Context XXI » Print » Jahrgang 2002 » Heft 3-4/2002
Mary Kreutzer

„Der Auslandsdeutsche kann nichts anderes sein als Nationalsozialist!“*

Deutsch-österreichischer Faschismus in Guatemala

In einem Klima nationalistischer Großmachtträume, wirtschaftlicher Expansion und bürgerlicher Sozialistenfurcht gedieh in Deutschland der Traum von einem deutschen Weltreich, der von Anfang an untrennbar mit Kolonialismus, Ausbeutung, Volksgemeinschaft, Antisemitismus und Rassismus verbunden war. Die deutsche Gemeinde kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Guatemala und übt seitdem einen bedeutenden wirtschaftlichen, politischen, ideologischen, sozialen und kulturellen Einfluss im Land aus. Die Gründe der massiven Auswanderung nach Amerika waren u.a. die Verwandlung der Agrarstaaten mit einigen industriellen Zentren in kapitalistische Industriestaaten mit dem Drang nach wirtschaftlicher Expansion und die gescheiterte Revolution von 1848. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Forscher und Naturwissenschafter nach Lateinamerika entsendet, Konsulate eingerichtet, Handelshäuser und Gesellschaften gegründet, die für deutsche Landwirte fruchtbares Land besorgen sollten, und es entstanden diverse Auswandererzeitungen. Die Migration aus den Gebieten der K.u.K. Monarchie war quantitativ geringer und erreichte nie das Ausmaß der deutschen Einwanderung. Zu dieser Zeit beginnt der Kaffeeanbau in Guatemala in die Hände kapitalstarker Deutscher überzugehen [1]. Die Gesetze der spanischen Kolonialmacht, welche die Einwanderung nicht-spanischer EuropäerInnen verhinderten, waren seit der Unabhängigkeit Zentralamerikas 1821 hinfällig. Guatemala spaltete sich in zwei Lager: die Konservativen, die das koloniale Feudalsystem fortsetzen wollten, und die Liberalen, die mittels europäischer Immigration dem freien Handel und der kapitalistischen Entwicklung seit ihrer Machtübernahme 1871 die Tore öffneten. So waren etwa für den liberalen Präsidenten Justo Rufino Barrios (1873-1885) „250 Ausländer [sind] nützlicher als 2.500 campesinos.“ [2] Die deutschen Kaffeebarone profitierten von der Enteignung der katholischen Kirche und vom Landraub und der Semi-Versklavung der Indígenas. Die Bedingungen der Indígenas verschlechterten sich mit der liberalen Revolution rapide und massiv. Ihre bis dahin gemeinschaftlich bewirtschafteten Ländereien wurden verstaatlicht, sie selbst mittels Gesetzen zu Zwangsarbeit verpflichtet. In ihrer Studie zur Kontinuität rassistischer Einstellungen der wirtschaftlichen Elite in Guatemala zitiert Elena Casaús einen Befragten: „Die einzige Lösung für Guatemala liegt in der Aufbesserung der Rasse, man muss arischen Samen bringen, um sie aufzubessern. Ich hatte auf meiner Farm viele Jahre lang einen deutschen Verwalter, und für jede Indianerin, die er schwängerte, zahlte ich ihm 50 US-Dollar.“ [3]

Der Handelsvertrag Montúfar-Bergen von 1887 zwischen Guatemala und Deutschland verlieh den ausländischen Händlern einen quasi-diplomatischen Status und legte sämtliche Privilegien, Garantien und Konzessionen auf die folgenden Generationen fest. Bereits 1913 produzierten die Deutschen 1/3 des guatemaltekischen Kaffees auf 170 Farmen. [4]

Die Politik der Nazis in Lateinamerika

Bereits vor den Nationalsozialisten richtete auch das wilhelminische Deutschland seine Blicke auf Lateinamerika und versuchte diesen Erdteil wirtschaftlich, politisch und militärisch (die meisten lateinamerikanischen Armeen wurden mit deutschen Waffen ausgerüstet und von deutschen Militärs ausgebildet) zu durchdringen. Das kaiserliche Deutschland setzte dabei u.a. auf die deutschen Einwanderer, die sogenannten „Auslandsdeutschen“, die Beeinflussung der deutschen Presseorgane und Schulen in den von deutschen Einwanderern bewohnten Gebieten und die Verbreitung chauvinistischen Gedankenguts unter den Auswanderern. Der von verschiedenen deutschen Auslandsverbänden benutzte und propagierte Begriff „Deutschtum“ „beinhaltete bereits eine stark völkische Ausrichtung, an die die Nationalsozialisten nahtlos anknüpfen konnten.“ [5] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kontrollierten die Deutschen bereits bedeutende Anteile des guatemaltekischen Außenhandels. Auch der 2. Weltkrieg konnte ihren Einfluss trotz der Enteignungen nicht bedeutend mindern. [6]

Bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland hatte die Auslandsorganisation der NSDAP (AO) in Lateinamerika Stützpunkte, da ein Großteil der sogenannten „Reichsdeutschen“ (Nazi-Jargon für deutsche StaatsbürgerInnen) und „Volksdeutschen“ (Personen „deutschen Blutes“, aber im Besitz einer fremden Staatsangehörigkeit) dort das nationalsozialistische Gedankengut teilte. Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, brauchten sie dringend Rohstoffe für die Aufrüstung, die sie devisenfrei in Lateinamerika im Austausch für deutsche Waren erhielten. Bis 1938 waren sie v.a. in drei Richtungen tätig: Gewinnung lateinamerikanischer Regierungen für eine Bündnispolitik, Stützung auf politische faschistische Bewegungen und Organisierung der „Auslandsdeutschen“. Die AO unterstand ab 1938 dem Auswärtigen Amt und rivalisierte um die Aufgaben oft mit Himmlers Volksdeutscher Mittelstelle, dem Sicherheitsdienst und der Abwehr, die neben Überwachungsfunktionen für die Anwerbung von Spionen und Agenten unter den Deutschsprachigen verantwortlich waren. [7]

Antifaschistischer Widerstand formierte sich in den 30er Jahren rund um deutschsprachige GewerkschafterInnen, denen sich einige Kirchenkreise hinzugesellten, und in den 40ern rund um die Bewegung Freies Deutschland, die in Mexiko gegründet wurde. Aber auch die Beteiligung von LateinamerikanerInnen deutscher Herkunft an lateinamerikanischen faschistischen Organisationen, z.B. den brasilianischen IntegralistInnen, der Frente Anticomunista in Mexiko und den Nacistas in Chile, war bedeutend. In Mexiko und Brasilien konnten die faschistischen Bewegungen sogar Massencharakter annehmen, ohne jedoch je die Macht zu erlangen. Deutsche Firmen und Handelsunternehmen in Lateinamerika finanzierten oftmals subversive faschistische Bestrebungen, von denen sie sich den sichersten Weg zur Stärkung ihrer ökonomischen Positionen gegen die anglo-amerikanische Konkurrenz versprachen. [8]

Guatemala und die NSDAP

Die Gründer der NSDAP-Gruppierung in Guatemala waren der Tischler Heinrich Gundelach und der protestantische Pastor Otto Langmann, der mit Hitlers Machtübernahme seinen Talar an den Nagel hängte, nach Uruguay geschickt wurde und sich völlig der Partei widmete. [9] Der erste Auftritt der AO war ein Protestschreiben an die guatemaltekische Regierung wegen eines ausgestrahlten Filmes mit antideutscher Grundhaltung. Die Anerkennung als politische Vereinigung wurde der AO jedoch von Anfang an verwehrt. [10]

Der Langzeitdiktator Jorge Ubico (1931-1944) galt als großer Bewunderer des europäischen Faschismus. Er pflegte Freundschaften zu den italienischen Faschisten, den spanischen Falangisten [11] und selbstverständlich auch zu den Nazis in Guatemala. Die „Gesetze gegen das Vagabundentum“, welche u.a. die Kleinbauern und -bäuerinnen zu 150 Tage Zwangsarbeit im Jahr verpflichteten und unter ihm eingeführt wurden, übersetzte sein deutscher Freund Dieseldorff, der diese Gesetzgebung in der deutschen Kolonie Südwestafrika, heute Namibia, kennen gelernt hatte. Ubico militarisierte sämtliche Lebensbereiche und stellte den Deutschen für ihre Kaffeeplantagen eigene Polizeieinheiten zur Verfügung. Die Deutschen übten einen enorm großen Einfluss auf seine Politik aus. [12]

In Guatemala lebten 1937 etwa 3000 Deutsche. Das „Auslandsinstitut“ in Stuttgart, das die Aufgabe hatte, alle „Auslandsdeutschen“ zu vereinen, ihr „Heimat- und Rassenzugehörigkeitsgefühl“ zu stärken, gründete die Zeitungen Der Deutsche im Ausland und Der Auslandsdeutsche. 1932 erschien die erste Ausgabe der Deutschen Zeitung für Guatemala und das übrige Mittelamerika (DZ), die von Anfang an als Sprachrohr der Nazis fungierte und 1935 endgültig von der AO übernommen wurde. Später verstärkten die Nazis ihre Propaganda über den Deutschlandfunk, und 1937 wurden 8800 Radiogeräte billig oder umsonst verteilt. [13]

Öffentlich trat die NSDAP zum ersten Mal in der Gesandtschaft des deutschen Botschafters am 1. Mai 1933, dem „Tag der nationalen Arbeit“, auf. Dort schwangen die Parteimitglieder Lobeshymnen auf den Nationalsozialismus. Als die Nazis es nicht schafften, den 1890 gegründeten Deutschen Club zu übernehmen, gründen sie eine eigene Parteizentrale, das Deutsche Haus. Dort feierte man am 9. September 1933 den ersten Geburtstag der DZ mit Hitlergruß, Hakenkreuz, Vorträgen und Aufrufen zum Eintritt in die Partei. Weitere Veranstaltungen und Feste: die Geburtstage des „Führers“, der 1. Mai, Filmvorführungen, Kameradschaftsabende, NS-Männerchor, „Tanzabende“ der NS-Freizeitorganisation Kraft durch Freude, Vorträge prominenter Nazi-Besucher, Sammlungen für das Winterhilfswerk, Gründung der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Frau in Guatemala, „Deutsche Berufsgruppen“, Erntedankfeste (gemeinsam mit der Protestantischen Deutschen Kirche Epiphaniasgemeinde), etc. Es wurden Unterstützungsgruppen in Quetzaltenango, Mazatenango, Retalhuleu, Puerto Barrios und Cobán gegründet. [14]

Als der Kreuzer „Emden“ 1936 in Puerto San José ankert, können die GuatemaltekInnen die protzigen Naziaufmärsche in der Hauptstadt und in Cobán mit großem Staunen miterleben. [15] Die kurzfristige Schließung der Deutschen Schule (der Einfluss der NSDAP war zu offensichtlich geworden) wurde nach Vorsprachen einiger einflussreicher Deutscher bei Ubico wieder aufgehoben. Die LehrerInnen waren zum Großteil begeisterte Nazis, die Antisemitismus und Rassenlehre predigten, der „Hitlergruß“ wurde eingeführt und eine eigene Hitlerjugend an der Schule gegründet. [16] So untersuchte etwa Gerhard Enno Buß, Oberarzt bei der Wehrmacht, für seine Dissertation in Medizin in Guatemala 1942 „die völkische Zusammensetzung sowie den Gesundheitszustand und [der] körperliche[n] Entwicklung und Eigenart“ von „Reichsdeutschen“, „nichtdeutschen Nordeuropäern“, „Halbdeutschen“, und „Ladinos“ an der Deutschen Schule in Cobán. Er stellte nach seinen Messungen an den Schulkindern fest, dass sich „manche deutsche Körpereigenschaften bei den Mischlingen durchsetzte[n]. [...] bei den Halbdeutschen die Zahl der Unterbegabten um 20% größer als bei den Volldeutschen. Bei der charakterlichen Beurteilung schneiden die Reindeutschen ebenfalls im Durchschnitt erheblich besser ab als die anderen [...] Die Gefahren in völkischer Hinsicht durch die Vermischung mit den Einheimischen werden immer mehr erkannt, sind aber noch nicht Allgemeingut.“ [17]

Am 13. November 1933 stimmten die Deutschen Zentralamerikas mittels Stimmzettel, die der DZ beigelegt wurden, über die „außenpolitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Reichsregierung“ ab: 512 Stimmen dafür, sieben ungültig, eine Enthaltung. Sie nahmen erneut an der Abstimmung des 29. März 1936 über die Zustimmung zur Politik Adolf Hitlers teil: [18] 381 Stimmen dafür, zehn dagegen, sieben Enthaltungen. Bevor ihnen im Mai 1939 jegliche politische Betätigung untersagt wurde, stimmten sie ein letztes Mal am Schiff auf exterritorialem Gebiet über ihre Zustimmung zum Anschluss Österreichs an Deutschland ab: 646 Stimmen dafür und zwei dagegen. [19]

Die Fotografien in dieser Ausgabe stammen von dem Künstler Francisco „Panchi“ Claure Ibarra, der in Bolivien geboren ist und derzeit in Wien lebt. Er hat liebenswerterweise Context XXI diese Auswahl seiner Fotografien speziell für den Lateinamerika-Schwerpunkt zur Verfügung gestellt.
Bild: Francisco „Panchi“ Claure Ibarra

Erst als Guatemala auf Druck der USA — trotz seiner allseits bekannten Bewunderung für die faschistischen Regime Europas hing des Langzeitdiktators Ubico politisches Überleben vom Willen der USA ab — am 11. Dezember 1941, vier Tage nach Pearl Harbour, Deutschland den Krieg erklärte, wurden die DZ und das Evangelische Gemeindeblatt, die Deutschen Clubs und Schulen verboten. Neben der Enteignung und Verstaatlichung von Teilen des deutschen Besitzes [20] — viele hatten dies bereits geahnt und ihre Reichtümer an GuatemaltekInnen übertragen und nach dem Krieg wiedererlangt — wurden 325 Deutsche, die verdächtigt wurden, für Hitler gestimmt oder in sonstige pro-deutsche Aktivitäten verwickelt gewesen zu sein, 1941 und 1942 in die USA deportiert. Von hier aus wurden sie, wenn sie es wollten, mit US-Kriegsgefangenen in Deutschland ausgetauscht oder bis 1946 in US-Haft gehalten. Die US-Gefängnisse werden oft fälschlicherweise als „KZs“ bezeichnet. [21] Diese mit den KZs des nationalsozialistischen Vernichtungssystems zu vergleichen, das verantwortlich war für die planmäßige und industrielle Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, dient lediglich der Relativierung der Shoah. [22]

Die Fotografien in dieser Ausgabe stammen von dem Künstler Francisco „Panchi“ Claure Ibarra, der in Bolivien geboren ist und derzeit in Wien lebt. Er hat liebenswerterweise Context XXI diese Auswahl seiner Fotografien speziell für den Lateinamerika-Schwerpunkt zur Verfügung gestellt.
Bild: Francisco „Panchi“ Claure Ibarra

Postfaschistische Kontinuitäten

Nach der Gründung der BRD wurde Dr. Karl Heinrich Panhorst [23] von 1960 bis 1964 zum ersten deutschen Botschafter in Guatemala ernannt. Er war während des 2. Weltkrieges zuständig für die faschistische Propaganda des Dritten Reiches für Mittelamerika, der „Aktion Ibero- und Mittelamerika“. [24] Hans-Joachim Horn, ehemaliger Präsident der Deutsch-guatemaltekischen Industrie- und Handelskammer, besetzte in den 80er Jahren einen der sieben Direktorensitze in der Associación Amigos del País, einer rechtsextremen Vereinigung von Industriellen und Großgrundbesitzern, die zum damaligen Zeitpunkt enge Verbindungen zu Todesschwadronen hatte. [25] Die Verbindung von deutschen Unternehmern zu Todesschwadronen der 70er und 80er Jahre ist ein noch nicht aufgearbeitetes Kapitel der Geschichte Guatemalas. So wurde ich von einem guatemaltekischen Historiker gebeten, weder seinen noch die Namen, die er mir in diesem Zusammenhang in einem Interview im Dezember 2001 nannte, zu veröffentlichen.

Im Jänner 1998 hörten die BesucherInnen der Synagoge eine Explosion, die den nebenan liegenden Basketball-Platz zerstörte. Es gab keine Verletzte. Man fand vor Ort Flugzettel mit Hakenkreuzen und antisemitischen Sprüchen. [26] Im November 1999 wurde durch den Antisemitismus-Report des Israelischen Außenministeriums bekannt, dass sich eine etwa 20-köpfige Neo-Nazi-Gruppe in einem Cafe Guatemala Citys trifft und dort vor allem wegen offen antisemitischer Aussagen auffällt. [27]

Auswirkungen auf die Jüdische Gemeinde und Antisemitismus in Guatemala

Der in Europa grassierende Antisemitismus zwang bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Jüdinnen und Juden zur Emigration. In Guatemala ebneten die Trennung von Staat und Kirche und die Gewährung der religiösen Toleranz im Jahre 1833 den Weg für die Aufnahme von NichtkatholikInnen ins Land und boten eine minimale Grundvoraussetzung für die jüdische Immigration. Die zahlreichen Beschränkungen, denen Jüdinnen und Juden ausgesetzt waren (beispielsweise verweigerte die guatemaltekische Regierung den deutschen Juden und Jüdinnen noch 1952 die Staatsbürgerschaft), machten Guatemala jedoch nie zu einem attraktiven Ort der Ansiedlung. [28]

In den 1930er Jahren flüchteten aus Nazideutschland bis 1939 265 Jüdinnen und Juden nach Guatemala, um Unterstützung von ihren Verwandten zu erhalten. Hier wurden sie mit dem Antisemitismus der deutschen Gemeinde in den deutschen Clubs und Schulen, wo es sogar zu physischen Übergriffen auf SchülerInnen kam, konfrontiert, so dass sie in staatliche Schulen wechseln mussten. Die Nazis erreichten auch, dass das guatemaltekische Außenministerium 1939 eine „Erklärung zur Judenfrage“ abgab, die den Jüdinnen und Juden zwar aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht einräumte, ihnen aber gleichzeitig untersagte, außer in der Landwirtschaft in irgendeiner geschäftlichen Form tätig zu sein. „Diese Erklärung des guatemaltekischen Außenministeriums ist dadurch veranlasst worden, dass in den letzten Monaten zahlreiche Beschwerden von Landesangehörigen über die von ausländischen Juden verursachte Konkurrenz laut geworden waren“, schreibt die „Reichsstelle für das Auswandererwesen“ am 29.3.1939. [29]

Lili de Heinemann erzählt im Interview im September 2001, wie der Blockwart Hentschke kontrollierte, wer in ihrem Haus verkehrte, und im „Reich“ Bericht erstattete. „... und plötzlich konnte hier kein Mensch mehr in mein Haus kommen. Die deutschen Damen, die vorher zu mir kamen, um Skat zu spielen, blieben aus.“ Weiters erzählt sie von der Familie Freyler, einem österreichischen Paar, das in San Lucas ein Hotel führte. Herr Freyler spionierte hauptsächlich für die Deutschen, wie sie später erfuhr. [30]

Während sich die NSDAP in Guatemala jedoch überwiegend auf ideologische Unterstützung ihrer „Volksgenossen“ jenseits des Atlantiks beschränken musste und trotz ihrer Nähe zum guatemaltekischen Diktator Ubico nicht an die praktische Umsetzung ihres Antisemitismus in Guatemala gehen konnte, war dieser für jene Jüdinnen und Juden, die nicht rechtzeitig nach Amerika oder Palästina entkommen konnten, mörderische Realität.

Max Trachtenberg Griffel, ein 1923 in Wien geborener Jude, kam erst nach der Shoah nach Guatemala, zu seinem Onkel. Seine Mutter und sein jüngster Brüder wurden 1943 in Treblinka ermordet. Sein Vater wurde sieben Tage vor der Befreiung Nordhausens ermordet. Max und sein Bruder überlebten Shenyisov, Skarzysko Kamienna, Piotrkow Kujawski, Czestochowa, Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Ich treffe ihn in der Cevichería seines Sohnes Danny in Guatemala Ciudad. Durch einen Gehirnschlag spricht er sieben Sprachen durcheinander, aber die Verständigung funktioniert. Er erzählt seine Geschichte — „Mein Leben war schön bis ich 16 wurde ...“ [31]

„Nimm als Bild einen Rollschuh und schlag!“

„Ich war zu meiner Zeit die einzigste Jüdin im Lyzeum. Ich war damals 13 Jahre alt, 1921. Meine beste Freundin war die Tochter eines Arztes. Ich kam eines Tages aus der Klasse auf den Schulhof. Meine lachenden Freundinnen machten einen Kreis um mich auf Rollschuhen, — wir hatten Pause — und sangen:“Hackenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiss-rotes Band, die Brigade Ehrhardt [32] werden wir genannt.„Das war noch nicht Hitler, 1921, das war die antisemitische Ehrhardt-Gruppe. Und in diesem Kreis auf Rollschuhen rollte meine beste Freundin und sang begeistert mit. Ich schnallte einen Rollschuh ab, rollte auf dem einen, den ich anhatte, auf meine Freundin zu und schlug ihr mit dem anderen Rollschuh auf den Mund. Mit dem Erfolg, dass die Zähne flogen. Das war meine Erfahrung mit Anisemitismus. (...) Sie weinte und war voller Schmerzen - ich war ausser mir vor Wut. Was die anderen machten interessierte mich nicht, aber sie war meine beste Freundin! (...) Ich erzählte meinem Vater die Geschichte und er sagte:“Ich rufe sofort den Vater deiner Freundin an und sage ihm, dass selbstverständlich die Unkosten für die neuen Zähne auf meine Kosten gehen. Zu dir sage ich: Wann immer in einer solchen Form dir Antisemitismus begegnet, nimm als Bild einen Rollschuh und schlag. Lass es dir nicht gefallen!„Er sagte:“Tu es immer, wehr dich!"

Idel Luchs (geb. 1909 in Kiel) konnte 1939 mit ihrem Mann nach Guatemala flüchten. Ausser ihrem Vater und zwei Schwestern wurde ihre gesamte Familie in der Shoah vernichtet.

In den 70er Jahren fuhr sie einmal auf Besuch nach Deutschland. Doch sie wollte jeglichen Kontakt zu „alten Deutschen“ vermeiden, sie hatte Angst, ohne es zu wissen, mit den Mördern ihrer Familie zu sprechen. „Nur junge Leute wollte ich kennenlernen, nur die jungen...“. Auf die Frage, wann sie zum ersten Mal mit Antisemitismus konfrontiert wurde, erzählte sie mir die Geschichte aus ihrer Schulzeit in Kiel.

*) Deutsche Zeitung für Guatemala und das übrige Mittelamerika. 20.4.1936.

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Dieser Artikel erscheint im Herbst 2002 in gekürzter Form im Sammelband: Guatemala. Land auf der Suche nach Frieden. Solidarische Begegnungen, herausgegeben von Sova, Renate/Milborn, Corinna u.a. im Brandes und Apsel / Südwind, Frankfurt am Main.

[1Vgl. Cambranes 1977.

[2Vgl. Casaús Arzú 1999:70.

[3Dieselbe: 83.

[4Samper: 37.

[5Balke: 34.

[6Vgl. Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin 1966.

[7Vgl. Pommerin 1977.

[8Vgl. Katz 1966:24.

[9Vgl. DZ Juni 1934.

[10Vgl. Wagner 1996: 351.

[11Vgl. Delgado 1948, der einzige Autor, der sich je mit spanischem Faschismus in Guatemala auseinandersetzte.

[12Vgl. Nañez Falcón 1970, Figueroa Ibarra 1976, Grieb 1979, McCreery 1994, Locón Solórzano 1997.

[13Vgl. Scharbins 1966: 149.

[14Vgl. DZ 1932 - 1941.

[15Vgl. DZ vom 12. Jänner 1936: 1.

[16Wagner 1996: 360f.

[17Buß 1942: 23ff

[18Vgl. DZ 22.3.1933: 1.

[19Dieselbe.

[20Wagner (1996) listet penibel sämtliche Geschäfte, Firmen und Kaffeeplantagen auf, welche den Deutschen in Guatemala enteignet wurden. Es fehlen jedoch Hinweise auf die nach 1948 zurückerhaltenen Güter.

[21So auch von Brunner/Dietrich/Kaller 1993: 124.

[22Als ich Dr. Regina Wagner, zum Gebrauch des Begriffs „KZ“ in diesem Zusammenhang befragte, antwortete sie: „Ein KZ ist eigentlich wie ein großes Gefängnis, wo eben die Leute gut behandelt wurden, d.h. in den USA wurden die Leute gut behandelt, denn die waren ja Kriegsgefangene, ich weiß das, denn mein Vater und mein Onkel waren ja dort, die hab ich ja interviewt. (...) Die wurden dort nicht schlecht behandelt, nur in einem KZ gab es Wanzen, denn das war früher ein Neger- ein Negergefängnis, ein Negerkonzentrationslager, und da gab es natürlich Wanzen, und das war sehr unangenehm.“ (Interview vom 18.10.2001 in Guatemala Ciudad)

[24Guatemala Nachrichten 6/81: 12.

[25Vgl. Guatemala Nachrichten 6/81: 12 und 25ff.

[28Vgl. Elkin 1996:92. Elkin spricht auf S. 256 fälschlicherweise von drei Synagogen in Guatemala: der sephardischen „Maguen David“, der askenasischen „Centro Hebreo“ und der deutschen. Letztere gab es jedoch nie.

[29Guatemala Nachrichten 4/81: 31.

[30Interview mit Lili de Heinemann am 12. September 2001 in Guatemala City.

[31Interview mit Max Trachtenberg am 13. September 2001 in Guatemala City. In: Kreutzer/Schmidinger (2002). Er veröffentlichte einen Aufsatz mit dem Titel „Viena -“ und der Nummer, die in seinen Unterarm tätowiert wurde: „- 103024“ (Trachtenberg 1996).

[32Ehrhardt, Hermann, Seeoffizier, (1881-1971) bildete Anfang 1919 die Brigade Ehrhardt, mit der er die kommunist. Räteherrschaft in Braunschweig und München bekämpfte und 1920 am Kapp-Putsch teilnahm. Er gründete die rechtsradikale »Organisation Consul«.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2002
, Seite 14
Autor/inn/en:

Mary Kreutzer:

Politikwissenschafterin und Publizistin, Trägerin des Eduard-Ploier-Radio-Preises der Österreichischen Volksbildung, des Concordia Publizistikpreises (Kategorie Menschenrechte), des European Award for Excellence in Journalism, des Elfriede-Grünberg Preises, von Juni 2000 bis 2006 Redaktionsmitglied von Context XXI.

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