MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 50
Reinhard Pitsch
Deutsche Frage:

Der nationale Nihilismus

Gegen die Altersverkalkung der deutschen Linken zieht dieser Beitrag zu Felde und meint damit die Position jener Intellektuellen, die die deutsche Einheit als quasifaschistische Bedrohung empfinden und die Adenauer-Politik des geteilten Deutschland verteidigen.

„Für uns ist das Fatale, daß ich in ferner Zukunft etwas sehe, was nach ‚Vaterlandsverrat‘ schmecken wird. Es wird sehr von der Wendung der Dinge in Berlin abhängen, ob wir nicht gezwungen werden, in ähnliche Positionen zu kommen wie in der alten Revolution die Mainzer Klubbisten.“ So schreibt Marx am 16.4.1856 an Engels, um die Problematik der Linken in jener Lage zu kennzeichnen, in der die Reaktion die „nationale Karte“ gegen sie spielen kann. Allerdings war sowohl der „Vaterlandsverrat“ der Mainzer Jakobiner 1793 wie auch die von Marx 1856 für möglich gehaltene progressivere Entwicklung der Rheinprovinzen und die dadurch mögliche Separatexistenz gegen den preußischen Staat (es gab damals noch keine staatliche Einheit Deutschlands) grundlegend von der jetzigen Situation verschieden. Umso schlimmer, wenn die Linke sich freiwillig in solche ‚fatale‘ Lage begibt.

Nachdem die Geschichte der deutschen Linken eine Geschichte ihrer Niederlage und nach dem Zusammenbruch der Mauer evident ist, daß hier und heute sozialistische und linke Ideen alles andere als mehrheitsfähig sind, auch und gerade in der von den Stalinisten betrogenen Arbeiterklasse, wenden sich manche wieder einem antideutschen Rassismus faschistischen Musters zu.

Die Popularität Nietzsches in der Linken, in der DDR wie in der DKP, wurde u.a. damit begründet, daß Nietzsche kein Antisemit (wohl aber Rassist, der die Chinesen zu Arbeitsameisen machen wollte), dafür jedoch Deutschenhasser gewesen sei. (W. Harich hat in einem Artikel in „Sinn und Form“, Nr. 5/1987 alles wichtige dazu gesagt). In der Zeitschrift „konkret“ feiern die Ideen eines Morgenthau, eines Robert Vansittart, eines Emil Ludwig fröhliche Urständ. Ludwig ist hier typisch: 1881 geboren, jüdischer Herkunft, konvertiert, rekonvertiert, in der Weimarer Republik fanatischer Deutschnationaler, deklarierter Bewunderer Mussolinis und des italienischen Faschismus, vertrat 1942 im New Yorker Exil eine Kollektivschuld „aller Deutschen“ — noch nicht an den erst später bekanntgewordenen KZ-Greueln, sondern am Krieg, und sprach sich für eine Zerschlagung Deutschlands aus.

Gremliza steht in dieser (antideutsch) rassistischen Tradition und leit-artikelt: „Ami stay here!“; Jan Philipp Reemtsma setzt einen drauf: „Don’t let them do it again, Uncle Sam!“. Als ob die amerikanische Bourgeoisie, die Helden von Napalm und der A-Bombe, die Völkerrechtsbrecher en suite, die Betreiber des Genozids (an den Indianern), aus ethischen Gründen Hitler bekämpft hätten! Als ob die amerikanische Bourgeoisie das Geschäft und die Interessen der Deutschen oder irgendeiner Linken (von Klassen wollen wir hier ebensowenig reden wie Gremliza) besorgte! Zu schwach, unfähig, der deutschen herrschenden Klasse Paroli zu bieten, setzt man auf deren Konkurrenten. Das soll links sein, denn der Arbeiter hat bekanntlich kein Vaterland.

Allerdings: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Doch schon, daß der Feind meines Feindes mein Freund sei, ist ein falscher Satz; er kann höchstens mein Verbündeter (Alliierter) sein. Übrigens ist der (Klassen-)Feind des Arbeiters die Bourgeoisie(klasse). Es ist eine pseudomarxistische, linksradikale falsche Konkretisierung, die Bourgeoisie eines gegebenen Landes zum Hauptfeind einer gegebenen Arbeiterklasse zu machen — so ist der Hauptfeind der Arbeiter eines (halb)kolonialen Landes nicht die eigene (Kompradoren-)Bourgeoisie, sondern die koloniale. Nicht einmal im Falle eines Krieges zwischen zwei oder mehreren ‚gleichentwickelten‘ Nationalbourgeoisien ist der Feind meines Feindes mein Freund — Karl Liebknecht hätte sich sonst zur légion étrangère gemeldet.

Linke als bürgerliche Realpolitiker

Das allerdings sahen die nationalen Nihilisten in der deutschen Linken bereits in der Weimarer Republik nicht. Heute wiederholt ein Großteil der Linken die Propagandathese von der deutschen Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg („In dieser Zeit hat der Staat Deutschland zweimal einen Krieg um die Weltmacht geführt, ist schuldig geworden am Tode von Abermillionen von Menschen ...“, Jan Philipp Reemtsma, „konkret“ 1/1990; ebenso alle anderen Autoren dieses Blattes). Was alle marxistischen Linken, die Kommunistische Internationale, alle vernünftigen Künstler überall wußten: daß der erste imperialistische Weltkrieg von allen beteiligten Mächten (d.h. ihren herrschenden Klassen) gewünscht und folglich verantwortet wurde; daß der folgende Raubfrieden von Versailles der französischen und britischen Imperialisten Deutschland zur Halbkolonie machte; daß die Propagandalüge der „deutschen Kriegsschuld“ die Ausplünderung der deutschen Bevölkerung als Ganzes rechtfertigen sollte; daß Widerstand gegen die französische Soldateska im Ruhrgebiet nicht nur im nationalen, sondern auch im Interesse der Arbeiter richtig und notwendig war (Radeks Schlageter-Rede) — das alles will man heute nicht mehr wissen.

Bonn gegen Berlin, Wien gegen Berlin, München gegen Berlin usf. — auf diese Denunziation der vermeintlichen Hauptstadt des Preußentums reduzierte sich oft die Politik der deutschen Linken. Das spießbürgerliche Ressentiment gegen die Großstadt erschien plötzlich progressiv. Zu Unrecht, Berlin ist nämlich nicht bloß die preußische Hauptstadt — das war Potsdam, die Kleinstadt —, sondern das eigentlich zivilisierende Moment Deutschlands, deutsches Korrelat zur Funktion von Paris für Frankreich. In der Weimarer Republik wurde das noch von linken Intellektuellen gesehen (Heinrich Manns Essay 1926).

Aber das antinationale Interesse des rheinischen Großkapitals setzte sich nach 1945 mit der Westeingliederung der BRD durch: Hierbei wurde ideologisch auf rheinisch-katholische-antipreußische Sentiments zurückgegriffen, die bayrischerseits gern aufgenommen wurden; der nord- und südwestdeutsche Protestantismus konnte sich leicht anschließen. Es zeugte von der Orientierungslosigkeit der deutschen Linken, daß sie dieses Konstrukt einer staatlichen Einheit mit dem Zentrum Bonn verinnerlichte. Die deutsche Bourgeoisie errang einen doppelten Sieg: Ökonomisch-politisch setzte sie ihr konkretes Interesse in einer konkreten Situation durch — was über die „europäische Integration“ zur herrschenden Stellung in Westeuropa führte. Politisch-ideologisch wurde die desorientierte Linke zum schärfsten Verteidiger des realkapitalistischen Ist-Zustandes, den sie als unveränderlich, als längerfristiges Ergebnis deutscher Geschichte sah — und pseudohegelianisch feierte.

Ironie des deutschen Geistes: der ideologische Nebel bürgerlicher Realpolitik wurde kritiklos von der Linken übernommen, und wenn — wie jetzt — die nationale Frage wieder aktuell wird, so ist die Linke Verteidigerin des Status quo, also konservativ. Alle Initiative verbleibt der deutschen Bourgeoisie; den konkurrierenden Bourgeoisien und der deutschen Linken hingegen konservatives Re-Agieren, ersteren aus Interesse, zweiteren hingegen nur aus selbstverschuldeter Hilflosigkeit. Der deutsche Arbeiter in Ost und West sieht freilich sehr wohl, daß die deutsche Linke — wie in der Weimarer Republik die nationalen Nihilisten — das Interesse der konkurrierenden Bourgeoisien vertritt, denn er denkt in Interessen, nicht in Ideologemen.

Sozialismus in einem halben Land

Mag sein, daß aus scheinbar ehrsamen Motiven die fernere Vergangenheit durch die Brille der näheren Vergangenheit des Faschismus gesehen wird. Dies wäre jedoch doppelt fatal. Denn 1. führte die Politik der heute so geliebten Nichtmarxisten und nationalen Nihilisten Kraus, Tucholsky und Ossietzky u.a. dazu, das unter der französischen Ausplünderung leidende Volk den Rechten und Faschisten in die Hände zu treiben und deren nationale Demagogie zu unterstützen. Und 2. war der Faschismus nicht Endpunkt der Geschichte. Es gab eine sowjetische Deutschlandpolitik, auch eine der SED, und es besteht gerade kein „Kausalzusammenhang von deutscher Vergangenheit und deutscher Gegenwart“, wie dies „konkret“-Redakteur W. Schneider in der Februarnummer postuliert. Einen kausalen, also Wenn-Dann Zusammenhang von (wenn auch entfernter) Ursache und Wirkung zu setzen, heißt nichts anderes, als Adenauer gegen die Sowjetunion recht zu geben und die Bonner Provinzposeure zu Verwirklichern des Weltgeistes zu adeln, indem post festum unterstellt wird, es hätte keine Alternative zu dieser ‚Folge‘ gegeben.

Nationale Nihilisten lebten nicht nur in der Weimarer Republik und leben nicht nur in der BRD — auch die DDR ist Erbe dieser Tradition. Weil richtige Deutschlandpolitik nicht durchzusetzen war — der nationale Verrat Adenauers verhinderte dies —, wurde aus taktischer Not eine strategische Tugend gemacht, der Sozialismus in einem halben Land aufgebaut und gleich eine ‚sozialistische‘ Nation dazu geschaffen. Diese Verwechslung/Gleichsetzung von Taktik und Strategie ist für Lukács („Demokratisierung heute und morgen“) Wesensmerkmal des Stalinismus, des „Marxismus der ersten Sekretäre“. Er verweist auf den schweren Fehler der Komintern während des Hitler-Stalin-Pakts, als taktische Außenpolitik der Sowjetunion auf die Höhe strategischer Prinzipien gehoben wurde (Gleichbewertung des faschistischen Deutschland und Frankreichs).

Diese antimarxistische Pseudotheorie des Sozialismus in einem (halben) Land hatte verheerende Folgen, jedoch die übelsten offenbaren sich jetzt, in der DDR wie überall im Osten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen — dieser Grundsatz gilt offensichtlich in der BRD mehr als in der DDR, wo zudem der Lebensstandard, der ja gerade von den deutschen Halblandsozialisten immer wieder als Maßstab deklariert wurde, sich als weit niedriger herausstellte. Andere Werte wurden entweder ebenso verlogen-demagogisch propagiert und folglich nicht enstgenommen (Antifaschismus) oder ignoriert (Ökologie, Ausplünderung der Rohstoffmärkte der „Dritten Welt“).

Davon, daß die deutsche Arbeiterklasse anders als die der westalliierten Länder den Krieg 1918 mit einer Revolution abschloß, daß die KPD die größte kommunistische Partei in Europa war, vom Widerstandskampf deutscher Kommunisten, davon, daß die grundfalsche Kominternpolitik des „Sozialfaschismus“ ebenso wie der nationale Nihilismus wesentlich zu Hitlers Machtergreifung beitrugen —, davon will man in diesen Kreisen nichts wissen. Jetzt ist die deutsche Frage wieder offen: und realistisch versucht Modrow das Mögliche zu erhalten: Neutralisierung, Austritt der BRD aus der NATO. Besser wäre es, die vergesellschafteten Produktivkräfte der DDR als solche zu erhalten; doch wer das Mögliche zugunsten nichtverwirklichbaren Besseren verwirft, ist ein schlechter Politiker. Der „Sozialismus“ ist vollständig diskreditiert. Alle Anstrengungen der deutschen Linken sollten der Neutralisierung der deutschen herrschenden Klasse gelten.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1990
, Seite 38
Autor/inn/en:

Reinhard Pitsch: Philosoph und Lehrbeauftragter an der Uni Wien.

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