FŒHN » Heft 23+24
Markus Wilhelm

Bezahlte Lügner

Die Religion unserer Zeit ist der Kapitalismus — und die Wirtschaftswissenschafter sind seine Hohenpriester. In ihren Orakeln offenbaren sie uns, was wir zu tun haben, damit es ihrem Gott wohlgefällt. Wie im alten Griechenland von den Wahrsagern aus der Flugrichtung der Vögel, den Eingeweiden der Opfertiere, dem Murmeln der Quelle oder der Bewegung der Blätter an der heiligen Eiche auf den Willen der Gottheit geschlossen wurde, so belehren uns die heutigen Wahrsager aufgrund unausgeglichener Bilanzen, zunehmender Produktivität, anziehender Konjunktur und sinkender Nachfrage darüber, was dem System frommt. „In wie weit die Priester selbst von der Wahrheit dieser Offenbarungen überzeugt waren, läßt sich schwer entscheiden“, heißt es in Meyer’s Konversations-Lexikon von 1866. „Der Zweck der Orakel war nicht nur, Auskunft zu geben über zukünftige Dinge im Namen der Gottheit, sondern das gesamte Leben und Thun einer noch in vielen Stücken ratbedürftigen Bevölkerung durch göttliche Authorität in allen Fällen zu leiten, wo die eigene Einsicht den Einzelnen oder ganze Staaten im Stiche ließ, oder auch, wo der einzelne, geistig höher stehende und die Verhältnisse klarer als die Menge überschauende Mann ohne Beihülfe des Ansehens der Religion mit seinem Rathe nicht durchdringen konnte. In diesem Sinne benutzten Staatsmänner häufig die Orakel.“

Der bei dieser kultischen Handlung freigesetzte Weihrauch diente und dient dazu, die wirklich Herrschenden dem Blick des Volkes zu entziehen und ihr politisches Diktat als Fingerzeig des Schicksals erscheinen zu lassen. Das Unrecht konnte seine Macht noch nie halten ohne Zuhilfenahme einer jeweiligen Geistlichkeit. Der hohe Klerus dieses Systems wird angeführt von den Wirtschaftswissenschaftern, namentlich den Wirtschaftsforschern. Die Stätten der heute berühmtesten Orakel Österreichs heißen WIFO und IHS.

Sie lügen auf Bestellung. Eine von Wirtschaftsminister Schüssel in Auftrag gegebene Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) weissagte fünf Wochen vor der Volksabstimmung schlicht einen „Keulenschlag durch einen Nicht-Beitritt zur EU“ (TT, 30.4.94). Auf entsprechende Vorbestellung prophezeihte das Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) für den Fall des EU-Beitrittes „mehr Arbeitsplätze“, „höheres Wachstum“, „höhere Realeinkommen“ usw. (Standard, 28.5.94).

Ich unterstelle diesen Wirtschaftsforschern, nicht so blöd zu sein, daß sie aufgrund von wirklichen Berechnungen zu diesen Ergebnissen gekommen sind. Vielmehr standen sie, was sie immer stehen, im Dienste der Propaganda. Es ist ihre Aufgabe, dieses System zu pushen. Die Liturgie, die sie dabei abziehen mit Zahlenkabbala und Statistikzauber, dient der Selbsterhöhung und damit dem Anschein, sie bezögen ihre Erkenntnisse aus weiß Gott welch einsamen Höhen, während sie von ganz oben doch nur ihre Anweisungen beziehen. Ein Beispiel: Als das Weihnachtsgeschäft für den Handel 1993 schlecht anlief und jeder wußte, daß es zu Rückgängen kommen würde, bot Minister Schüssel eilig einen Wahrspruch des WIFO auf, um die Österreicherinnen und Österreicher doch noch zu vermehrtem Konsum zu verleiten. „Das WIFO erwartet für heuer einen realen Zuwachs von ein bis zwei Prozent, hieß es Dienstag bei einem gemeinsamen Pressegespräch von WIFO und Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel.“ (Kurier, 8.12.93). Damit konnte der Umsatz möglicherweise noch um ein paar Zehntelprozentpunkte gesteigert werden, freilich ging er trotzdem „real um 4 Prozent zurück“ (Kurier, 24.12.93). Wie Hofhistoriker jedem Bürgermeister auf Wunsch stets mit jeder Jahreszahl für ein gerundetes Stadtjubiläum dienen können (z.B. 800 Jahre Innsbruck, 500 Jahre Goldenes Dachl), sind sog. Wirtschaftsexperten zu jedem Lumpenstück allzeit bereit.

Um für die Neuordnung Europas Stimmung zu machen, hat die EG-Kommission 1988 eine Studie mit dem Titel „Europas Zukunft: Binnenmarkt 1992“ herausgegeben, besser bekannt unter dem Titel „Cecchini-Report“. Diese 6000-Seiten-Studie sagte bis 1998 fünf Millionen neue Arbeitsplätze in der EG und Jahr für Jahr ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent voraus. So wie Heeresberichte nicht den Zweck haben, eine Darstellung der tatsächlichen Kriegs-Lage zu liefern, sondern eine, die die höchste Kriegsbegeisterung nach sich zieht, so werden Wirtschaftsprognosen daraufhin konstruiert, wie sie das größte Vertrauen in den Fortgang des Kapitalismus hervorrufen können. Im Juni 1992 wurden die Menschen in der EG an den Prognosen herumgeführt, die für 1993 ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent versprachen. Bereits im Juni 1993 konnten sie lesen, daß es statt dessen -0,5 Prozent waren. Nein, nein, sie werden vermutlich schon auch realistische Daten erheben (für die Herrschenden), aber in Umlauf gesetzt werden frei erfundene zum Zwecke der Massenlenkung. Wenn das WIFO für die Jahre 1992 bis 1997 jeweils ein Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent voraussagt (TT, 16.3.93), dann haut es nicht daneben, sondern zielt es daneben. Wenn das WIFO im März 1995 eine Wachstumsprognose für 1996 von 2,6 Prozent abgibt, die es im Dezember 1995 auf 1,6 Prozent reduziert, um sie im März 1996 nocheinmal um mehr als die Hälfte auf 0,7 Prozent zu korrigieren (Kurier, 28.3.96), so wäre das auch aus einem Schalerl Kaffee Hag herauszulesen gewesen. Aber Politiker und ihre Hinterleute wissen es sehr hoch zu schätzen, wenn ihre Wirtschaftsexperten die Konjunkturzahlen sehr hoch schätzen.

Also lügen die Arbeitslosenzahlen tief, und die Inflationsraten lügen noch tiefer, die Exportziffern aber lügen hoch, und die Volkseinkommen lügen noch höher. Wenn sich die auf diesem Gebiete führenden Experten Österreichs, nämlich irreführenden Experten Österreichs, bloß jedesmal verrechnen würden, müßten sie sich doch gleich oft, oder sagen wir: wenigstens ein einziges Mal!, auch in die andere Richtung verrechnen. Aber dafür werden sie nicht bezahlt. Gut bezahlt wurden ihnen jedoch ihre fabelhaften Prognosen vor der Volksabstimmung. „Wenn es einen ethischen Verhaltenskodex für Wirtschaftswissenschafter gäbe“, sagt der Wirtschaftswissenschafter Egon Matzner, „dann hätten sich die Leiter von IHS und WIFO schon längst für ihre damaligen Täuschungen rechtfertigen müssen.“ (Standard, 25.10.96)

Nach der Beitritts-Propaganda des WIFO hätte das Wirtschaftswachstum für 1995 drei Prozent betragen sollen, es lag schließlich mit 1,8 Prozent klar unter der zugegebenen Inflationsrate. (Und wir können auch diese Zahl nicht überprüfen.) Die Nahrungsmittelpreise sollten im ersten EU-Jahr um zumindest 3 Prozent fallen, sind aber höchstens um 0,6 Prozent gesunken. Die Arbeitslosenzahl sollte schon 1995 um 0,2 Prozent zurückgehen, sie ist dann deutlich angestiegen. In den Fälscherwerkstätten war ganze Arbeit geleistet worden. Wäre dieses Volk nicht seit Jahrhunderten daraufhin abgerichtet, an die Vorsehung zu glauben, hätten diese als Propheten auftretenden Handlanger der Mächtigen keine Gewalt über uns. So aber konnte der Meinungsforscher E. Gehmacher nach gewonnener Schlacht über die Wochen vor der Volksabstimmung genüßlich bilanzieren: „Die Konjunkturprognosen sind positiv geworden. So etwas hat Wirkung auf Ängste und Hoffnungen. Die Stimmung wurde dadurch sicher optimistischer.“ (Zukunft, 7/94)

Am 26. April 1994 plappert der EU-Experte des WIFO, F. Breuss, als hätte er die falsche Unterlage zur Hand, in einem Unterausschuß des Parlaments eine richtige Zahl aus. Er sagt, der EU-Beitritt werde 1995 „einen zusätzlichen Budgetschock von 50 Milliarden Schilling auslösen“ (Kurier, 27.4.94). Riesenskandal! Bundeskanzler, Finanzminister, Wirtschaftsminister und Landwirtschaftsminister reagieren empört, das WIFO distanziert sich und tut die unfingiert an die Öffentlichkeit geratene Zahl als „Privatmeinung“ ab. Spätestens seit dem 2. Jänner 1995, als der Kurier titelt: „Explodierendes Budgetdefizit bestätigt WIFO-Experten.“, ist klar, daß die Wirtschaftsforscher höchstens privat die Wahrheit sagen. Der Volkswirtschaftsprofessor Leonhard Bauer dazu: „Das WIFO hat eigene Regeln, was die Forscher sagen dürfen und was nicht. Von einer freien Forschung kann man nicht reden.“ (Standard, 26.4.94) Schließlich werden diese Herren ja von denen, die ihnen sagen, welche Propaganda sie von ihnen erwarten, auch bezahlt. „Mit den Konjunktur- und Budgetprognosen des WIFO läßt sich herrlich Politik machen. Es kann für die Regierung entscheidend sein, ob die zu erwartende Arbeitslosenrate etwas höher oder niedriger angesetzt wird.“ (Kurier, 27.4.94) Hundert Millionen Schilling bekommt das WIFO jährlich von der Bundesregierung, zusammen weitere hundertfünfzig Millionen Schilling steuern die Bundesländer, die Sozialpartner, Banken, Versicherungen, vor allem aber Nationalbank und Industriellenvereinigung bei. So nimmt es auch nicht Wunder, daß hier Wissenschafter am Werk sind, die bereits vor ihren entsprechenden Untersuchungen wissen, was dabei herauskommen wird. Im März 1988 legte der oben erwähnte F. Breuss die erste schöne WIFO-Studie über die Auswirkungen eines EG-Beitrittes vor. Aber schon ein Jahr vorher (!) stand in der Süddeutschen Zeitung: „‚Wohlfahrtstheoretisch winken nur Vorteile‘, erklärt der Wiener Wirtschaftsexperte Fritz Breuss, der gerade dabei ist, mit Wirtschaftsforschern eine erste fundierte Studie zum Thema auszuarbeiten und Vor- und Nachteile durchzurechnen.“ (4.4.87) Ein anderes Beispiel: Als im Vorjahr 20.000 Arbeitsplätze vernichtet werden, sind das „dreimal mehr, als Wirtschaftsforscher und Arbeitsmarktservice für 1996 erwartet hatten“ (Standard, 4.1.97). Ja, so kann man sich täuschen. Und uns.

Arbeitsplätze-Prognose für EU-Anschluß — richtig berechnet, aber falsch in die Kamera gehalten (links), rechts: richtig

Diese Wirtschaftsforscher haben sich diesen Namen dadurch verdient, daß sie für die Wirtschaft forscher eintreten, als es Wissenschafter täten. Denn diese Herren, die wir mit unserem Geld gegen unsere Interessen finanzieren müssen, gehen über die Bereitstellung der gewünschten Prognosen weit hinaus. Sie erheben Forderungen an die Politik, die diese sie gebeten hat zu erheben. Im Kurier hieß es bereits am 23.6.92, der WIFO-Experte „J. Stankovsky warnt vor dem Nicht-Beitritt Österreichs zur EG“. Auch seinem Chef Kramer genügte es wenige Tage vor der Volksabstimmung nicht mehr, bloß Zahlen aus dem Traumbüchl vorzulegen, sondern er „sprach sich entsprechend für den Beitritt aus“ (Standard, 28.5.94). Heute propagieren die Hilfsknechte der Politik bald da die EU-Osterweiterung, bald dort den Ausbau der Sozialpartnerschaft. „Wirtschaftsforscher Andreas Wörgötter fordert dringend mehr Freiheiten für Unternehmer und Mitarbeiter“, titelt der Kurier. Im weiteren Text fordert der Experte wohl des Instituts für Wirtschaftsforderungen (WIFO) nicht weniger als die Abschaffung der Abfertigungen, und schließlich „fordert Wörgötter mehr Spielraum im Lohnsystem.“ (Kurier, 28.2.96)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1997
, Seite 23
Autor/inn/en:

Markus Wilhelm:

Geboren 1956, von Beruf Zuspitzer in Sölden im Ötztal, Mitbegründer des FŒHN (1978-1981), Wiedergründer und Herausgeber des FŒHN (1984-1998). Seit 2004 Betreiber der Website dietiwag.org (bis 2005 unter dietiwag.at), Landwirt.

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