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Franz Schandl

Das Peepen von Preisen

I’m all lost in the supermarket
I can no longer shop happily
I came in here for that special offer
A guaranteed personality
(The Clash, London Calling, 1979)

Waren haben nicht bloß mit einem Preis angeschrieben zu werden, sondern mit deren zwei. Der Preis offenbart sich nicht nur durch eine dezidierte Angabe, sondern noch entschiedener durch einen Vergleich mit sich selbst, indem er auf Ursprung und Berichtigung verweist. Durch diese augenscheinliche Korrektur werden Waren billiger angepriesen als ehedem. Der Komparativ drückt dabei stets nach unten, das gilt übrigens auch für die Mengenrabatte, die ebenfalls eine Variante des Sonderangebots darstellen. Es geht darum, günstiger zu kaufen, als die Konvention es gestatten würde. Als programmierte Warenmonaden spüren und fühlen wir diesen Unterschied. Die Differenz der doppelten Bepreisung affiziert uns. Wir sind regelrecht ausgeliefert. Dass man hier auf eine obligate Marketingmasche reinfällt, will den Bürgern nicht kommen, obwohl sie es wissen. Ihr Wissen ist irrelevant gegenüber ihren Zugriffen. Der Vergleich macht sie sicher. Punkto Preis reagieren sie wie Schildbürger auf Schilder.

Nicht mehr die endgültige Taxe ist ausschlaggebend dafür, diese oder jene Ware zu erstehen, es ist die etikettierte Differenz zwischen Ausgangspreis und Endpreis. Je eklatanter die Lücke, desto entschiedener das Verlangen. Minus 30, minus 50, minus 70 Prozent! The special offer erregt unser Interesse und reizt unser Verlangen. In den reellen und virtuellen Geschäften fällt der Blick vorrangig auf reduzierte Waren, sie werden auch schon so präsentiert, dass wir ihnen gar nicht entgehen können. Der eliminierte Normpreis wirkt wie ein Eye-Catcher. Wir beurteilen dann die entsprechende Ware an ihrer Preisabweichung. „Sale“, schreit das Schild.

Der Preis, den eins zu zahlen hat, die Begleichung einer Schuld, korrespondiert mit einem Verlust an Tauschwert. Dieser geht mit der Konsumtion von Produkt oder Leistung verloren. Doch die Differenz der Preise, die Reduktion, erscheint dem Käufer geradezu kontrafaktisch als Gewinn. Er verliert nicht Geld, das er zu zahlen hat, sondern er gewinnt Geld, weil er nicht den Listenpreis entrichtet. Der Preisvergleich suggeriert, dass dies akkurat ein günstiges Offert ist, das man unmittelbar gar nicht ausschlagen kann. Jener ermächtigt und drängt zur Transaktion. Zwar ist die unmittelbare Motivation, einkaufen zu gehen, vom Bedürfnis nach bestimmten Lebensmitteln geprägt, doch die faktischen Einkäufe weichen meist vom konkreten Vorhaben ab. Eins kauft deswegen oft auch Dinge, die weder unmittelbar noch mengenmäßig, geschweige denn auf lange Sicht benötigt werden, getrieben von der Vorstellung, dass man so günstig nicht mehr zum Zug kommt. Immer wird etwas mitgenommen, das ursprünglich nicht auf der Agenda gestanden ist. Die Körbe geraten voller als die Wünsche. Wir meinen uns gar zu belohnen, auch wenn wir in solcher Situation mehr auslegen als vorgesehen. Obgleich die Ausgaben sich erhöhen, glauben wir, dass sie sich senken. Alles kostet weniger, als es kostet, doch insgesamt kostet es mehr.

Gejagte Jäger

Reduzierte Waren erzeugen induzierte Käufer. Das Flanieren durch die Geschäfte ist kein profanes Beobachten und Schätzen von Gebrauchswerten und eine simple Rationalisierung ihrer Tauschwerte, es ist darüber hinaus ein sich verselbstständigendes Peepen von Preisen. Waren schreien nicht nur durch Reklame und Preis, sie kreieren zusätzliche Beachtung durch die heute flächendeckende Preisreduktion. Unterstellt wird, dass der unmittelbare Marktpreis unter dem eigentlichen Marktwert liegt. Ob das stimmt oder nicht, ist irrelevant, relevant ist, dass es so ankommt und dass die potenziellen Käufer dementsprechend funktionieren. Der Preis verrät nie, wes Ursprung er ist oder wes Manöver er darstellt. Stehen die Verkäufer unter Druck oder handelt es sich lediglich um einen PR-Coup? Den wahren Grund des Nachlasses erfahren wir nicht, den können wir bloß ahnen. Die deklarierte Preisreduktion evoziert beim Käufer den Eindruck, dass er hier und jetzt zulangen muss, dass er diese Gelegenheit nie und nimmer versäumen darf. Der Kunde ist wehrlos in seinem Handeln, mag er nun Bescheid wissen oder nicht. Ohne permanente, wenn auch wechselnde Sonderangebote kann heute kein Supermarkt mehr existieren. Die Frequenz ist steigend. An der Lebensmittelfront, an der wir täglich stehen, ist das am deutlichsten.

Der Gedanke an ermäßigte Preise treibt ganze Regimenter von Kaufwilligen in die Lokale und neuerdings auch in die virtuellen Läden. In Postkästen lauernde Werbeprospekte gehören ebenfalls dazu. Markante Sonderangebote erzeugen des Öfteren wahre Ameisenaufläufe in den Geschäften. Jeder Auflauf erhöht Aufmerksamkeit, ja er bestärkt den Eindruck, dass es dort etwas geschenkt oder äußerst billig abzuholen gibt. Diverse Shopping-Events werden gefilmt und medial vor- und auf-, zu- und nachbereitet, was den Effekt noch zusätzlich steigert. Käufer gleichen Lemmingen, die auf Zuruf angetrottet kommen. Sonderangebote ziehen sie in Windeseile an. Hungrige Waren erwarten gierige Freier, die bereitwillig antreten, um sie auszulösen. Kaufhäuser und Märkte wirken wie Sirenen und die Anvisierten wie hilflose Opfer, die ob des Angebots einfach „zuschlagen müssen“. Der übermächtige Kunde ist der übermächtigte.

Indes, Käufer sind Opfer und Täter in einem. Ohne sie geht zwar nichts, aber sie laufen doch meist wie am Schnürchen. Bei der Hatz nach Sonderangeboten verkennen die Kunden sich ständig, sie wissen zwar nicht, was sie sind, aber sehr wohl, was sie zu tun haben. Als Täter und Opfer unserer Geschäfte laufen wir alle im Laufrad des Kapitals. Jäger sind Gejagte. Doch die Charaktermasken selbst nehmen sich nur in der ersten Rolle wahr. Sie meinen Jäger zu sein, die da Produkte via Sonderangebot lukrieren, während sie doch ebenso die von den Waren aufgescheuchte Herde sind, die als Horde Märkte überfällt, durchwühlt, aufmischt. In den Einkaufswägen und Warenkörben liegen keine Trophäen, sondern Waren, deren Wert realisiert wird. Schnäppchenjagd ist mentales wie reales Training für Kunden. Während etwa Yuppies nicht auf den Preis schauen müssen, müssen die Normalos immer auf ihre schmale Börse achten. Der kaprizierte Blick auf den Preis ist der ausschlaggebende Aspekt der Entscheidungen. Das spezielle Angebot verführt potenzielle Erwerber dazu, zuzugreifen, nichts auszulassen, da es morgen schon zu spät sein könnte. It’s the opportunity, stupid! Waren verlangen von ihren Käufern ein schier angepasstes Verhalten. Und zwar pronto! Ihre Attraktivität liegt zuvorderst im Preis. Tauschwerte locken da mehr als Gebrauchswerte.

Neben den reduzierten gibt es noch die reduzierbaren Waren. Hier wird den Käufern selbst die Möglichkeit eingeräumt, Preisnachlässe vorzunehmen. Die Reduktion muss daher nicht unbedingt als Aktion (Abverkauf, Sparpreis etc.) vorgegeben sein, sie wird heute auch zusehends den Kunden selbst überlassen, indem sie auf ein gewisses Kontingent von Waren Verbilligungsmarken kleben oder Gutscheine einlösen können bzw. für einen gesamten Einkauf bestimmte Prozentpunkte in Abzug bringen dürfen. Das erhöht nunmehr den Griff auf teure Waren resp. führt zu umfangreichen, auf jeden Fall überdimensionierten Einkäufen. Der Trugschluss besteht darin, dass vergünstigt auch als günstig erscheint. Nebenbei wird auf diverse Sicherheiten, auf Garantien, auf Rückgabe- und Umtauschrechte, des Öfteren leichtfertig verzichtet.

Vorsatz und Absatz

Der Verkauf als Abverkauf imaginiert einen Kairos. Der Moment der ideellen Eingebung geht der reellen Ausgabe voraus. Diese Versprechen steigern auch immer das Tempo beim Umschlag der Waren. Zirkulation gerät ins Rasen. Objektive Notwendigkeiten paaren sich mit subjektiven Haltungen. Das Subjektive ist unerlässlicher, aber subordinierter Bestandteil des Objektiven. Der Stimulus zum Kauf ist zwar vorhanden, aber er muss zusätzlich aufgeheizt werden. Der Automat funktioniert nur, wenn man zufüttert. Das Geschäft ist kein profanes Treiben von Bedürfnissen, es ist ein markttechnisch hochgezüchtetes und komplexes Geflecht. Zweifellos ist es heute so, dass jedes Angebot als Sonderangebot erscheinen soll. Preisnachlässe sind obligat geworden, sodass davon auszugehen ist, dass durch sie mehr Absatz erzielt und Gewinn gemacht werden kann als ohne sie. Ermäßigte Waren erheischen mehr Aufmerksamkeit als jene, die nicht verbilligt wurden. Sie spielen in einer eigenen Klasse. Weiters wird suggeriert, dass man nun (aber eben nur jetzt!) günstiger zu etwas kommt, als dies normalerweise der Fall wäre. Kaufen ist dann nicht bloß die Möglichkeit, etwas zu bekommen, es ist die zeitlich begrenzte Chance, billig wegzukommen. Sonderangebote lokalisieren und terminisieren Kunden. Sonderangebote erhöhen die Bereitschaft hic et nunc diesen oder jenen Artikel zu erstehen. Es gilt, sich zu beeilen. Morgen schon könnte es zu spät sein.

Der Absatz ist meist größer als der Vorsatz. Käufer wollen stets weniger, als sie kriegen. Kauf übertrifft Kaufabsicht. Käufe orientieren sich primär an Angeboten. Da sein heißt dabei sein und dabei sein heißt, bestimmte Waren und Marken zu besitzen. Ohne sie erscheint man schnell als minderwertig. Wir haben ein obsessives Verhältnis zu den Waren. Moderne Konsumenten erwerben mehr, als sie brauchen. So stapelt sich Gerümpel in den Heimen und diverse Nahrungsmittel überschreiten das jeweilige Ablaufdatum. Es ist das „Haben-Müssen“, das da antreibt. Man hat zu haben. Dieses korrespondierende Wachstum ist den personifizierten Warenmonaden eingeherrscht. Es macht sie aus und es treibt sie an. „Mehr!“ lautet die Parole. Gegen Verkaufsstrategien ist jeder Konsumentenschutz eine unterlegene Größe. Hauptsächlich aufgrund der gesellschaftlichen Stellung, zusätzlich auch aufgrund der Dotierung. Alleine die Interventions- und Dispositionsmöglichkeiten sind absolut ungleich verteilt.

Digitalisierte Listen (Rechnungen, Bonuskarten, Zertifikate) sind inzwischen zu Dokumenten der Kontrolle und Observation geworden. Keine Erledigung, die nicht ihren Weg in zahllose Verzeichnisse findet und an diverse Algorithmen angedockt wird. Wir stehen unter Beobachtung. Kaum etwas wird so intensiv notiert und analysiert wie Marktverhalten und Kaufgewohnheiten, die eingespeist in die digitalen Systeme neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen und die Konkurrenz befeuern. „Die Welt als Warenhaus erweist sich als digitales Panoptikum mit einer Totalüberwachung“, schreibt Byung-Chul Han (Kapitalismus und Todestrieb. Essays und Gespräche, Berlin 2019, S. 35).

Sonderangebote und Ausverkäufe sind heute fester Bestandteil der kapitalistischen Zirkulation. Ein monetär diversifiziertes Warensortiment lässt die konditionierten Subjekte zum Erwerb antreten. Erst jenes konstituiert vollwertige Bürger. Der Appell verselbstständigt sich im Warensubjekt zur Befehlsausgabe. Er wird kanonisiert durch einen Gefangenenchor, der Käufer und Verkäufer auf allen Ebenen eingliedert. Aufgabe aller Verkaufsagenturen ist es, Wünsche zu generieren und anzustacheln, d.h. Nachfragen mit Angeboten zu synchronisieren, nicht umgekehrt! Für Verkäufer geht es nicht darum, einzelne Waren zu ihrem Wert zu verkaufen, sondern für Warenkontingente Durchschnittsprofite zu erzielen. Sie kalkulieren daher mit Sortimenten. Nicht einzelne Waren werden zu ihrem Wert verkauft, sondern bestimmte Warenkontingente über eine bestimmte Zeitdauer. Mengen werden auf Raum und Zeit bezogen und entsprechend disponiert. Berechnungen werden durch diese Mischkalkulationen immer komplexer, Prognosen schwieriger.

Sonderangebote und Aktionen, Preisnachlässe und Rabatte sind beständige Größen, d.h. sie sind Ausnahmen, die zur Regel geworden sind. Sie sind dazu da, zusätzliche Einnahmen zu lukrieren bzw. den Kampf um den Umsatz zu verschärfen. Es ist der „Werwolfsheißhunger“ (MEW, Bd. 23, S. 258) der Waren, der nach Verwertung am Markt und Entwertung in der Konsumtion schreit, der Kunden in Geschäfte und Netze treibt. Ihre gesellschaftliche Formierung als Charaktermasken macht sie zu Reflektanten und Sekundanten der Waren. Sie sind auf den synthetischen Vollzug abgerichtet. Sie dienen und bedienen, halten sich aber gerade deswegen für autonom und selbstbestimmt. Diese seltsame, d.h. unsinnlich-sinnliche Lust der Business-Aspiranten misst sich am Preis, nicht am Gegenstand. Etwas günstig erstanden zu haben, versetzt das bürgerliche Subjekt in Entzücken. Etwas günstig erstehen zu können, ist etwas, das die Warenwirtschaft andauernd unterstellen muss, will das Geschäft in Fluss gehalten werden. Es gilt, die Umlaufzeit des Warenkapitals so kurz als möglich zu halten. Stockungen und Staus sind Bedrohungen. Was da ist, muss raus, muss weg. Und zwar bald.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
2022
, Seite 24
Autor/inn/en:

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

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