wir diese neue ArbeiterInnenklasse. Wenn du diesen Punkt nicht zur Kenntnis nehmen willst, wenn du es nicht wirklich zulässt, dass die Probleme artikuliert werden, und niemanden wirklich darüber diskutieren lässt, dann wird das zu vermehrten sozialen Krisen führen, denn da gibt es viel Unzufriedenheit, viel Wut, die Gesellschaft lässt ihnen nicht wirklich einen Ausweg. Wenn ihnen z. B. keine Möglichkeit zur Selbstorganisierung gelassen wird und keine wirklich demokratische Gewerkschaft zugelassen wird, in der Mitbestimmung durch die ArbeiterInnen möglich ist, führt das nur dazu, dass der Druck steigt. Und am Ende entstehen Aufstände und so besteht mein Projekt im Wesentlichen darin, die Klassenanalyse zurück nach China zu bringen und mehr Raum für die ArbeiterInnen selbst zu öffnen. Und letztlich, dass die Menschen die Existenz dieser neuen ArbeiterInnenklasse zur Kenntnis nehmen, denn manche denken, sie sind WanderarbeiterInnen, wenn wir sie brauchen, dann kommen sie, und wenn wir sie nicht brauchen, dann schicken wir sie einfach zurück. In den letzten 30 Jahren machen wir es so, wir brauchen sie und danach, wenn wir sie nicht mehr brauchen, schicken wir sie zurück.

Mein Argument bezüglich der Klasse ist, wenn du dir nicht wirklich den Prozess der Proletarisierung ansiehst, wenn du nicht wirklich hinein siehst in die Herausbildung der ArbeiterInnenklasse, dann hast du diese Vorstellung, dass du von ihnen verlangen kannst, zurück zu gehen aufs Land. Meine Argumentation läuft darauf hinaus, dass das unmöglich ist, vor allem für die zweite oder sogar dritte Generation der WanderarbeiterInnen. Du kannst nicht von ihnen verlangen zu kommen und zu gehen, sie werden bleiben und um ihre Rechte kämpfen. Ich finde das unvernünftig, wir müssen uns darauf vorbereiten. Und so arbeite ich daran, dass es mehr intellektuelles Interesse an dieser Frage gibt.

In der Realität existieren die ArbeiterInnen immer, auch ohne dass ich oder andere die Frage der Klasse thematisieren, die Klasse selbst existiert immer. Eines Tages werden sie sich von der Klasse an sich in die Klasse für sich verwandeln, das lernen wir aus der Geschichte. Aber das Problem in China ist, dass es so wenig Sympathie für diese neue ArbeiterInnenklasse gibt. Es existiert noch keine Verbindung zwischen der ArbeiterInnenklasse und den Intellektuellen. Das ist sehr aufgespalten, nicht viele Intellektuelle interessieren sich dafür.

Im Kapitel „Sozialer Körper, Kunst der Disziplin und Widerstand” verwendest du den Begriff des „Imagineering” als Technik der Macht. Kannst du uns diesen Begriff etwas näher erklären?

In Wirklichkeit ist die Macht gar nicht so stark, so mächtig wie in unserer Vorstellung. Die Macht – speziell am Arbeitsplatz – ist das Fließband, die Organisation der Fertigungsbänder. Um eine effektive Produktion zu erreichen, ist die Zustimmung der ArbeiterInnen notwendig. Für diese Zustimmung ist es nötig, dass die ArbeiterInnen die Vorstellung haben, dass du mächtig bist. Die Vorstellung, dass du weißt, wie die Arbeit zu planen ist, wie sie möglichst effektiv, möglichst systematisch organisiert werden muss, so dass am Ende jeder davon profitieren wird. Für die Zustimmung der ArbeiterInnen ist die Vorstellung wichtig, dass alle einen Vorteil daraus ziehen, wenn sie bereitwillig ihr Arbeitsvermögen verausgaben, ihre Arbeitskraft dem Fertigungsband geben. Also besteht die Technik der Macht aus imagination und engineering, der Kombination zweier Begriffe, imagineering …

Kannst du vielleicht ein konkreteres Beispiel dafür geben, wie diese Technik der Macht funktioniert? Was bedeutet Imagineering in den Fabriken, wie wird dieses Bild geschaffen?

Die Anordnung jedes Fertigungsbandes zum Beispiel. Jeden Tag wird eine Sollvorgabe festgesetzt und auf eine Tafel geschrieben, die geschafft werden muss. Das ist die Vorgabe des Managements, des Vorarbeiters, und am Ende des Tages wird eine andere Zahl – das Pensum, das vom Fertigungsband geschafft wurde – auf die Tafel geschrieben. Die verschiedenen Fertigungsbänder produzieren die gleichen Produkte, die täglichen Produktionsergebnisse werden auf den Tafeln notiert, um Wettbewerb, um Konkurrenz zu schaffen. So kann verglichen werden, welches Fertigungsband das bessere Management hat. Schritt für Schritt wird jedes Detail kontrolliert, so dass kein Rohmaterial und keine Zeit verschwendet werden. Es steckt also sehr viel Macht in der Organisation all dieser Fertigungsbänder.

Am Ende ist das Produkt, das du herstellst, viel besser als das des zweiten Bandes und so wird das zweite Band aufgrund der Konkurrenz zwischen den Bändern am nächsten Tag eine bessere Leistung erbringen. Auf diese Art werden die ArbeiterInnen dazu gebracht, so schnell zu arbeiten, denn jeden Tag arbeitest du schneller als am vorherigen. Du musst die Leute dazu kriegen sich vorzustellen, dass sie schneller arbeiten können als das nächste Band, dass sie mehr arbeiten können und am Ende mehr Geld verdienen können, und das gilt nicht für die einzelnen ArbeiterInnen, sondern für das ganze Fertigungsband. An jedem Fertigungsband arbeiten 20 bis 25 ArbeiterInnen, es ist wirklich schwierig 25 ArbeiterInnen zur gleichen Zeit und im gleichen Tempo zu kontrollieren, so brauchst du wirklich diese Art von Kontrolle.

Das führt uns zu unserer nächsten Frage: Du schreibst auch über den Widerspruch zwischen der industriellen Zeit des Fabrikregimes und der biologischen Zeit der jungen Frauen, sowie damit in Zusammenhang vom kapitalistischen Bild des faulen, sozialistischen Körpers, der erst zur Konkurrenz gedrillt werden müsse. Im Mittelpunkt stehe ein vorherrschender „Zeit ist Geld“-Diskurs, der zur Selbsttechnologisierung der Arbeiterinnen führe. Es ist nun schon einige Jahre her, dass du in der Meteor-Fabrik gearbeitet hast. Inwieweit ist diese Erziehung zu „Zeit ist Geld“ gelungen?

Ja und Nein. Ja, denn die ArbeiterInnen leben unter diesem System, dieser Art von Disziplin, sie wissen alle, dass Zeit wirklich Geld ist, denn sie werden dazu angetrieben, so schnell wie möglich zu arbeiten. Nein, da sie wissen, dass das Geld nicht ihr Geld ist, das Geld geht zu den Kapitalisten, das ist es, was die Arbeiterinnen momentan lernen. Das Arbeitstempo, die Arbeitszeiten, sie kontrollieren deine Gewohnheiten, deinen eigenen Körper und verlangen, dass du dich an die Fertigungsbänder anpasst, an die Fertigkeit, die du dort lernst, an diese Art des Arbeitssystems, dass du deinen Körper in die ganze Produktionsmaschine einfügst. Sie wissen, Zeit ist so wichtig, sie lassen dich nicht faul sein, sie lassen dich nicht oft auf die Toilette gehen, denn alles dreht sich um die Zeit. Die ArbeiterInnen essen so schnell, normalerweise ist eine halbe Stunde Zeit für das Mittagessen, aber die ArbeiterInnen brauchen nur zehn oder 15 Minuten, denn sie wollen mehr Zeit für eine kleine Pause, um sich auszurasten, so gehen die meisten von ihnen zurück zu ihrem Arbeitsplatz, um ein bisschen zu schlafen.

Sicherlich, der größte Teil des Geldes geht in die Tasche des Chefs, ein kleiner Teil jedoch geht in die eigene Tasche. Warum wollen die ArbeiterInnen in China immer Überstunden machen? Im Management ist es allgemein üblich zu sagen, dass die ArbeiterInnen länger arbeiten wollen. Du bestehst darauf, dass sie das Recht haben, nicht so lange zu arbeiten, die ArbeiterInnen fragen jedoch nach mehr Arbeit. Für mich ist der Grund offensichtlich, die Unternehmer bezahlen ihnen zu wenig, deshalb müssen sie so lang wie möglich arbeiten, aber sie wissen auch, dass der Boss um so mehr verdient, je länger sie arbeiten.

Dein Buch vermittelt jedoch mehr den Eindruck, dass das nicht so gut funktioniert, dass eine biologische Zeit und eine industrielle Zeit existieren, die nicht so gut zusammengehen, besonders für Frauen.

Ja, das ist der theoretische Zugang, wir sprechen hier über den Zeitsinn, über die Art der Zeitwahrnehmung, die industrielle Zeit dringt wirklich in ihren Körper ein. Aber die Arbeiterinnen wissen auch, dass das Geld nicht ihnen gehört, sondern dem Kapital, das ist völlig klar. Ich habe versucht hervorzuheben, dass der weibliche Körper nur sehr schwer in die industrielle Zeit hinein passt, denn die Frauen haben den Menstruationszyklus, die Frauen arbeiten entsprechend ihrer psychischen Belastung. Sie brauchen mehr Zeit für Pausen, um sich auszurasten, besonders während der Menstruation. Das ist eine Art natürlicher Widerstand gegen die industrielle Zeit, das habe ich versucht in dem Buch herauszuarbeiten.

Du beziehst dich sehr stark auf den Körper, wenn du über Arbeit sprichst ...

Die Produktion braucht wirklich ein gewisses Maß an Zustimmung der ArbeiterInnen, wenn sie deren Arbeit haben wollen. Nach Karl Marx sind Arbeit und Arbeitsvermögen zwei verschiedene Begriffe. [11] Wenn du die Arbeit willst, wenn du willst, dass die ArbeiterInnen ihre Arbeitskraft verausgaben, musst du Anreize schaffen, du musst ihr Einverständnis gewinnen. Es ist eine gute Sache, dass Arbeit nicht das gleiche ist wie Arbeitskraft. Dieser Widerspruch, diese Differenz, diese Brüche schaffen etwas Raum für die Arbeit (ArbeiterInnen), denn der arbeitende Körper ist nicht ident mit dem Arbeitsvermögen, der arbeitende Körper kann widerständig sein gegen zu viel Verausgabung von Arbeitsvermögen für das Kapital. Wenn jedoch diese beiden Begriffe in eins gesetzt werden, dann gibt es keinen Ausweg, dann musst du deine Arbeitskraft immer an die Maschine, an die Produktionsmaschine verausgaben. Wenn jedoch da etwas Freiheit, eine Differenz, eine Kluft zwischen Arbeit und Arbeitsvermögen besteht, dann hast du zumindest einen kleinen Spielraum, speziell für Frauen.

Deshalb betone ich den Körper so stark, weil ich nicht möchte, dass Arbeit als abstrakter Begriff betrachtet wird, deshalb spreche ich immer von Arbeit und Körper, denn mit dem Körper kommt mehr Subjektivität ins Spiel, in Körpern gibt es auch Wünsche, einen Willen, sehr oft jedoch wird der Marxsche Begriff der Arbeit als sehr abstrakter Begriff behandelt.

Danke für das Gespräch!

Das Gespräch wurde geführt, transkribiert und übersetzt von Daniel Fuchs und Minimol.

[1Perflussdelta/Shenzhen: Das Perflussdelta liegt in der südchinesischen Provinz Guangdong und stellt mit den Städten Shenzhen und Dongguan das Zentrum der exportorientierten Industrie in China dar. Die Stadt Shenzhen wurde im Jahr 1980 zur ersten der bis dato insgesamt fünf Sonderwirtschaftszonen ernannt und entwickelte sich zum bedeutendsten Ort für ausländische Direktinvestitionen. Die Einwohnerzahl von Shenzhen wird auf insgesamt 12 Millionen geschätzt, wovon etwa drei Viertel WanderarbeiterInnen sind.

[2dagongmei: Als dagongmei werden jene großteils 18- bis 25-jährigen Frauen bezeichnet, die in den chinesischen Exportproduktionszonen die Mehrheit der innerhalb Chinas insgesamt auf die Zahl von 150 bis 200 Millionen geschätzten ArbeitsmigrantInnen darstellen. Für Pun Ngai deutet die Bezeichnung dagongmei auf die Entstehung neuer proletarischer Subjekte in China, die in einem deutlichen Gegensatz zu den gongren („ArbeiterInnen“) der Mao-Ära stehen. Der im chinesischen Sprachgebrauch seit etwa 20 Jahren gängige Begriff dagong („für den Boss arbeiten“) verweist auf die Ausdehnung kapitalistischer Arbeitsbeziehungen; mei („kleine Schwester“) kennzeichnet den geschlechtspezifischen Charakter des Proletarisierungsprozesses. Pun Ngai begreift die dagongmei als einer „dreifachen Unterdrückung“ durch das globale Kapital, den chinesischen Staat und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen ausgesetzt.

[3hukou-System: Hauptgrund dafür ist das hukou-System. Das hukou-System (Haushaltsregistrierungssystem) stellt ein großes Hindernis für die dauerhafte Niederlassung von WanderarbeiterInnen in den Städten dar. Es wurde im Jahr 1958 in der Volksrepublik (VR) China landesweit und für alle Bevölkerungsgruppen geltend eingeführt. Damit wurden alle StaatsbürgerInnen registriert und in Personen mit agrarischem und nicht-agrarischem hukou-Status unterteilt. Da der Zugang zu staatlich subventionierten und kontrollierten Ressourcen wie Getreide, Sozialleistungen, Bildungseinrichtungen, Transport- und Wohnmöglichkeiten sowie gewissen Berufsfeldern an einen nicht-agrarischen bzw. lokalen hukou gekoppelt wurde, diente das System als effektives Mittel zur Einschränkung der Land-Stadt Migration und vergrößerte die sozioökonomische Kluft zwischen der ländlichen und städtischen Bevölkerung. Trotz einiger Reformen seit Mitte der 1980er Jahre sowie lokalen Maßnahmen in Richtung einer Abschaffung existiert das Haushaltsregistrierungssystem weiterhin. Für umfassende Darstellungen des Haushaltsregistrierungssystems vgl. Solinger, Dorothy J. (1999): Contesting Citizenship in Urban China. Peasant Migrants, the State, and the Logic of the Market. Berkely / Los Angeles / London: University of California Press; Fan, Cindy (2008): China on the Move. Migration, the State, and the Household. London: Routledge.

[4Ching Kwan Lee: Lee, Ching Kwan (2007): Against the Law. Labour Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt. Berkeley / Los Angeles / London: University of California Press.

[5Gewerkschaft/All-China Federation of Trade Unions (ACFTU): Der chinesische Gewerkschaftsbund All-China Federation of Trade Unions (ACFTU) wurde 1925 gegründet. Er ist die einzige legale Gewerkschaftsorganisation in der VR China und zählt aktuell 193 Millionen Mitglieder. Der Großteil dieser Mitglieder ist in staatlichen Betrieben beschäftigt, während der gewerkschaftliche Organisierungsgrad in ausländischen und privaten Unternehmen bis dato sehr gering geblieben ist. Aufgrund historischer und struktureller Verbindungen mit der KPCh gilt die ACFTU als ein ihr untergeordnetes Organ, welches bisher in erster Linie als Vertreter von Partei- bzw. Management-Interessen aufgetreten ist. Die Gründung autonomer Gewerkschaften ist verboten, dahingehende Versuche von ArbeiterInnen wurden bisher gewaltsam niedergeschlagen.

[6Anita Chan: Chan, Anita (2008): China’s Trade Unions in Corporatist Transition, in: Unger, Jonathan (Hg.): Associations and the Chinese State: Contested Spaces. Armonk, NY: M. E. Sharpe, 69-85; online unter http://rspas.anu.edu.au/ccc/pubs/chanBooks/3Chan.pdf.

[7Freigestellte ArbeiterInnen (xiagang): Die Umstrukturierung des staatlichen Wirtschaftssektors führte insbesondere seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu in ihrem Ausmaß beispiellosen Entlassungen von ArbeiterInnen aus staatlichen Betrieben. Die Regierung unterteilte die Entlassenen in unterschiedliche Kategorien, wobei u.a. zwischen so genannten „Freigestellten“ (xiagang) und formal Arbeitslosen differenziert wurde. Für freigestellte ArbeiterInnen galt, dass sie ein vertragliches Verhältnis zu ihrer Arbeitseinheit (danwei) aufrechterhalten, und einen Anspruch auf Arbeitsvermittlung sowie Sozialhilfe erlangen sollten. Zur Situation von ArbeiterInnen in staatlichen Betrieben vgl. Die unglückliche Arbeitergeneration. Lage und Proteste der städtischen ArbeiterInnen und Arbeitslosen, in: Unruhen in China. Beilage der Wildcat #80 - Dezember 2007, 35-42.

[8dagongzai: dagongzai (wörtlich: „arbeitender Sohn/Junge“) ist die geschlechtsspezifische Bezeichnung für männliche Wanderarbeiter.

[9Arbeitsvertragsgesetz: Mit 1. Jänner 2008 ist das Arbeitsvertragsgesetz in Kraft getreten. Zentrale Aspekte dieses neuen Gesetzes sind u.a. der für jedwede Lohnarbeit verpflichtende Abschluss von schriftlichen Arbeitsverträgen, der Abschluss unbefristeter Arbeitsverträge bei einem Beschäftigungsverhältnis von mehr als zehn Jahren sowie die Einschränkung von Probezeiten. Für kritische Analysen der bisherigen Umsetzung und der Auswirkungen des Arbeitsvertragsgesetzes vgl. IHLO: New Labour Contract Law: Myth and reality six months after implementation, unter http://www.ihlo.org/LRC/WC/270608.html; Dagongzhe-WanderarbeiterInnenzentrum: „Breaking or Taking the Law?“, Studie zur Umsetzung des Arbeitsvertragsgesetzes in China, erschienen unter http://www.labournet.de/internationales/cn/studie_lcl.html.

[10Made in China: Pun, Ngai (2005): Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace. Durham: Duke University Press. Pun Ngai analysiert in diesem Buch die Arbeitsbedingungen und den alltäglichen Widerstand der dagongmei anhand ethnographischer Aufzeichnungen aus der Elektronikfabrik „Meteor” in Shenzhen, in welcher sie von 1995 bis 1996 acht Monate lang arbeitete.

[11Arbeitsvermögen: „Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.“ (Karl Marx, Das Kapital 1. Band, MEW 23, 181) „... Arbeitskraft, die in der Persönlichkeit des Arbeiters existiert und von ihrer Funktion, der Arbeit, ebenso verschieden ist wie eine Maschine von ihren Operationen.“ (ebenda, 561)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
2008
, Seite 4
Autor/inn/en:

Minimol:

Daniel Fuchs:

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