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Alternative Liste Niederösterreich

Brief an eine Kandidatin
Brief an einen Kandidaten

Du wirst eines Tages möglicherweise uns, unsere Gruppe, unsere Ziele und Forderungen im Landes- oder Bundesparlament vertreten. So wirst Du verstehen, daß wir gewisse Erwartungen an Dich haben. Erwartungen an Deine Anschauungen, Dein Verhalten und Deine Fähigkeiten.

Damit wir uns nicht gleich am Anfang mißverstehen: Wir wollen nicht den strahlenden Parteihelden, den unfehlbaren Führer, der sein Parteivolk ins gelobte Land der Parlamentsmehrheit führt. Der Personenkult der alten Parteien, ihre Fixierung auf eine Führerfigur sind für uns kein Vorbild. Wir wollen keine Stars, sondern ganz normale Menschen, die bereit und in der Lage sind, sich für eine alternative Politik einzusetzen.

Bevor wir Dir unsere Erwartungen mitteilen, reden wir doch kurz davon, was wir uns nicht von Dir erwarten. Wir haben ja schon damit begonnen, indem wir sagten, daß wir keinen neuen Führer brauchen. Wir wollen aber auch keine Parteisoldaten, die bedingungslos die Parteilinie vertreten, was immer diese auch sei; die jeden Schwenk mitmachen und aus einer fragwürdigen Loyalität heraus Dinge gutheißen, und verteidigen, die sie vor sich selber gar nicht vertreten können.

Wir wollen selbstredend auch keine Opportunisten oder Karrieristen. Niemand will solche Leute. Aber das Wollen allein ist, wie die Erfahrung zeigt, zu wenig. Es müssen für diese Charaktere die Anreize, nämlich die Möglichkeit zu Geld und Macht zu kommen, auf ein Minimum eingeschränkt werden. Unsere Bezüge-Regelung wird zweifellos verhindern, daß sich jemand zu uns verirrt, der meint, daß man mit Politik das große Geschäft machen könne.

Und schließlich, als anderes Extrem zum Opportunisten, wollen wir auch keinen Parteimärtyrer; der für die „Bewegung“ sich aufopfert, seine ganze Existenz hinwirft, Gesundheit und Sozialbeziehungen dafür aufs Spiel setzt; kein Privatleben mehr kennt. Politische Arbeit soll, wie jede sozial nützliche Arbeit, auch Spaß machen. Und es darf kein sonderliches Problem bedeuten, eines Tages das politische Mandat an einen anderen weiterzugeben und zur früheren Tätigkeit zurückzukehren. Es ist besser, die Arbeit auf mehr Leute aufzuteilen als daß wenige sich im Politikerstreß verzehren. Überhaupt wollen wir einen Berufspolitiker nach Möglichkeit vermeiden. Wir werden Dich in Deiner Arbeit sicherlich auch danach beurteilen, wie gut Du die anfallenden Arbeiten verteilen und weitergeben kannst.

Wir wollen also keine Führer, keine Parteisoldaten, keine Opportunisten und keine Märtyrer. Jetzt unsere positiven Erwartungen:

Wir erwarten von Dir, das ist wohl selbstverständlich, daß Du die vier Grundprinzipien der Alternativen Liste verstehst und sie als Richtschnur auch für Dein eigenes Leben annimmst:

  • ökologisch — als Liebe zur Natur und Kreatur,
  • solidarisch — als Liebe zum Mitmenschen,
  • basisdemokratisch — als Absage an Machtstreben und Herrschaft,
  • gewaltfrei — als freundliche und produktive Weise, mit Konflikten umzugehen.

Von den Grundsätzen der „Grünen Alternativen“ ausgehend, erwarten wir von Dir vor allem vier besondere Fähigkeiten:

  • die Fähigkeit, Betroffenen zum Ausdruck zu verhelfen,
  • Eigensinn und Gruppensinn,
  • Lernfähigkeit.

Es erstaunt Dich vielleicht, daß in dieser Liste Eigenschaften wie Sachkenntnis, Erfahrung in der Kommunalpolitik usf. fehlen. Gewiß sollen zumindest einige unserer Kandidaten Sachverstand und Erfahrung schon mitbringen. Wichtiger ist, daß unsere Kandidaten lernfähig sind. Hier unsere Gründe, warum wir vor allem die vier Eigenschaften von Dir erwarten:

  • MUT. Damit meinen wir nicht jene klassische männliche Eigenschaft, die nötig ist, um Gegner zu besiegen. Uns geht es mehr um den Mut zum Anderssein, den Mut gegen den Strom zu schwimmen und nicht mit den Wölfen zu heulen; Mut, Widerstand zu leisten gegen scheinbar Übermächtige und dem Anpassungsdruck standzuhalten. Denn heute genügt es nicht, die anwachsenden Zerstörungen und die Korruption zu sehen; jetzt ist es nötig, die Mißstände klar zu benennen und öffentlich dagegen anzugehen. Daher ist Mut jetzt das Wichtigste; wir erwarten von Dir, daß Du gelassen und unüberhörbar zusammen mit den Betroffenen gegen die Mißstände angehst. Und Du wirst Ausdauer und Zähigkeit und einen langen Atem brauchen.
    Wir werden unsere Ziele nicht alle schon morgen erreichen. Was die Alternativbewegung nicht selbst erkämpft, wird nicht erkämpft. Es geht ja, wie Du weißt, nicht um eine bessere Politik für NÖ allein, es geht um eine Umgestaltung unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft. Anders hätte unser politisches Arbeiten keine Perspektive.
  • DEN BETROFFENEN ZUM AUSDRUCK VERHELFEN. Wir erwarten von Dir, daß Du eine Sprache sprichst, die jedermann, jedefrau verstehen kann. Und genauso wichtig ist, daß Du anderen Menschen, die sich noch nicht so gut ausdrücken, zur Sprache verhelfen kannst. Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, zuzuhören; eine Tugend, die in der Gesellschaft kaum mehr anzutreffen ist.
  • EIGENSINN UND GRUPPENSINN. Eine gewandelte Politik erwarten wir uns nicht von Mandataren, die kritiklos die Anweisungen einer Parteizentrale exekutieren. Wir erwarten uns von Dir, daß Du außerhalb und innerhalb der politischen Körperschaften nach Deiner eigenen Urteilskraft handelst, wie wir alle. Aber ebensowenig nützen Politiker, die individualistisch auf eigene Faust Politik machen. Wir erwarten uns von Dir, daß Du Deinen EIGENSINN MIT GRUPPENSINN verbindest. Die Gruppen, in denen Du mitarbeitest, werden umso bessere Arbeit tun, je mehr Du Deine eigene Urteilskraft in sie einbringst. Wir würden uns sicherer fühlen, wenn unsere Kandidaten und Kandidatinnen schon eine hinreichende demokratische Erfahrung hätten. Wir meinen damit nicht so sehr eine Kenntnis der Spielregeln der parlamentarischen Demokratie oder eine vorweisbare Laufbahn in der Politik, sondern die aktive Mitarbeit in einer Basisgruppe. Nur in der kleinen Gruppe kann Demokratie wirklich gelernt werden. Hier können die vielen Mechanismen, aus denen Herrschaftsausübung besteht, noch sichtbar gemacht und in Lernvorgängen abgebaut werden. Nur wer Demokratie im kleinen eingeübt hat, wird auch „in der Politik“ Demokratie verwirklichen. Uns sind die eigene Meinung, Zivilcourage und Mut zum Widerspruch wichtiger als Parteidisziplin. Die Alternative Liste wird nur in seltenen und sehr wichtigen Fällen durch Mehrheitsbeschluß der Mitgliederversammlung (nicht des Vorstands oder sonstiger „Gremien“) ihre Abgeordneten auf eine unverrückbare Position verpflichten. Wir nennen das „Imperatives Mandat“.
  • LERNFÄHIGKEIT. Wir sind überzeugt, daß die vielzitierte Erneuerung der Demokratie solange leeres Gerede bleibt, als in den Institutionen ein Klima herrscht, das Karrieristen, Opportunisten und Ellbogentechniker züchtet. Eine neue politische Kultur, die wir anstreben, kann nur von der Basis her kommen, von kleinen Zellen als „Produktionsstätten gelernter Demokraten“. Diese Lernfähigkeit, die wir von Dir erwarten, wird sich auch in den Sachfragen bewähren können. Wir brauchen keine Politiker, die um die Wette von den Plakatflächen lächeln und sich vor den Problemen von Stadt und Globus auf Fachleute und auf angebliche Sachzwänge hinausreden. Doch ebensowenig erwarten wir von Dir, daß Du jene Technokraten nachahmst, die alles nur im engen Horizont ihres Sachverstands begreifen. Wir erwarten von Dir die Fähigkeit, zusammen mit den von Mißständen Betroffenen den zur Abhilfe nötigen Sachverstand zu organisieren. Wenn Du obendrein eine Menge Sachverstand und Erfahrung schon mitbringst, umso besser.

Ist das zuviel verlangt an Eigenschaften für unsere Kandidaten? Zuviel für Dich? Aber tröste Dich: Als Ausgleich brauchst Du nicht zu befürchten, Du könntest nicht mithalten in der Schönheitskonkurrenz der Politiker. Als Kandidat der Alternativen Liste wirst Du niemals von Plakatflächen lächeln. Du brauchst Dich weder in die Steirer-Uniform oder in die „Frau-so-tüchtig-wie-ein-Mann“-Verhüllung zu zwängen oder in sonst ein herrschendes Cliché oder irgendein Gegen-Cliché. Die vier Eigenschaften sind genug.

Freilich, auf einer Ideal-Eigenschaft bestehen wir doch. Wir hoffen, Dein Motiv, bei uns mitzuarbeiten, ist nicht in erster Linie persönlicher Ehrgeiz oder irgend eine andere Profilierungssucht. Wir haben zwar einige Sicherheiten eingebaut dagegen, daß solche Charaktere sich in den Vordergrund rücken. (Die Bezügeregelung verhindert die Bereicherung, das „imperative Mandat“ ein selbstherrliches Werkeln, die Ämterklausel den Polit-Profi.) Dennoch: die strengsten Regeln und bestdurchdachten Vereinbarungen helfen wenig, wenn nicht die Menschen von sich aus auch dazu stehen. Deshalb ist die persönliche Motivation ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl unserer Kandidaten.

Das ist das Profil, an dem wir unsere Kandidaten messen. Willst Du Dich an diesem Profil messen? Selbstverständlich ist für uns, daß unsere Kandidaten

  • sich als Teil der Friedensbewegung verstehen,
  • Atomkraftwerke und Atomrüstung ablehnen,
  • ein geschärftes Bewußtsein für die Dritte Welt-Problematik haben.

Das ist eine Seh- und Handlungsweise, die weit über den Landes-Bereich hinausgeht. Auch die Alternativenbewegung hat ja im kleinen begonnen und behält dort ihre Wurzeln, während sie doch in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hinausdrängt.

Liebe Kandidatin, lieber Kandidat. Was wir in diesem Brief anklingen lassen, ist in einem gewissen Sinn sehr leicht zu erfüllen, in einem anderen Sinn aber sehr schwer. Leicht ist es, weil es im Grund nichts anderes ist, als die Anwendung menschlicher Prinzipien und Verhaltensweisen auf das politische Handeln. Schwer kann es sein, weil es ein neuer Weg ist, und weil neue Wege anzulegen immer mühsam ist.

Wir erwarten uns von Dir nicht, daß Du den neuen Weg breit, asphaltiert und Schnurgerade anlegst, sondern daß Du mit vielen anderen gemeinsam erste Trampelpfade durch das verfilzte Dickicht der bestehenden politischen Landschaft bahnst.

Die Vollversammlung der Altemativen Liste NÖ

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1982
, Seite 22
Autor/inn/en:

Alternative Liste Niederösterreich:

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