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Karl Reitter

Das Elend der Zivilgesellschaft

In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von elaborierten Arbeiten zur Zivilgesellschaft erschienen. Der Anspruch, der mit diesem Begriff verbunden wird, ist umfassend: Im Gegensatz zu vorgeblich überholten und gescheiterten politischen Konzepten (Klassenkampf, spontane Revolten vom Typus 1968, gewerkschaftliche Interessensvertretung usw. ) soll das Konzept der Zivilgesellschaft den einzig vernünftigen und ernsthaften Horizont emanzipatorischen Handelns darstellen. Der Begriff beansprucht nicht nur eine Definition der politisch relevanten Akteure, sondern ebenso Aussagen über die politische Strategie. „Zivilgesellschaft stärken“, „Zivilgesellschaft bilden“ so und ähnlich lauten die Schlagworte. Wie sehr die ProtagonistInnen von der Bedeutung ihres Begriffs überzeugt sind, zeigte die Stellungnahme von Oliver Marchart auf dem Symposium „Zivilgesellschaft – ein Begriff macht Karriere“. Die bisherige Widerstandsbewegung gegen die Schwarz-Blaue Bundesregierung hätte nur passiv reagiert, allein das Konzept der Zivilgesellschaft würde die Möglichkeit zum aktiven, bewußten Agieren eröffnen. Umstandslos wird politische und soziale Opposition für die Zivilgesellschaft reklamiert. „Inzwischen werden auch im politischen Mainstream-Diskurs gerade die oppositionellen Bewegungen als die Zivilgesellschaft und die Aktiven des Widerstands als Mitglieder der Zivilgesellschaft verstanden. Der Begriff hat damit einen linken Spin bekommen.“ [1] Der Anspruch, erst der Begriff der Zivilgesellschaft würde dem Widerstand Inhalt und Richtung gegeben, ist zurückzuweisen. Sowohl auf der Ebene der gesellschaftstheoretischen Analyse als auch im Feld der praktisch politischen Konsequenzen zeigen alle Versionen des Zivilgesellschaftskonzeptes massive Schwächen und theoretische Fehlannahmen. Den Terminus Zivilgesellschaft halte ich durchgehend für einen Fehlbegriff.

Das erste, unmittelbar ins Auge springende Merkmal ist die vielfältige, ja widersprüchliche Verwendung dieses Ausdrucks. In machen Artikeln und Stellungnahmen scheint der Begriff überhaupt redundant zu sein, man könnte ihn ersatzlos wegstreichen, ohne den Inhalt der Aussage zu verändern. Obwohl seine inflationäre Nennung stutzig macht und modische Beliebigkeit signalisiert, kann dieser Umstand allein keine ernsthafte Kritik begründen. Gewichtiger ist das Faktum, daß nach dem Zusammenbruch des sogenannten Realen Sozialismus in Osteuropa „Zivilgesellschaft“ als „eine radikal beschönigende Beschreibung realkapitalistischer Verhältnisse“ [2] fungierte. De facto stand hinter diesem Begriff die Sehnsucht nach der ausdifferenzierten, parlamentarischen Gesellschaft des Westens, einer Gesellschaft, in der kein allmächtiger Partei- und Staatsapparat jedes öffentliche und kulturelle Leben erstickt und jede unabhängige Initiative mit Polizeimethoden verfolgt und kriminalisiert. Zivilgesellschaft fungierte nur als Euphemismus für die kapitalistische Gesellschaft und ihre rechtsstaatliche Verfassung. Politisch wurde und wird dieser Begriff gegen alle Ansätze gewendet, die kapitalistische Strukturen in Frage stellen. Exemplarisch findet sich dieser Ansatz in der Arbeit von Ernest Gellner „Bedingungen der Freiheit“. [3] Die Arbeit lehnt sich nicht nur im Titel, sondern auch im Inhalt an das offenbar als Vorbild empfundene Buch von Popper, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, an.

Im Kontext westlicher Gesellschaften wurde diesem Begriff eine weitere, spezifische Wendung gegeben. Das Stichwort lautet Entstaatlichung; soziale und kommunale Aufgaben sollen aus den Händen des Staates in die von privaten Initiativen überführt werden. Exemplarisch dafür ist das Konzept der Bürgergesellschaft von Andreas Khol. Hinter diesem Begriff von „Zivilgesellschaft“ steht der uralte Slogan „Mehr Privat, weniger Staat“.

Von den VertreterInnen der kritischen Variante wird diese Konzeption von Zivilgesellschaft entschieden zurückgewiesen. Ihre Zivilgesellschaft habe mit der neoliberalen Verwendung bestenfalls das Wort gemeinsam. Zivilgesellschaft sei also weder eine elegante Umschreibung entwickelter kapitalistischer Gesellschaften, noch stehe sie für den Abbau des Sozialstaats. Der zweite Punkt ist richtig, die Konzepte der Zivilgesellschaft sind ebensowenig unsozial wie es die Gewerkschaftsbewegung oder die linke Sozialdemokratie ist. Was den ersten Punkt betrifft, so sind jedoch massive Zweifel anzumelden.

Die übliche, kaum bestrittene Definition lokalisiert Zivilgesellschaft in der Sphäre jenseits von Markt und Staat. Da Zivilgesellschaft zugleich mit Öffentlichkeit assoziiert wird, scheidet der private, intime Bereich ebenso per definitonem aus der Sphäre der Zivilgesellschaft aus. Zivilgesellschaft wird in jenem Teilbereich der sozialen Ordnung lokalisiert, der in der Tradition von Hegel und Marx als „bürgerliche Gesellschaft“ zu bezeichnen ist. Das Ergebnis der Analyse dieser Sphäre durch Hegel und Marx ist jedoch düster, läßt kaum vermuten, daß gerade hier die Quelle für emanzipatorisches Handeln liegen könnte. Im Gegenteil, Hegel ortet die Entgegensetzung der Privatinteressen, die Zerrissenheit und den Widerspruch, Marx konkretisiert diese Analyse durch den Verweis auf die ökonomischen Interessen der Akteure: Vereinzelte Privatproduzenten könnten ihren gesellschaftlichen Zusammenhang nur mittels des Abstraktums „Wert“ herstellen.

Doch die Theorie der Zivilgesellschaft erhebt gar nicht den Anspruch, die Mechanismen der „bürgerlichen Gesellschaft“ kontrovers zur Marktlogik neu zu definieren. Nicht das Individuum als „bourgeois“, als das von ökonomischen Interessen geleitete soziale Atom sei relevant, sondern der Mensch als Träger der Kultur und des politischen Engagements bilde das Rückgrat der Zivilgesellschaft. „Mit Zivilgesellschaft ist der zwischen Basis und Überbau, Ökonomie und Staat angesiedelte Kernbereich des kulturellen Lebens gemeint, wie ihn jede entwickelte, arbeitsteilig organisierte Gesellschaft aufzuweisen hat.“ [4] Dieser Ausschluß des Ökonomischen ist zumindest merkwürdig. Die Karriere dieses Begriffs steht in einem parallelen Verhältnis zur verschärften Durchdringung der Gesellschaft durch die Imperative des Marktes, der öffentlichen Wahrnehmung dieses Phänomens und der erneuten wissenschaftlichen Reflexion der Bedeutung von Kapital und Markt. Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten zehn, fünfzehn Jahre hat das Thema der Ökonomie erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Sowohl im kritischen als auch im affirmativen Diskurs sind ökonomische Fragen allgegenwärtig. Es stellt sich also schon hier die Frage, ob die ProtagonistInnen der Zivilgesellschaft nicht an wesentlichen Tendenzen der gesellschaftliche Entwicklung vorbei theoretisieren.

Es besteht allerdings kein Grund, die massive Bedeutung der Kultur, der Sitten und Gebräuche, der Öffentlichkeit, also aller nicht ökonomischer Faktoren, zu leugnen, im Gegenteil. Wir folgen der Theorie der Zivilgesellschaft gerne auf dieses Feld, merken allerdings an, daß die bereits von Marx analysierte Trennung zwischen dem politisch engagierten Staatsbürger (citoyen) und dem seinen ökonomischen Interessen folgenden Realbürger (bourgeois) als nicht überwundene Dichotomie an allen Ecken und Enden des Zivilgesellschaftsdiskurses hervorlugt.

Wenn nun unter Zivilgesellschaft der kulturelle und politische Aspekt des öffentlichen Lebens verstanden wird, so stellt sich sofort die Frage, was daran an sich fortschrittlich oder emanzipatorisch sein soll. In dieser Sphäre tummeln sich ja nicht nur fortschrittliche Gruppen, sondern auch äußerst reaktionäre oder konservative Kräfte. Wir müssen sogar davon ausgehen, daß diese Kräfte gesellschaftlich hegemonial sind. Was ist also an der Sphäre jenseits von Staat und Markt an sich so emanzipatorisch? An diesem Punkt der Debatte wird oftmals Gramsci zitiert. Gramsci, so wird argumentiert, habe der Zivilgesellschaft gewisse positive Qualitäten zugesprochen.

Gramscis Zivilgesellschaft

Gramsci befand sich nicht nur im Gefängnis des italienischen Staates, er war auch Gefangener des Leninistischen Denkens. Sein Werk kann als gigantische Anstrengung verstanden werden, die Reduktion des Revolutionsbegriffs auf bloße Machtergreifung ebenso zu überwinden, wie die Bestimmung des Charakters der Gesellschaft durch die Definition jener, die die Macht ausüben. Zugleich war und blieb er ein Theoretiker der Komintern, er dachte in Begriffen des Klassenkampfes. Für Rußland akzeptierte er den Leninismus, für die westliche Gesellschaften stellte er ihn in Frage. Sein Leitmotiv war das Problem, wie die sozialistische Revolution auch im Westen möglich sei. Im Gegensatz zum sogenannten unzivilisierten Osten, wo sich zwischen dem repressiven Staatsapparat und den Massen eine Leerstelle befand, so erschien es Gramsci zumindest, vollziehe sich im Westen die Zustimmung zur kapitalistischen Ordnung naturwüchsig in den Poren des Alltagslebens. Während in Rußland ein offener „Bewegungskrieg“ möglich gewesen sei, erfordere im Westen die komplexe soziale Struktur einen „Stellungskrieg“. Die Vorbedingung der sozialistischen Umgestaltung sei die Gewinnung der Hegemonie im Feld der Sitten und Gebräuche, im Feld der Kultur. An sich ist an der Zivilgesellschaft (società civile), die er begrifflich von der bürgerlichen Gesellschaft abgrenzte (società borghese), überhaupt nichts Positives. Einen gewissen positiven Aspekt hat der Begriff bei ihm nur insofern, als er dem italienischen Faschismus die Macht zuschrieb, die zivilgesellschaftlichen Elemente zu zerstören oder repressiv zu kontrollieren. Fehlt die Zivilgesellschaft, fehlt somit das Feld des Stellungskrieges, das Feld der Auseinandersetzung um die Antizipation sozialistischer Elemente. Nur deswegen sei die Ausbreitung zivilgesellschaftlicher Elemente zu begrüßen und zu fördern. Die Vernichtung der Zivilgesellschaft durch einen totalitären Staat ist in den westlichen Industriestaaten nun alles andere als aktuell. Das Berufen der TheoretikerInnen der Zivilgesellschaft auf Gramsci erweist sich als reines „name dropping“. Präzise Bezüge zum Werk des italienischen Marxisten werden kaum hergestellt, mehr als ein suggestives „Auch Gramsci sieht Zivilgesellschaft positiv“ ist vielen Arbeiten nicht zu entnehmen.

Aber selbst wenn man Gramsci „gegen den Strich“ liest, erweist sich seine Konzeption als das Gegenteil dessen, was allgemein unter Zivilgesellschaft verstanden wird. Kultur, Sitten und Gebräuche sind nichts Unbewertetes, sie tragen den Index von Herrschaft und Emanzipation. Im Anschluß an Gramscis Begriff der Hegemonie kann folgender Gedanken entwickelt werden: „Sozialismus ist insofern schlechthin nicht anders denkbar denn als Resultat eines stetigen Erstarkens zivilgesellschaftlicher Strukturen, innerhalb derer antikapitalistische Kräfte hegemoniefähig werden.“ [5] Damit eröffnet sich das Feld der Alltagskultur und die Frage, welche Formen innerhalb dieser Alltagskultur hegemonial werden. Der Höhepunkt der praktischen Versuche, im Hier und Heute neue, nicht bürgerliche Lebensformen auszuprobieren, fand als Teil der 68er Revolte statt. Ob man diese Ansätze als Gegenkultur, Subkultur oder Gegengesellschaft bezeichnet – praktisch wie theoretisch gibt es keinerlei Überschneidung mit der Zivilgesellschaftstheorie.

Zivilgesellschaft und Menschenrechte

Als Akteure der Zivilgesellschaft werden in der Regel politische Gruppen und Initiativen genannt, die jenseits von Markt und Staat in der Öffentlichkeit agieren. Beispiel dafür seien die BürgerInneninitiativen, die NGOs, UmweltaktivistInnen und unabhängige Medien. Mit der Aufzählung der „guten Kräfte“ ist es freilich nicht getan. Es müssen Kriterien entwickelt werden, die die „eigentlichen“ Elemente der Zivilgesellschaft von den konservativen und reaktionären Kräften abgrenzen. Dieser Umstand ist den TheoretikerInnen der Zivilgesellschaft sehr wohl bewußt. Vor allem jene, die Zivilgesellschaft mit den Menschenrechten verbinden, führen eine Reihe von Merkmalen an, um sie von anderen Initiativen abgrenzen. Günter Frankenberg nennt folgende Punkte: Zivilgesellschaftlicher Charakter käme nur Gruppen zu die, a) selbstorganisiert sind, b) gleiche Rechte für alle fordern, c) ihren Gegnern ebenso politische Freiheiten zugestehen, d) auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen und schließlich e) auf die Erzeugung kommunikativer Macht durch die vernünftige Rede setzten. [6] Während Frankenberg den Bezug zum abstrakten Rechtshorizont als politischen Kern der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten eher vorsichtig herstellt und die demokratietheoretische Variante mitdenkt, formuliert Thomas Metscher ganz unverblümt: „Wenn selbstbestimmtes menschliches Handeln Kern der Menschenrechte ist, dann ist Zivilgesellschaft der zentrale Ort, an dem die Menschenrechte ihre Wirklichkeit haben. Sie ist zugleich auch zentraler Ort des Kampfes um ihre Durchsetzung.“ [7] Mit dieser Definition ist zwar eine klare Bestimmung der politischen Aufgaben der Zivilgesellschaft getroffen und eine systematische Linie der Abgrenzung gezogen, doch um welchen Preis?

Wie Marx trefflich analysierte, sind Menschenrechte eine halbe Sache. [8] Der historische Fortschritt durch die Verkündigung von abstrakten Rechten, die alle Menschen unabhängig von Herkunft, Stand und Geschlecht gleichsetzen, kann die Spaltung des Individuums in den abstrakten Rechts- und Staatsbürger (citoyen) und den konkreten Menschen in der Wirklichkeit seiner gesellschaftlichen und individuellen Existenz (bourgeois) nicht überwinden. Im Gegenteil, diese Spaltung wird noch gefestigt.

Auch zwischen den abstrakten Prinzipien der Menschenrechte und der konkreten Gesetzgebung klafft eine Lücke. Egal ob es sich um sogenannte Freiheitsrechte (die das Recht auf Eigentum, das heißt auf Kapitalbesitz immer einschließen), um politische Partizipationsrechte oder um soziale Grundrechte handelt, mehr als ein Metaprinzip können Menschenrechte nicht darstellen. Durch den signifikanten Verrechtlichungsschub geraten immer mehr Breiche des Lebens unter immer komplexere Rechtsbestimmungen, die nur noch für Fachleute und Spezialisten überschaubar sind. Der Deklamation von Menschenrechten steht ein komplexes Rechtssystem gegenüber, wobei erstere nur als folgenlose Präambeln fungieren können. Rechtswirksam kann aus ihnen buchstäblich nichts abgeleitet werden. Denken wir an das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dem abstrakten Prinzip steht eine Flut von Gesetzeswerken gegenüber; der Bogen spannt sich vom Medienrecht über das bis hin zu den ebenfalls rechtlich geordneten gesellschaftlichen Institutionen von Schule, Heer und Betrieb, in denen dem Individuum bis ins Detail vorgeschrieben wird, wann es zu sprechen und wann es zu schweigen hat. Im Regelwerk der Gesetzbücher sind abstrakte Prinzipien, so sie nicht rechtswirksam im Grundgesetz stehen, ausgelöscht und bedeutungslos.

Selbst die Rechtsstaatlichkeit als solche, die im Gegensatz zur Willkür steht, kann aus den Menschenrechten nicht gefolgert werden. Ein Beispiel dafür ist die Todesstrafe. Vorausgesetzt der Prozeß, in dem eine Person dazu verurteilt wird, ist korrekt verlaufen und die Todesstrafe steht im Strafgesetzbuch. In diesem Fall steht der Appell, sie nicht zu vollziehen, gegen geltendes Recht. Und genau mit diesem Hinweis werden Interventionen von Menschenrechtsgruppen regelmäßig abgeschmettert. Man könnte nun einwenden, gerade dieses Beispiel zeige die Bedeutung der Menschenrechte. Daß diese nicht in konkreten Gesetzen ihren Ausdruck fänden, sei kein Mangel, sondern im Gegenteil ein Vorteil. Gerade deshalb würden sie ethische Minimalbedingungen formulieren und jenen transzendentalen Ort darstellen, von dem aus konkrete Verhältnisse, Situationen und Gerichtsurteile usw. einer Beurteilung unterzogen werden könnten. Sie bezögen ihre argumentative Kraft aus dem Umstand, daß sie nicht „verwirklichbar“ wären. Hinter der These der argumentativen Kraft der Menschenrechte steht die Auffassung, alle Menschen, sofern sie vernünftig argumentierten, müßten den Menschenrechten zustimmen. Aus dieser kontrafaktischen Zustimmung wird nun der Druck abgeleitet, den das Berufen auf die Menschenrechte erzeuge. Auch jene, die Menschenrechte verletzen, zumindest jedoch die Öffentlichkeit, müßten ihren Prinzipien zustimmen. Im Kern ist dies das Verallgemeinerungsargument Kants, besser bekannt als kategorischer Imperativ. Eine Handlung, so Kant, sei dann ethisch, wenn ihr Prinzip („die Maxime“) verallgemeinerbar sei. Die Crux dieser Auffassung ist leider in der Tatsache zu finden, daß die Auffassung, was denn verallgemeinerbar sei, höchst unterschiedlich ist. Die Anhänger der Todesstrafe sind sehr wohl der Meinung, daß diese bei schweren Vergehen vollzogen werden soll. Sie halten sie nicht für unmenschlich, sondern für gerecht und verallgemeinerbar.

Alle Prinzipien und Grundsätze sind kontrovers. Je mehr diese Grundsätze konkretisiert werden, mit der realen Welt in Berührung kommen, desto kontroversieller werden sie. Erreichen sie die Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit, brechen die Gegensätze offen aus. Im realen gesellschaftlichen Kontext treten die Menschenrechte an zwei entgegengesetzten Polen in Erscheinung, am Pol der Macht und am Pol der Machtlosigkeit und Verzweiflung. Wir erinnern uns an die Schlußakte von Helsinki. Wir wissen, es war ein politischer Schachzug, um die Staaten des sogenannten Realen Sozialismus unter Druck zu setzen. In vielen außereuropäischen Ländern kritisiert die Opposition das korrupte undemokratische Regime im Namen der Menschenrechte, um ihr eigenes, korruptes undemokratisches westlich orientiertes System an deren Stelle zu setzen. Auf der anderen Seite stehen jene Personen und Gruppen, die in Gefängnissen und Schubhaft von gesellschaftlichen Kräften und Interessengruppen ignoriert, in die Klauen der Macht geraten sind. Da ihnen der Rechtsweg zumeist durch geltendes Recht verwehrt ist, bliebt nur noch das von Verzweiflung getragene Berufen auf Menschenrechte.

Die Konstellation Machtlosigkeit gegen Macht fließt, vor allem auf internationaler Ebene, in die Konzeption der Zivilgesellschaft ein. Insbesondere bei Reinhard Kößler und Henning Melber, die sich sehr stark auf die Politik der NGOs in außereuropäischen Ländern beziehen, tritt das Moment der Kritik am Machtmißbrauch in der Vordergrund. Sie geben ihrer Argumentation eine deutlich anti-staatliche Ausrichtung. „Zivilgesellschaft verstehen wir zunächst als ein Netzwerk von Organisationen und informellen Zusammenhängen, das geeignet ist, als Widerlager und Widerpart gegenüber dem jeweiligen Staatsapparat aufzutreten.“ [9] Auf der einen Seite steht in ihrer Analyse der Staat (im ehemaligen Osteuropa oder in manchen außereuropäischen Ländern eine allmächtige Partei), auf der anderen Seite die plurale Zivilgesellschaft, die als Gegenspieler fungiert. „Es geht um die Vergegenwärtigung von grundlegenden Prozessen, die uns zeigen, daß Zivilgesellschaft sich hier vor allem als Gegen-Öffentlichkeit konstituiert, Gegen-Organisationen, Gegengewichts zu den Apparaten von Staat und Partei.“ [10] Auch hier wiederholt sich die Frage, was ist an Anti-Staatlichkeit per se positiv? Die Konzentration auf die Menschenrechte gibt die Antwort. Der Zivilgesellschaft falle Kraft ihres öffentlich geführten Diskurses die Aufgabe zu, Verletzungen der Menschenrechte durch den Staatsapparat aufzuzeigen und zu denunzieren. Der Zivilgesellschaft, die begrifflich in dieser Konzeption fast mit der diskutierenden Öffentlichkeit verschmilzt, kommt also die Funktion eines Korrektivs, einer mahnenden und kritischen Stimme zu. Diese Aufgabe sei dann besonders dringlich, wenn der Staat (oder die Partei) nicht nur punktuell, sondern strukturell und permanent die Menschenrechte mißachte.

Daraus ergeben sich zumindest zwei Konsequenzen. Erstens erschöpft sich die politische Aufgabe der Zivilgesellschaft in einer unendlichen politischen Bewegung. Wo es Macht gibt, gibt es Mißbrauch. In einer asymtotischen Annäherung an den idealen und korrekten Staat muß dieser immer wieder auf die Einhaltung seiner eigenen Rechtsgrundlagen und normativer Maßstäbe verpflichtet werden. Die Zivilgesellschaft kann und will sich nicht an seine Stelle setzen. Sie kann und will nur als ewiges Korrektiv fungieren. Die Institutionen der Gesellschaft – Staat und Markt, die repräsentative Demokratie, die kapitalistische Produktionsweise usw. – werden keineswegs hinterfragt, sondern sollen umgekehrt auf einen, in der Realität nie zu erreichenden Idealzustand optimiert werden. Das politische Ziel der Zivilgesellschaft kann in dieser Konzeption nur darin bestehen, ein Fließgleichgewicht zwischen der Mißachtung der Menschenrechte, oftmals durch den Staat, und ihrer Einhaltung und Durchsetzung, wiederum durch den Staat, herzustellen. Daher muß die proklamierte Anti-Staatlichkeit der Zivilgesellschaft ins Gegenteil umschlagen. Denn als Garant für Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung von Grund- und Menschenrechten kann gegenwärtig nur das Machtmonopol Staat fungieren.

Die zweite Konsequenz führt uns in die Arena der internationalen Politik. Menschenrechte werden in den verschiedenen Regionen in unterschiedlichem Ausmaß verletzt, wobei ihre Mißachtung wesentlich von ihrer Definition abhängt. Offenbar existieren Staaten, in denen die Zivilgesellschaft stärker, und andere, in denen sie weniger kräftig entwickelt ist. Daher kann der Staat einmal mehr, das andere mal weniger in die moralische Pflicht genommen werden. Der ambivalente Charakter des Staates spaltet sich geographisch und regional auf. Den Wächtern der Menschen- und Bürgerrechte stehen die sogenannten Schurkenstaaten gegenüber. Eine Theorie der Zivilgesellschaft, die ausschließlich die Menschenrechte zu ihrem Dreh- und Angelpunkt erklärt, droht somit in die ideologische Rechtfertigung für Militäraktionen und Bombenteppichen abzugleiten.

Zivilgesellschaft als Demokratiemodell

Der Essay „Die demokratische Frage“ von Dubiel, Rödel und Frankenberg zählt zweifellos zu den Standardwerken zur Zivilgesellschaft. Im Gegensatz zu der mehr defensiv argumentierenden, auf die Menschenrechte ausgerichteten Variante, wird darin ein weit umfassender Anspruch formuliert. Die Autoren verknüpfen Zivilgesellschaft mit Demokratie. Ihr Ausgangspunkt ist die von Arendt übernommene Interpretation der Revolution als Gründungsakt des öffentlichen politischen Raumes, die sie mit den Thesen von Lefort und teilweise mit jenen von Castoriadis verknüpfen.

Diesen Gründungsakt sieht Arendt in der Amerikanischen Revolution verwirklicht. In ihrer sehr idealisierten Beschreibung, die sie mehr in die historischen Ereignisse hineinliest denn aus ihnen ableitet, konstituierte die Unabhängigkeitserklärung den öffentlichen Raum, in dem sich die Menschen sprechend und handelnd begegnen könnten. Da dies ein Raum der Freiheit sein muß, hätten die Fragen der Lebensnot, insbesondere die Bekämpfung von Armut und Elend, darin nichts verloren. Aus diesem Grund stellt sie die Amerikanische Revolution auch über die Französische, die, nach ihrer Auffassung, von Anbeginn an mit ökonomischen Problemen kontaminiert gewesen sei. Die Autoren kritisieren zwar den Ausschluß der sozialen Frage aus dem Raum der Demokratie, folgen ihr jedoch in der emphatischen und idealisierenden Darstellung des demokratischen Prozesses. In diesem Zusammenhang interpretieren sie die Erklärung der Menschenrechte, die ja diesseits und jenseits des Atlantiks eine bedeutende Rolle spielte, auf sehr spezifische Weise. „Die Geltungsgründe dieser Rechte sind folglich nicht mehr im metaphysischen Jenseits einer menschlichen Natur, eines christlichen Menschenbildes oder einer abstrakten vernunftbestimmten Freiheit und Autonomie zu suchen.“ [11] Die Konstitution des öffentlichen Raums der Demokratie durch die Proklamation der Menschenrechte, die aus keiner Quelle abgeleitet, sondern nur im Akt der Selbstermächtigung verkündet werden könnten, läßt Demokratie als schranken- und grenzenloses Projekt erscheinen. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die These von der Leerstelle der Macht. Darunter ist zu verstehen, daß demokratisch legitimierte Herrschaft nicht substantiell als Ausdruck transzendentaler Bedeutungen interpretiert werden könne. Die Depotenzierung der sakralen und traditionalen Legitimationsformen von Macht durch den voluntaristischen Gründungsakt ermögliche das Projekt der Demokratie.

Das Schwanken zwischen dem Anspruch, eine reale Bilanz der Geschichte von Demokratie und Menschenrechten vorzulegen oder doch nur bloße Möglichkeiten zu beschwören, wiederholt sich in der These vom nachholenden Gründungsakt. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus lag nicht nur Deutschland, sondern auch das zivilgesellschaftliche Element in Trümmern. Um den Raum der Demokratie zu eröffnen sei es notwendig, den Gründungsakt der Demokratie prozessual nachzuholen. Willkürlich wird die Nachkriegsgeschichte Deutschlands in das Korsett der Zivilgesellschaft gepreßt und ein demokratischer Aufbruch behauptet, den ich bei bestem Willen nicht erkennen kann. Hingegen wird die Rebellion von 1968, die zweifellos die bedeutendste revolutionäre Welle nach 1945 in den westlichen Industriestaaten war, die eine gigantischen Breite der Oppositionsformen aufwies, elegant übersprungen. Die GRÜNEN wiederum werden mit ontologischen Weihen versehen. Anstelle der Analyse von Widerstandsformen, die das politische Selbstverständnis der Akteure einschließt, wird den geeignet erscheinenden KandidatInnen das Etikett Zivilgesellschaft übergestülpt.

Bei Rödel, Frankenberg und Dubiel ist Zivilgesellschaft immer noch mit dem politischen Engagement, mit dem Heraustreten der BürgerInnen aus der Sphäre des Privaten und Ökonomischen verbunden. Obwohl vor allem letztere unangetastet bleibt, die Trennung von citoyen und bourgeois nicht überwunden, sondern im Gegenteil nochmals theoretisch fixiert wird, erfordere Zivilgesellschaft doch eine spezifische politische Aktivität, ein öffentliches bewußtes Auftreten. Im Umkreis der auf Habermas beruhenden Theoriebildung fällt freilich das öffentliche politische Engagement weg. Während die Autoren der „Demokratischen Frage“ in ihrem sehr selektiven Anschluß an Hannah Arendt von der Konstitution und Besetzung des Raumes der Politik als Bedingung der Zivilgesellschaft ausgehen, sollen sich zivilgesellschaftliche Prozesse in Anschluß an Habermas quasi naturwüchsig in den Poren des Alltags vollziehen. Den Hintergrund der merkwürdigen Auffassung, in der „Moderne“ würden sich zivilgesellschaftliche Elemente naturwüchsig ausbreiten und durchsetzen, bildet ein komplexes Theoriegeflecht. Ausgehend von diesem Geflecht läßt sich ein Begriff von Zivilgesellschaft ableiten, in dem Zivilgesellschaft als automatisches Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint.

In allen Varianten zeichnet der Begriff der Zivilgesellschaft ein affirmatives, ja tendenziell unkritisches Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Selbstverständlich läßt sich über das Ausmaß der Negativität der herrschenden Vergesellschaftung diskutieren, aber sie läßt sich nicht wegdiskutieren. Die ProtagonistInnen der Zivilgesellschaft sollten zumindest anerkennen, daß theoretische Einsichten und soziale Erfahrungsmomente existieren, die ihren Annahmen grundlegend widersprechen.

[1Marchart, Oliver: Kampf um Begriffe, in: Jungle World 13/1999

[2Krieger, Verena: Gramscis Zivilgesellschaft – ein affirmativer oder ein kritischer Begriff? , in: Kulturen des Widerstands. Hg. Von Johanna Borok, Birge Krondorfer, Julius Mende, Wien 1993, S. 63

[3Gellner, Ernest: Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995

[4Metscher, Thomas: Zivilgesellschaft und Kultur, in: Kulturen des Widerstands. a.a.O., S. 39

[5Krieger, a.a.O., S. 70

[6Frankenberg, Günter: Die Verfassung der Republik Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 54

[7Metscher, a.a.O., S. 58f

[8Vgl. Marx, Karl: Zur Judenfrage, in: MEW 1/347 – 377

[9Kößler, Reinhard; Melber, Henning: Chancen internationaler Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 93

[10a.a.O., S. 65

[11Rödel, Ulrich; Frankenberg, Günter; Dubiel, Helmut: Die demokratische Frage, Frankfurt am Main 1989, S. 103

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
2001
, Seite 25
Autor/inn/en:

Karl Reitter:

Marxistischer Autor in Wien und Mitglied der grundrisse, Redaktionsmitglied von Context XXI von Dezember 2000 bis November 2001.

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