FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1995 » No. 496-498
Konrad Paul Liessmann

»Das Prinzip Auschwitz«

Reflexionen zur Leichenproduktion im 20. Jahrhundert

Fünfzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges nimmt die Beschäftigung mit diesem und seiner Vorgeschichte immer seltsamere Formen an. Angesichts der auf die Erinnerungstage hin terminierten Appelle, nicht zu vergessen, angesichts des damit verbundenen Erinnerungs- und Gedenkstättenfurors kann man sich des Verdachts nur schwer erwehren, daß dies genau jene Strategien des Vergessens sind, die zu verhindern sie vorgeben: Pflichtübungen in Erinnerung und Bewältigung, die in geballter Wucht die Medienlandschaften durchpflügen, um die Rückkehr zum kulturellen und politischen Alltag umso leichter zu machen. Es wird schwierig werden, nach dem 8. Mai, wenn alles vorbei ist und alle politischen Peinlichkeiten ausgestanden sind, noch etwas zur Sache zu veröffentlichen. Dem termingerechten Gerangel um die optimale Inszenierung des Gedenkens entspricht deren inhaltliche Ausrichtung. Weder scheint es um Auseinandersetzung, um Analyse, um Anstrengungen, um Kontroversen, um Versuche zu begreifen zu gehen, vielmehr dominiert — ganz im Sinne politischer Korrektheitsphantasien — die Suche nach der richtigen Formulierung für das, was dem Vergessen entzogen werden soll. Der Streit um die Frage, ob der Sieg der Alliierten über die Truppen des nationalsozialistischen Deutschland als Befreiung oder als Niederlage zu bezeichnen sei, ist dafür ebenso ein Indiz wie die mittlerweile zum guten Ton gehörende Sprachregelung, daß der 2. Republik die bequeme Geschichtslüge des ersten Opfers Hitlers Pate gestanden hätte. Was über solchen terminologischen Regelungen verlorengeht, ist vor allem die Einsicht in jene Widersprüche, die sich in der Suche nach dem korrekten Ausdruck widerspiegeln und die der Situation im Jahre 1945 entsprochen haben mochte. Daß die Truppen der Alliierten alle befreit hatten, die als Feinde des NS-Regimes unter diesem gelitten, muß ebenso außer Zweifel stehen wie die Tatsache, daß die Alliierten einen Krieg gegen ein völkerrechtliches Subjekt, das sie vordem durchaus anerkannt und für paktfähig erachtet hatten — erinnert sei nur an die Münchner Verträge und den Hitler-Stalin-Pakt — und das sie, nachdem ihnen der Krieg aufgezwungen worden war, als solches besiegen wollten. In dem Maße, in dem große Teile der Deutschen und Österreicher sich mit dem NS-Staat identifizierten, waren sie es, die besiegt werden sollten. Deshalb die militärisch längst sinnlosen Vernichtungen deutscher Städte gegen Kriegsende, deshalb die Vertreibungen von Millionen von Deutschen, deshalb die Abtrennung der deutschen Ostgebiete und die Teilung Deutschlands — Maßnahmen, die nur unter der Prämisse Sieg/Niederlage einen wie auch immer umstrittenen Sinn machen, aber keinen unter der Prämisse Befreiung. Umgekehrt stimmt es auch, daß durch den Sieg der Alliierten, und nur durch diesen, nicht nur ein Staat einen Krieg verloren, sondern auch ein verbrecherisches Regime beseitigt worden ist: so gesehen ist die Rede von der Befreiung vom Nationalsozialismus durchaus richtig. Was nachdenklich stimmen muß, ist die Tatsache, daß wir offensichtlich mit solchen Dichotomien und Doppelcodierungen, die der Prozeß der Ereignisse selbst mit sich brachte, nicht mehr leben wollen, und bei allen Lippenbekenntnissen zu komplexen Strukturen und vernetztem Denken nur die allereinfachsten, zweiwertigen Raster und Bezeichnungen für moralisch vertretbar halten. Ähnlich verhält es sich mit der Lebenslüge der 2. Republik, die sich auf folgende Aporie bringen läßt: Entweder war Österreich erstes Opfer von Hitlers Aggression, dann konnte es auch befreit werden, und die Anhänger Hitlers müßten wie in Frankreich als Kollaborateure betrachtet werden — auf Österreich selbst aber fiele kein Schatten; oder Österreich war, halb gezwungen, halb aus eigenem Willen, zu einem Bestandteil des Großdeutschen Reiches geworden, dann wurde es mit diesem besiegt und hat auch als Staat seinen Teil der Verantwortung an den Untaten dieses Reiches zu tragen. Das Problem, das sich denen stellt, die in der 2. Republik geboren und aufgewachsen sind, besteht daher wohl darin, daß die Errichtung der 2. Republik ohne die in den Moskauer Verträgen konzedierte Opferrolle nicht möglich gewesen wäre, daß aber dieses Opfer sich selbst auch als Täter hätte begreifen und damit zur Verantwortung über seine Mittäterschaft hätte ziehen müssen. Die terminologische Fixierung auf die »Befreiung« verhindert — paradox genug — genau letzteres und tabuiert nocheinmal die Frage nach der Verstrickung von Österreichern im Nationalsozialismus.

Ähnlich hat sich mittlerweile in bezug auf die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis eine bestimmte Sprachregelung eingebürgert, die eine Auseinandersetzung damit eher erschwert denn befördert: einzigartig, unvergleichlich, unbegreiflich, unfaßbar, tabu für alle Versuche der sogenannten Historisie-rung. Gleichzeitig aber ist Auschwitz längst zur billigen Hintergrundkulisse von Hollywoodmelodramen und zum vordergründigen Anlaßfall für ästhetisch-spekulative und moralisch-politische Funktionalisierungen geworden und es beginnt — indiziert nicht zuletzt durch die Verbreitung des Terminus Holocaust, die von einer amerikanischen Fernsehserie ihren Ausgang nahm — eine Sa-kralisierung des Massenmordes, die den Ermordeten nachträglich noch einen Sinn aufbürdet, ihrem Tod die Weihe des religiösen Brandopfers gibt. Auch Auschwitz reichte nicht aus, wie noch Günther Anders forderte, die Menschen davon zu überzeugen, daß es keinen Gott geben kann. Wohl aber, so scheint es, gab Auschwitz den Gottlosen einen Gott zurück — wenn auch ex negativo. Deshalb wird von Auschwitz gesprochen, als wäre es ein Ereignis außerhalb der Zeit und außerhalb der Geschichte, und auch deshalb, so scheint mir, muß die Leugnung von Auschwitz wie einstens die des einzigen Gottes unter das Strafgesetz fallen.

Auschwitz aber war ein Ereignis in der Geschichte. Es war Menschenwerk, das seine Vorgeschichte, seine Voraussetzungen, seine Bedingungen, seine Verlaufsformen hatte wie alles in der Geschichte. Wenn der kategorische Imperativ, den nach einem Wort von Adorno Hitler uns aufgezwungen hat, nämlich alles Denken und Handeln darauf auszurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, gültig ist, dann muß dies auch bedeuten, alles zu tun, um zu begreifen, wie es dazu kommen konnte. Dies aber erfordert, den Nationalsozialismus und Auschwitz gerade nicht isoliert, sondern im Kontext, im Zusammenhang mit der Zivilisationsgeschichte der Moderne zu betrachten. Nur unter solchen Perspektiven kann das Besondere, das, was einzigartig war an Auschwitz, überhaupt erst herausgearbeitet werden, und nur unter solchen Perspektiven können auch jene Fundamente freigelegt werden, die Auschwitz zugrunde lagen und die weder entfernt noch bewältigt worden sind, weil sie zu den Fundamenten der Moderne selbst gehören. Das Denken in Zusammenhängen, das Freilegen von Kausalitäten, die Versuche zu begreifen, ja selbst das Abstrahieren und Vergleichen bedeuten — und dies muß in einer Zeit klargestellt werden, in der immer öfter nur noch reflexartig auf Worte reagiert wird — weder gleichsetzen, noch relativieren, noch verzeihen, schon gar nicht entschuldigen. Aber man wird sich dem Gedanken aussetzen müssen, daß das 20. Jahrhundert verschiedene Formen von Totalitarismen, von Menschenverachtung und Menschenvernichtung hervorgebracht hat, deren Analyse und Reflexion nicht durch die Nominierung des einen zum absolut Bösen ersetzt werden kann. Die heutige Be- und Gesinnungskultur der Erinnerung hat allerdings selbst jene einstens der kritischen Gesellschaftstheorie entsprungenen Ansätze zu einer kontextuellen Theorie des Nationalsozialimus verdrängt und vergessen, die immer schon Auschwitz mit der Dialektik der Aufklärung, den totalitären Ansprüchen der Moderne und der Maschinisierung des Todes in einem Zusammenhang denken wollten. Daß der Zusammenhang von Faschismus und Moderne heute fast nur noch von sogenannten neurechten Denkern thematisiert wird, sagt noch nichts über deren Qualität, aber alles über den desolaten Zustand einer einstens avancierten Gesellschaftstheorie. Die Reflexionen von Günther Anders zu Auschwitz gehörten zu diesen kritischen Anstrengungen, die mir, bei aller Ambivalenz, wichtiger zu sein scheinen als vieles, was heute an opportunen Gesten nachgeschobener Betroffenheit inszeniert wird.

In dem Text Wir Eichmannsöhne, seinerzeit deklariert als offener Brief an Klaus Eichmann, geschrieben 1964 unmittelbar nach der Hinrichtung Adolf Eichmanns in Jerusalem, ist Günther Anders auf äußerst eigenwillige Weise den Zusammenhängen zwischen Auschwitz und der Zivilisation der Moderne nachgegangen, ohne deshalb irgendetwas zu relativieren — ganz im Gegenteil. Aber sein Denken konzentrierte sich auf eine These: daß die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit formuliert werden muß als Frage danach, ob es eine Zukunft für die Menschen geben wird. Mit anderen Worten: Anders war einer der wenigen, die schon frühzeitig die Einsicht formuliert hatten, daß die für viele unbegreiflichen Greueltaten des Nationalsozialismus weder eine einmalige Entgleisung der Geschichte, noch ein Verbrechen wie andere auch gewesen wäre, sondern daß sich in diesen Greueln eine ökonomische und technische Rationalität durchsetzte, die ihre Wurzeln in jenem modernen Zivilisationsprozeß hat, der sich erst nach der politischen Zerschlagung des Faschismus vollends entfaltet konnte. Mit noch anderen Worten: die Ereignisse, um die das Denken des Günther Anders kreiste, waren: Auschwitz und Hiroshima.

Die zentrale Kategorie, von der Anders in diesem offenen Brief an Klaus Eichmann ausgeht, ist die des Monströsen. Und dieses Monströse besteht, knapp formuliert, für Anders darin, daß es »institutionelle und fabrikmäßige Vertilgung von Millionen von Menschen« gegeben hat, die nur durchgeführt hatte werden können, weil der Prozeß der massenhaften Vernichtung von Menschen organisiert worden ist, »die diese Arbeiten annahmen wie jede andere«. Natürlich — und Anders verschweigt es nicht: Es gab unter den Beteiligten Karrieristen und Feiglinge, Sadisten und Machtgierige, Fanatische und Fatalisten — aber all diese Motive erscheinen sekundär gegenüber der Tatsache, daß nur die rationelle Verwaltung der Vernichtung und die passive Beteiligung von Millionen in Form eines freiwillig-gezwungenen Nichtwissens das Monströse in seinen letzten Konsequenzen Wirklichkeit werden lassen konnte. Präzise heißt es in Anders’ philosophischem Hauptwerk, der Antiquiertheit des Menschen: »Der Angestellte im Vernichtungslager hat nicht gehandelt, sondern, so gräßlich es klingt, er hat gearbeitet.« In einem Nachtrag zu dem Brief an Klaus Eichmann, geschrieben im April 1988, anläßlich des sogenannten deutschen Historikerstreites, stellte Anders noch einmal klar, daß das Entscheidende, bislang Einzigartige und Erstmalige und damit tatsächlich mit anderen Formen von Menschenvernichtung vorerst Unvergleichbare an Hitler und den Seinen genau diese »fabrikmäßige Liquidierung von Menschenmassen« war, die »systematische Leichenherstellung«, eine Leichenproduktion, die nicht Mittel zur Erreichung politischer Ziele, sondern selbst das Ziel war. Auch im Vergleich mit den Millionen Opfern der Stalin-schen Politik — und Anders stellte diesen Vergleich sehr wohl an — hielt Anders daran fest, daß es Stalin nicht um eine »systematische Leichenherstellung« gegangen war. Auch wenn man in diesem Punkt aus guten Gründen auch anderer Meinung sein könnte — Andrzej Szczypiorski hat unlängst in einem lesenswerten ›Zeit‹-Essay den Gedanken riskiert, daß Stalin keine Gaskammern brauchte, weil er Sibirien hatte — fragte sich Anders mit der ihm eigentümlichen Konsequenz, ob das Bestürzende nicht darin liege, daß man da »zwei Entsetzlichkeiten« miteinander vergleichen und eine davon sogar besser, mindesten weniger schlimm finden müsse als die andere, obwohl es sich doch in beiden Fällen um so Unvorstellbares handele, daß es einem widerstehe, »eines gegen das andere auszuspielen«. Vielleicht ist dies ein entscheidender Punkt: daß wir, angesichts von 20 Millionen Toten, die eine rücksichtslose Kollektivierungspolitik nicht nur in Kauf nahm, sondern auch zum Teil zumindest intendierte, und angesichts der programmatischen Vernichtung der europäischen Juden, die massenhafte Vernichtung von Menschen um eines Zieles willen weniger schlimm finden müssen als die Vernichtung um ihrer selbst willen. Bei allem Verständnis für diese Position frage ich mich, ob es im Sinne linker Vergangenheitsbewältigung nicht auch einmal nötig wäre, diese tendenzielle Entschärfung des Massenmordes durch politisch für uns gerade noch nachvollziehbare Zielvorstellungen einmal grundsätzlich zu reflektieren.

Was Auschwitz betrifft, schärft Anders aber den Blick für ein weiteres Paradoxon. Zwar gehört es mittlerweile zum common sense, in der fabriksmäßigen Form des Massenmordes an den Juden dessen Einzigartigkeit zu sehen, es fällt aber aus dieser Erkenntnis kein Schatten auf das Phänomen der Fabrik selbst. Anders ging hier weiter. Es mag auf den ersten Blick verstörend sein, und mit ein Grund für das Schweigen, mit dem man diesen Analysen von Anders bis heute begegnet, daß für Anders die Massenvernichtungen des Nationalsozialismus als erster kumulativer negativer Ausbruch jenes Systems von Arbeitsorganisation gesehen wird, der wir in unserem zivilisatorischen Selbstverständnis ansonsten allen Fortschritt gerne zuschreiben. Die Aufsplitterung der Arbeit in maschinengestützte Einzelschritte, die ein Überblik-ken des Gesamtprozesses und Abschätzen des möglichen Effekts unmöglich machen, aber die Arbeitsvorgänge ihrer Form nach in den verschiedensten Produktionszweigen einander angleicht, so daß sich die Herstellung einer Vernichtungswaffe oder Vernichtung von der Herstellung irgendeines anderen Produkts oder Verfahrens für den daran Beteiligten kaum mehr unterscheidet, führt nach Anders dazu, daß wir das Interesse am »Mechanismus als ganzem und an dessen Letzteffekten« einfach verlieren. Damit büßen wir aber auch die Fähigkeit ein, uns überhaupt von diesem Prozeß noch eine angemessene Vorstellung machen zu können. »Ist ein maximaler Grad von Indirektheit überschritten«, schreibt Anders in dem offenen Brief »dann versagen wir, nein, dann wissen wir noch nicht einmal, daß wir versagen, daß es unsere Aufgabe wäre, uns vorzustellen, was wir tun. « Und dieser maximale Grad von Indirektheit wird in der heutigen industriellen und administrativen Arbeit nach Anders der »Normalfall«. Je schärfer das Tempo des Fortschritts, je größer die »Effekte unserer Produktion« und je verwickelter die »Struktur unserer Apparate«, umso blinder werden wir.

Diese Blindheit ist aber kein Ausdruck eines subjektiven Versagens, sondern die Form einer grundsätzlichen, fundamentalen objektiven Unfähigkeit, dem »Überschwelligen«, dem, das für unsere Wahrnehmung »zu groß« ist, dem Monströsen angemessen begegnen zu können: auf der kognitiven und der emotionalen Ebene. Ein leichtfertig aufgeklärtes Appellieren, doch Vorurteile abzubauen, so könnte man aus Anders folgern, bewirkt hier ebenso wenig wie das verlogene, künstliche Erzeugen von Betroffenheiten. In beiden Fällen verharmlost man das Problem, indem man so tut, als könne man es mit ein bißchen Humanismusrhetorik, ein bißchen theatralischer Erschütterung in den Griff kriegen. Diese durchaus wohlgemeinten Strategien vergessen, daß das eigentliche Problem darin liegt, daß das »zu Große« uns nicht einmal kalt, sondern völlig ungerührt läßt. Die moderne Gesellschaft produziert notwendigerweise »emotionale Analphabeten«: »Sechs Millionen Ermordete bleiben für uns eine Ziffer, während die Rede von zehn Ermordeten vielleicht noch irgendwie in uns anzuklingen vermag, und uns ein einziger Ermordeter mit Grauen erfüllt«. Versuchte man, sich das Monströse dadurch zugänglich zu machen, daß man es am berührenden Einzelfall, am Schicksal eines Individuums studiert, verfehlt man das Problem: denn die Tragik der Einzelnen ähnelt sich immer und überall -gerade am Besonderen kann die Monstrosität des Allgemeinen nicht mehr angemessen begriffen werden. Und wer am eigenen Leib erfahren hat, wie schnell wir uns an die Bilder von Völkermorden und Menschenvernichtung aus Bosnien, aus Ruanda gewöhnt haben, wird auch darüber nachdenken müssen, ob das moralisch-ästhetische Beschwören von Auschwitz nicht auch jenen Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekt erzeugt, den es unterlaufen möchte.

Entscheidend war aber für Günther Anders, daß solche monströsen Untaten wie Auschwitz — und auch Hiroshima — längst nicht mehr die Untaten Einzelner sind, sondern sich zusammensetzen aus einer Kette ganz »normaler« Taten. Das große Verbrechen als ein Kontinuum von an sich harmlosen Akten: das unterscheidet die Barbarei der Moderne von den Greueln und Untaten der Vor moderne, und das führt zu jener, kommt die Rede darauf, auch sofort spürbaren und artikulierten, Unschuldshaltung, die Anders einmal den »Legitimationseffekt« genannt hat: Weil keiner etwas Böses, sondern jeder nur seine Arbeit macht, kann auch niemand schuld sein an dem letztlich produzierten Effekt. Die Kette hochtechnifizierter Entscheidungen und aufgespaltener Handlungssegmente von der Planung über den Bau bis zum Einsatz der ersten Atombomben über Japan folgten offensichtlich ähnlichen Strukturen. Und niemand hat wie Günther Anders darüber nachgedacht, was Auschwitz und Hiroshima gemeinsam ist und was diese Formen der Massenvernichtung dennoch gravierend unterscheidet.

Für Anders nämlich ist Auschwitz »moralisch ungleich entsetzlicher« gewesen als Hiroshima — aber dieses »ungleich schlimmer« als jenes. Dies deshalb, weil trotz aller Mechanisierung des Todes die direkte Beteiligung von Individuen, mit all ihren Sadismen, Grausamkeiten, Haßgefühlen, Zynismen gegenüber den Opfern, Brutalitäten, Karrieresüchten und vielleicht auch Zweifeln im Falle von Auschwitz noch gegeben war, weil es einen körpernahen Kontakt zwischen Tätern und Opfern immer noch gegeben hat, während die Piloten von Hiroshima und Nagasaki mit dem buchstäblich emotionslosen Knopfdruck das Leben von Hunderttausenden, zu denen sie überhaupt keine Beziehung mehr hatten, in einer Sekunde vernichteten. Was aber bedeutet das? In Notizen, die sich Anders nach der Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust im Jahre 1979 gemacht hatte, heißt es — und ich halte diese Stelle für so zentral, daß sie ausführlicher zitiert sei:

Wenn ein Mensch im Bruchteil einer Sekunde Millionen Mitmenschen auslöschen kann, so sind daneben die paar tausend SS-Männer, die nur peu à peu Millionen umbringen konnten, harmlos... Während die atomaren Waffen im wörtlichsten Sinne ›apokalyptisch‹ sind, waren oder sind die Lager ›apokalyptisch‹ nur im metaphorischen Sinn. Verglichen mit den modernen Massenmordmethoden, ist, was in den drei Jahren vor Hiroshima in den Vernichtungslagern geschehen ist (ich wage das Wort kaum niederzuschreiben) harmlos gewesen. Die Technologie und der output der Lagerinstallation war, verglichen mit dem technischen Standard und der möglichen Leistung heutiger Raketenbasen, noch plump und dem Typ nach 19. Jahrhundert gewesen... Keine Frage: Die ›Zukunft‹ gehört dem moderneren Massenmord (sofern man den Zukunftslosigkeit produzierenden Geräten ›Zu-kunft‹ zuerkennen kann. ) Das schließt freilich nicht aus, daß in den nicht höchst industrialisierten Ländern Auschwitz sich noch lange als Vorbild halten wird. Die Mächte, die noch nicht so weit sind, Hiroshimas herzustellen, die werden mit der Anlage von ›Auschwitzs‹ vorliebnehmen. Auch das Prinzip Auschwitz hat also, weil noch nicht überall ›die Zukunft begönnern hat, noch eine Zukunft. Die zwei Methoden des Genozids, die moderne und die nicht ganz so moderne, werden, sofern uns ein Überleben überhaupt vergönnt bleibt, noch lange ›überlappen‹.

Das Prinzip Auschwitz — Anders, der seinem Freund Ernst Bloch dessen »Prinzip Hoffnung« immer als illusionär vorgerechnet hatte, verwendet diese Formulierung nicht nur beiläufig. Damit ist auch der Versuch zum Ausdruck gebracht, zwischen der Apotheose der Absolutheit von Auschwitz und seiner Banalisierung und Relativierung einen Begriff zu finden, der es erlaubt, den historischen Massenmord als ein Ereignis zu begreifen, das keiner Pathologie oder Dämonie, sondern eben einem Prinzip gehorchte, das unter den Bedingungen der Moderne nicht außer Kraft gesetzt, wohl aber durch die avancierte Technologie der Kernwaffen überboten, in seiner moralischen Ungeheuerlichkeit aber unterlaufen werden kann.

Die Tatsache, daß Auschwitz gegenüber Hiroshima technisch rückständig war, erlaubte es Anders nämlich, dieses als moralisch ungleich entsetzlicher zu bezeichnen, weil es noch einen Kontakt zwischen den Tätern und ihren Opfern, weil es Orte der Tat gegeben hatte. Der Abwurf der Bomben über Hiroshima und Nagasaki war nach Anders »Massenmord ohne Mörder und vollzog sich ohne Bosheit«, es war der sprichwörtliche emotionslose Knopfdruck, der Hunderttausende zu Asche werden ließ, währenddessen in den Vernichtungslagern der Nazis der Massenmord als full time job Tag für Tag betrieben wurde. Dieser Rest an Menschlichem — daß nicht nur vernichtet, sondern auch selektiert, gefoltert und gequält wurde, daß es eine Logik des Lagers gab — macht die besondere Unmenschlichkeit dieses Genozids aus, während das deshalb ungleich schlimmere Töten mit der moderneren Atombombe auf jede Täter-Opfer-Beziehung verzichten kann. Bosheit ist also nach Anders letztlich genauso antiquiert wie der Haß. Die Tendenz unserer Zivilisation, zu einer gigantischen Maschine zu werden, liquidiert schleichend den Menschen als Urheber seiner Taten, für die er noch zur Verantwortung gezogen werden könnte. Genau darin liegt die fatale Möglichkeit einer Selbstdestruktion der Menschheit durch anständige Arbeit. Je größer der Effekt einer Tat, so formulierte Anders einmal dieses Harmlosigkeitsgesetz, desto kleiner ist die für dessen Verursachung erforderliche Bosheit. Aber in dem Moment, in dem die Täter zur Durchführung ihrer Taten, die in Summe die monströse Untat ergeben, Bosheit nicht benötigen, haben sie auch ihre Chance verloren, »ihre Untaten zu bedenken oder zu revidieren«. In dem Band Die atomare Drohung steht dann auch, so brutal wie hellsichtig: »Unmenschliche Taten sind heute Taten ohne Menschen. « Das bedeutet aber auch, daß die »bisherigen religiösen und philosophischen Ethiken ausnahmslos und restlos obsolet geworden sind, sie sind in Hiroshima mitexplodiert und in Auschwitz mit vergast worden. « Wir stehen, so Anders, im Jahre Null der neuen Moral.

Ist diese Analyse auch nur in ihren entscheidenden Punkten triftig, dann erklärt sie unter anderem genau jenes Phänomen, mit dem eine aufgeklärt-moralisierende Öffentlichkeit solche Schwierigkeiten hat: die Biederkeit und Reuelosigkeit sogenannter Nazitäter, die scheinbar in keinen Zusammenhang mehr gebracht werden kann mit den Ungeheuerlichkeiten, die sie vollbracht haben. Was mit Anders erkannt, zumindest diskutiert werden müßte: es geht nicht nur um individuelle Schuldzuschreibungen, es geht entscheidend um die Einsicht, daß unsere Begriffe von Tat und Schuld, und die daraus abgeleiteten Rechtsfolgen, der Struktur dieser und ähnlicher Taten immer unangemessener werden. Mit Appellen an individuelles Gewissen, Verantwortungsbewußtsein und dergleichen ist nichts auszurichten, wenn jemand erst gar nicht gewissenlos handeln muß, um monströs zu sein, sondern wenn es einfach genügt, nicht einmal daß er seine Pflicht tut, nein, daß er einen Job erledigt.

Die Provokation in diesen Überlegungen liegt darin, daß ein unterschwelliger Zusammenhang zwischen Auschwitz, Hiroshima und der modernen Industriegesellschaft postuliert wird, die ihr Fundament in der Tendenz einer universellen Maschinisierung hat: im Wortsinn. »Die Welt wird zur Maschine«, heißt es in Wir Eichmannsöhne, und gemeint ist damit der »technisch-totalitäre Zustand, dem wir entgegentreiben. « Anders konstatierte eine Entwicklung, die der Technik das Primat des Handelns überläßt, dem die Artikulation der menschlichen Bedürfnisse hinterherhinkt und eingegliedert wird. Tendenziell wird der Mensch zu einem Teil der von ihm geschaffenen Maschinerie. An dem Tag, so Anders, an dem sich das »chiliastische Reich des technischen Totalitarismus« erfüllt, »werden wir dann nur noch als Maschinenstücke dasein oder als Stücke des für die Maschine erforderlichen Materials: als Menschen werden wir dann also liquidiert sein. « Und genau in dieser Hinsicht, in der totalen und reibungslosen Funktionalisierung des Menschen, in seiner Eingliederung in ein System von Zwängen, das er nicht einmal als Zwang imstande ist zu begreifen, weil es keinen Punkt mehr zuläßt, von dem aus es anders gesehen werden könnte, in der Degradierung des Menschen zu einem Material, zu Rohstoff, liegt die »Ähnlichkeit dieses drohenden technisch-totalitären Reiches mit dem monströsen gestrigen. « Und genau in diesem Sinne ist das Eichmann-Problem für Anders kein gestriges. Neben der rechtsradikalen Nostalgie einiger politischer Gruppen und ihrem Terror, neben Phänomenen wie der Ausländerfeindlichkeit oder dem Fremdenhaß liegt, mit Anders, die eigentliche Bedrohung immer noch darin, daß »wir alle den Gedanken an das zu Große und an unsere Unfreiheit gegenüber dem zu Großen beiseiteschieben«. Das war bei Anders natürlich in erster Linie auf die atomare Drohung gemünzt gewesen. Aber, so Anders in seinem letzten öffentlichen Gespräch, wir hätten durch fortschreitende Technifizierung und Umweltzerstörung seit 1945 »viele Methoden« für den Gattungsmord ent-wickelt. In unserer ganz alltäglichen, aufgeklärten Blindheit gegenüber der immanenten Tendenz zur Selbstzerstörung der Lebensform, die wir für eine Errungenschaft halten, liegt eine entscheidende Gefahr, die reale politische Bedrohungen nicht relativieren soll, aber über diesen auch nicht vergessen werden darf. Und es könnte sein, daß zwischen dem Vergasen der Nazis und dem Gasgeben unserer Zivilisation mehr als nur ein lexikalischer oder phonetischer Zusammenhang besteht. Und ich fürchte, daß wir auf die Frage unserer Kinder und Enkel, ob wir denn nicht bemerkt hätten, daß wir durch unseren Hang zu Volkswagen und Autobahnen — für mich, wie für Adorno, immer noch die exemplarischen Beispiele für das, was man Alltagsfaschismus nennt -die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen und damit diese selbst vernichtet haben, wie unsere Väter und Großväter antworten werden: Wir haben es nicht gewußt. Auch und gerade so gesehen haben wir, mit den zutiefst bedenkenswerten Worten von Anders, in der Tat »keinen Anlaß«, dem »Gestern gegenüber hochmütig zu sein«, so gesehen sind wir alle nicht schon wieder, sondern immer noch Kinder einer Eichmannwelt, die erstmals mit der Verwirklichung des Prinzips Auschwitz demonstriert hat, wozu Menschen unter bestimmten Bedingungen fähig sind und wohl immer fähig sein werden. Und da Menschen — hier bin ich Pessimist — daran weder durch Aufklärung oder Bildung gehindert werden können -, müßte alles daran gesetzt werden, daß wir die strukturellen Rahmenbedingungen unseres Leben derartig ändern, daß weder Auschwitz, noch Hiroshima, noch der Gulag, noch die ökologischen Verwüstungen eine prinzipielle Chance haben dürften.

Dazu aber, das wage ich zu behaupten, sind wir weder fähig noch willens.

Vortrag am 22. April 1995, im Wiener Begleitprogramm zur Ausstellung »200 Tage und 1 Jahrhundert« des Hamburger Institutes für Sozialforschung

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1995
, Seite 92
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Konrad Paul Liessmann:

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