Internationale Situationniste » Numéro 7
Pierre Gallissaires (Übersetzung) • Hanna Mittelstädt (Übersetzung) • Raoul Vaneigem

Basisbanalitäten

1

Der bürokratische Kapitalismus hat seine gerechte Rechtfertigung in Marx gefunden. Es handelt sich hier nicht darum, dem orthodoxen Marxismus den zweifelhaften Verdienst zuzugestehen, die neo-kapitalistischen Strukturen verstärkt zu haben, deren aktuelle Reorganisierung das Lob des sowjetischen Totalitarismus mit sich führt, sondern darum zu betonen, wie gewöhnlich Marx’ tiefste Analysen über die Entfremdung in den äußerst banalen Tatsachen wurden, die allein — wenn sie einmal ihrer magischen Schale entkleidet und in jeder Gebärde materialisiert werden — jeden Tag das Leben einer zunehmenden Zahl von Leuten ausmachen können. Kurz, der bürokratische Kapitalismus enthält die offensichtliche Wahrheit der Entfremdung, er hat sie allen besser zugänglich gemacht, als Marx es erhoffen konnte, er hat sie in dem Maße banalisiert, wie sich gleichzeitig mit der Verminderung des Elends allmählich die Mittelmäßigkeit des Lebens verbreitete. Der Pauperismus gewinnt in der Tiefe das von der Lebensweise zurück, was er in der Ausdehnung vom genauen Überleben verliert — das ist zumindest eine einstimmig geteilte Meinung, die Marx von allen Interpretationen reinwäscht, die ein degenerierter Bolschewismus daraus zog, auch wenn die „Theorie“ der friedlichen Koexistenz wie gerufen auftritt, um ein solches Bewusstsein zu beschleunigen und es sogar so genau nimmt, dass sie einem jeden enthüllt, der es eventuell nicht verstanden hat, dass trotz der spektakulären Meinungsverschiedenheiten Ausbeuter sich immer einig werden können.

2

„Jede Handlung“, schreibt Micéa Eliade, „kann zu einer religiösen Handlung werden. Die menschliche Existenz verwirklicht sich gleichzeitig auf zwei parallelen Ebenen — die der Zeitlichkeit, des Werdens, der Illusion und die der Ewigkeit, der Substanz, der Wirklichkeit.“ Im XIX. Jahrhundert ist durch die brutale Trennung der beiden Ebenen der Beweis erbracht worden, dass es für die Macht besser gewesen wäre, die Wirklichkeit durch die göttliche Transzendenz umstrahlt zu lassen. Wenigstens muss das dem Reformismus gelassen werden: ihm ist es im Gegensatz zu Bonaparte gelungen, das Werden in der Ewigkeit und die Wirklichkeit in der Illusion zu versenken. Diese Verbindung hat zwar nicht so viel Wert wie das religiöse Sakrament der Ehe, sie ist aber dauerhaft; das ist das Maximum, das die Manager der Koexistenz und des sozialen Friedens von ihr fordern können. Dadurch werden wir auch dazu veranlasst, uns in der illusorischen Perspektive der Dauer, der keiner entgeht, als das Ende der abstrakten Zeitlichkeit, der verdinglichten Zeit unserer Handlanger zu definieren. Muss man es anders sagen: uns im positiven Pol der Entfremdung zu definieren als das Ende der sozialen Entfremdung, das Ende der Probezeit der Menschheit in der sozialen Entfremdung?

3

Dass die primitiven Menschengruppen Gesellschaften gebildet haben, beweist ihren Willen, wirksamer gegen die geheimnisvollen und schreckenserregenden Naturkräfte zu kämpfen. In der natürlichen Umwelt zugleich gegen sie und mit ihr zu kämpfen, sich ihren unmenschlichsten Gesetzen zu fügen, um ihnen eine zusätzliche Überlebenschance abzuringen, daraus konnte nur eine entwickeltere Form der aggressiven Verteidigung, eine kompliziertere und weniger primitive Haltung entstehen, die die Widersprüche auf einer höheren Stufe aufwies, die ihr unaufhörlich durch die unkontrollierten und doch beeinflussbaren Naturkräfte aufgezwungen wurden. Indem der Kampf gegen die blinde Naturherrschaft zu einem gesellschaftlichen Kampf wird, erringt er seine Siege in dem Maße, wie er sich die primitive, natürliche Entfremdung nach und nach, aber in anderen Formen aneignet. Im Kampf gegen die natürliche Entfremdung ist diese zu einer gesellschaftlichen geworden. War es ein Zufall, dass eine Zivilisation der Technik sich bis zu einem solchen Punkt entwickelt hat, dass die gesellschaftliche Entfremdung in ihr an den Tag kam, indem sie gegen die letzten Punkte von natürlichem Widerstand prallte, mit denen die technische Macht aus guten Gründen nicht fertig werden konnte. Heute schlagen uns die Technokraten vor, die primitive Entfremdung zuende zu bringen; sie regen mit schönem humanitärem Schwung dazu an, die technischen Mittel noch weiter zu entwickeln, die es „als solche“ ermöglichen sollten, den Tod, das Leiden, das Unbehagen und die Lebensmüdigkeit wirksam zu bekämpfen. Das Wunder würde aber darin bestehen, nicht so sehr den Tod als den Selbstmord und die Lust zum Sterben zu beseitigen. Es gibt eine Art, die Todesstrafe abzuschaffen, die dazu führt, sie zu bedauern. Die besondere Anwendung der Technik bzw. in einem weiteren Sinne der gesamte, die menschliche Tätigkeit bestimmende ökonomisch-soziale Zusammenhang hat bisher die Gelegenheiten des Leidens und des Todes quantitativ verringert, während der Tod sich wie eine unheilbare Krankheit im Leben eines jeden niederließ.

4

Auf die vorgeschichtliche Sammlerzeit folgte die der Jäger, im Laufe derer sich die Stämme bilden und darum bemühen, ihre Überlebenschancen zu vergrößern. Während dieser Epoche werden Jagdgehege und -gebiete gebildet, die zum Nutzen der Gruppe ausgebeutet und aus denen die Fremden um so strenger ausgeschlossen werden, als das Heil des ganzen Stammes von diesem Verbot abhängt. So dass die Freiheit, die dank einer bequemeren Einrichtung in der natürlichen Umwelt und damit durch einen wirksameren Schutz gegen ihre Härte erzielt wurde, ihre eigene Negation außerhalb der vom Stamm festgesetzten Grenzen erzeugt und die Gruppe dazu zwingt, ihre erlaubte Tätigkeit durch die Organisation der Beziehungen mit den ausgeschlossenen und bedrohenden Gruppen zu mäßigen. Schon bei seinem Auftreten setzt das gesellschaftlich organisierte ökonomische Überleben das Vorhandensein von Grenzen, Beschränkungen und widersprüchlichen Rechten voraus. Bis heute hat der Werdegang der Geschichte nicht aufgehört — daran muss immer wieder erinnert werden, genau wie man das ABC wiederholt — sich selbst und uns in Bezug auf die Bewegung der enteignenden Aneignung, auf das Übernehmen einer allgemeinen Macht des ökonomisch-sozialen Überlebens durch eine Klasse, eine Gruppe, eine Kaste bzw. einen Einzelnen zu definieren, deren Form kompliziert bleibt — vom Besitz eines Stückes Land, eines Gebietes, einer Fabrik, von Kapital bis zur „reinen“ Ausübung der Macht über die Menschen (Hierarchie). Über den Kampf gegen die Regime hinaus, die ihr Paradies auf einen kybernetischen Wohlstandsstaat bauen, zeigt sich die Notwendigkeit, den Kampf gegen einen grundsätzlichen und ursprünglich natürlichen Zustand zu erweitern, in dessen Entwicklung der Kapitalismus nur eine episodische Rolle spielt, und der nicht verschwinden wird, ohne dass die letzten Spuren der hierarchischen Macht oder natürlich die ‘Frischlinge der Menschheit’ verschwinden.

5

Ein Eigentümer sein, heißt, sich ein Gut aneignen, von dessen Genuss man andere ausschließt; es heißt gleichzeitig, einem jeden ein abstraktes Recht auf den Besitz anerkennen. Indem der Besitzende von dem tatsächlichen Eigentumsrecht ausschließt, erstreckt er sein Eigentum auf die Ausgeschlossenen (absolut auf die Nicht-Besitzenden und relativ auf die anderen Besitzenden), ohne die er nichts ist. Ihrerseits haben die Nicht-Besitzenden keine Wahl. Er eignet sie sich an und entfremdet sie als die Produzenten seiner eigenen Macht, während sie durch die Notwendigkeit, für ihre physische Existenz zu sorgen, dazu gezwungen sind, wider Willen an ihrem eigenen Ausschluss mitzuarbeiten, diesen zu produzieren und in der Art der Unmöglichkeit des Lebens zu überleben. Als Ausgeschlossene nehmen sie am Eigentum durch die Vermittlung der Besitzenden teil — eine mystische Teilnahme also, da sich am Anfang alle Stammes- und Gesellschaftsbeziehungen so organisieren, die nach dem Prinzip des Zwangszusammenhangs nach und nach folgen, dem gemäß jedes Mitglied eine wesentliche Funktion in der Gruppe hat (die sogenannte „organische Interdependenz“). Die Garantie für ihr Überleben hängt von ihrer Tätigkeit in dem Rahmen der enteignenden Aneignung ab, sie verstärken ein Eigentumsrecht, aus dem sie verdrängt werden und jeder von ihnen begreift sich durch diese Zweideutigkeit als jemand, der als ein lebendiges Teilchen des Besitzrechts am Eigentum teilnimmt, während dieser Glaube ihn in dem Maße, wie er sich verstärkt, gleichzeitig als einen Ausgeschlossenen und einen Beherrschten definiert, (äußerster Endpunkt dieser Entfremdung — der treue Sklave, der Bulle, der Leibwächter, der Söldner, der durch eine Art Vereinigung mit seinem eigenen Tod dem Tod die gleiche Macht wie den Kräften des Lebens verleiht, in einer zerstörerischen Energie den negativen und den positiven Pol der Entfremdung gleichsetzt, der absolut unterworfene Sklave und der absolute Herr). Zum Vorteil des Ausbeuters ist es von Bedeutung, dass der Schein aufrechterhalten bleibt und feiner wird: das ist keinem Macchiavelismus, sondern dem einfachen Überlebenstrieb zuzuschreiben. Die Organisation des Scheins ist mit dem Überleben des Besitzenden verbunden, das selbst mit dem seiner Privilegien verbunden ist, und sie setzt das physische Überleben des Nicht-Besitzenden voraus — eine Art, in der Ausbeutung und der Unmöglichkeit, Mensch zu sein, lebendig zu bleiben. Die Beschlagnahme und die Herrschaft zu privaten Zwecken werden also ursprünglich als ein positives Recht, aber in der Art der negativen Universalität empfunden. Für alle gültig und für alle durch einen göttlichen bzw. natürlichen Grund gerechtfertigt, objektiviert sich das Recht auf enteignende Aneignung in einer allgemeinen Illusion, einer universalen Transzendenz und einem Grundgesetz, in dem es schließlich jedem als Einzelnen bequem genug ist, damit er die mehr oder weniger engen Grenzen duldet, die seinem Recht auf Leben und den Lebensbedingungen im allgemeinen aufgezwungen werden.

6

Die Funktion der Entfremdung ist in diesem sozialen Zusammenhang als Bedingung für das Überleben zu verstehen. Die Arbeit der Nicht-Besitzenden ist denselben Widersprüchen unterworfen wie das Recht auf eigene Aneignung. Sie macht aus ihnen Besitzgegenstände, Aneignungsproduzenten und Verursacher ihres eigenen Ausschlusses, aber sie stellt die einzige Überlebenschance für die Sklaven, die Leibeigenen und die Arbeiter dar, so dass die Tätigkeit, die das Leben fortbestehen lässt, indem sie es jeden Inhalts beraubt, schließlich einen positiven Sinn durch eine erklärbare und grauenhafte Umkehrung der Perspektive bekommt. Die Arbeit wurde nicht nur aufgewertet (in ihrer Form als Opfer unter dem „Ancien Regime“, in ihrem verdummenden Aspekt in der bürgerlichen Ideologie und den angeblichen Volksdemokratien), sondern es wurden auch sehr früh die Arbeit für einen Herren und die Entfremdung mit dem guten Gewissen der Einwilligung zum ehrenhaften und kaum anfechtbaren Preis für das Überleben. Die Befriedigung der primären Bedürfnisse bleibt der beste Schutz für die Entfremdung, die sie am besten verschleiert, indem sie sie auf der Grundlage einer unangreifbaren Forderung rechtfertigt. Die Entfremdung macht die Bedürfnisse unzählbar, weil sie kein einziges befriedigt; heute lässt sich die Unbefriedigtheit an der Auto-, Kühlschrank- und Fernseherzahl messen: die entfremdenden Gegenstände besitzen weder die List noch das Geheimnisvolle einer Transzendenz, sie sind in ihrer konkreten Armut da. Heute ist der Reiche derjenige, der die größte Zahl armer Gegenstände besitzt. Bisher hat uns das Überleben daran gehindert zu leben. Deshalb ist viel von der Unmöglichkeit des Überlebens zu erwarten, die von nun an mit einer um so weniger bestreitbaren Augenscheinlichkeit beginnt, da der Komfort und die Überfülle der Überlebenselemente uns zwangsläufig entweder in den Selbstmord oder die Revolution treiben.

7

Das Heilige führt sogar den Kampf gegen die Entfremdung an. Sobald die mystische Decke ihren Einschlag erkennen lässt und aufhört, die Ausbeutungsbeziehungen und die Gewalt, die der Ausdruck ihrer Bewegung ist, zu umhüllen, entschleiert und definiert sich der Kampf gegen die Entfremdung mit der Schnelligkeit eines Blitzes, eines Bruchs, wie ein unerbittlicher Nahkampf mit der entblößten Macht. Diese wird plötzlich in ihrer ganzen brutalen Kraft und ihrer Schwäche zugleich als ein Riese entdeckt, gegen den jeder Schlag ein Volltreffer ist, der aber bei jeder Wunde dem Angreifer den fluch-beladenen Ruf eines Erostrate verleiht; überlebt die Macht, finden beide ihren Vorteil darin. Praxis der Zerstörung, ein großartiger Augenblick, in dem die Kompliziertheit der Welt fühlbar, kristallklar und allen greifbar wird, unsühnbare Revolten, wie die der Sklaven, der Bauern, der Bilderstürmer, der Enragés, der Föderierten (der Pariser Kommune), von Kronstadt, von Asturien und — als Versprechen für die Zukunft — der „Rocker“ in Stockholm und der wilden Streiks — das alles kann uns nur die Zerstörung jeder hierarchischen Macht vergessen lassen — wie wir die feste Absicht haben, uns darum zu bemühen.

Die Abnutzung der mythischen Strukturen und ihr Verzug, sich zu erneuern, die das Bewusstwerden und die kritische Tiefe des Aufstandes ermöglichen, bewirken auch, dass der Kampf gegen die Entfremdung, wenn die revolutionären „Exzesse“ einmal vorbei sind, auf theoretischer Ebene als die Verlängerung der die Revolte vorbereitenden Entmystifizierung aufgefasst wird. Es ist also die Stunde, in der die Revolte unter ihrem wirklichsten und am echtesten verstandenen Aspekt neu geprüft und durch das „Das haben wir nicht gewollt!“ der Theoretiker über Bord geworfen wird, die damit beauftragt waren, denen den Sinn eines Aufstandes zu erklären, die ihn gemacht haben und die nicht nur mit Worten, sondern durch Tatsachen entmystifizieren wollen.

Alle Tatsachen, die die Macht in Frage stellen, verlangen heute, analysiert und taktisch weiterentwickelt zu werden. Viel ist zu erwarten:

  1. von dem neuen Proletariat, das mitten im konsumierbaren Überfluss seine nackte Armut entdeckt (vgl. die Entwicklung der jetzt in England beginnenden Arbeiterkämpfe, wie auch die Haltung der rebellierenden Jugend in allen modernen Ländern).
  2. von den Ländern, die ihre vergangenen und heutigen Theoretiker ins Museum verweisen, da sie mit ihren teilweisen und gefälschten Revolutionen unzufrieden sind (vgl. die Rolle der Intelligenz in den östlichen Ländern).
  3. von der Dritten Welt, deren Misstrauen gegenüber den Mythen der Technik von den Bullen und Söldnern des Kolonialismus unterhalten wurde, den letzten, allzu eifrigen Militanten einer Transzendenz, deren beste Schutzimpfstoffe sie selbst sind.
  4. von der Kraft der S.I. („Unsere Ideen sind in den Köpfen aller“), die dazu fähig ist, die ferngesteuerten Revolten, die „Kristallnächte“ sowie die bejahenden Revolten zu verhindern.

8

Die enteignende Aneignung ist mit der Dialektik des Besonderen und des Allgemeinen verbunden. In der Mystik, in der die Widersprüche der Sklaverei und des Feudalsystems verfließen, bemüht sich der insbesondere vom Besitzrecht ausgeschlossene Nicht-Besitzer durch seine Arbeit darum, für sein Überleben zu sorgen, was ihm um so besser gelingt, als er sich darum bemüht, sich mit den Interessen des Herren zu identifizieren. Die anderen Nicht-Besitzer kennt er nur durch ihre, den seinen ähnlichen Bemühungen — Zwangsveräußerung der Arbeitskraft (das Christentum wird eine freiwillige empfehlen: die Sklaverei hört auf, sobald der Sklave seine Arbeitskraft gern anbietet), Suche nach den optimalen Überlebensbedingungen und mystische Identifizierung. Von einem allen gemeinsamen Willen zum Überleben ausgehend wird jedoch der Kampf auf der Ebene des Scheins geführt, auf der er die Identifizierung mit dem Willen des Herrn wirksam werden lässt, so dass eine bestimmte individuelle Rivalität daraus entsteht, die diejenige unter den Herren widerspiegelt. Der Kampf bleibt auf diesem Gebiet, solange die Ausbeutungsbeziehungen in mystisches Dunkel gehüllt sind und die Bedingungen eines solchen Dunkels weiter bestehen; oder, solange der Grad der Sklaverei den der erlebten Wirklichkeit bestimmt (Wir sind immer noch dabei, das als objektives Bewusstsein zu kennzeichnen, was das Bewusstsein davon ist, ein Gegenstand zu sein). Der Besitzer seinerseits ist mit der Anerkennung eines Rechts verbunden, aus dem er als einziger nicht ausgeschlossen wird, das aber auf der Ebene des Scheins als ein für jeden einzelnen Ausgeschlossenen gültiges Recht empfunden wird. Sein Vorrecht hängt von einem solchen Glauben ab, auf den sich auch die Kraft gründet, die notwendig ist, um den anderen Besitzern gegenüberzutreten und die Stirn bieten zu können, das ist seine Kraft. Sollte er auch scheinbar auf die ausschließliche Aneignung aller Dinge und Aller verzichten und weniger als Herr als als Diener des Staatswohls und Garant für das gemeinsame Wohl auftreten, dann gelangt er zum Prestige als Krönung seiner Kraft und er fügt seinen übrigen Vorrechten das hinzu, den Begriff der persönlichen Aneignung selbst auf der Ebene des Scheins (der einzigen Bezugsebene in der entstellten Kommunikation) zu leugnen, er spricht dieses Recht jedem ab, er verneint die anderen Besitzer. In der feudalen Perspektive gliedert sich der Besitzer nicht auf dieselbe Art in den Schein ein wie die Nicht-Besitzer — Sklaven, Soldaten, Beamten und Diener jeden Schlags. Diese haben ein so lumpiges Leben, dass die meisten von ihnen keine andere Wahl haben, als es als Karrikatur des Herrn — des Fronherrn, des Prinzen, des Haushofmeisters, des Gefängniswärters, des Hohen Priesters, Gottes, Satans … — zu leben. Auch der Herr wird jedoch gezwungen, die Rolle einer solchen Karrikatur zu spielen. Das gelingt ihm ohne große Mühe, so grotesk ist schon sein Anspruch darauf, ganz in der Isolierung zu leben, in der er von denen gehalten wird, die nur überleben können. Er gehört schon (noch dazu mit der Größe der verflossenen Epoche, einer vergangenen Größe, die der Traurigkeit einen starken, begehrenswerten Geschmack verlieh) zu dieser Gattung, die heute die unsere ist, eine traurige Gestalt, jedem von uns ähnlich, wie er da steht und nach dem Abenteuer ausspäht, in dem er danach lechzt, zu sich selbst zurückzukehren und sich auf dem Weg zu seinem totalen Untergang wiederzufinden. Ist das, was der Herr selbst von dem anderen in dem Augenblick wahrnimmt, in dem er ihn entfremdet, seine Beschaffenheit als Ausgeschlossener und Leibeigener? In diesem Falle würde er sich selbst gegenüber als ein Ausbeuter, als ein rein negatives Wesen erscheinen. Ein solches Bewusstwerden ist daher unwahrscheinlich und sogar gefährlich. Ermöglicht er es nicht, dass sie weiterleben können, indem er seine Autorität und seine Macht über möglichst viele Untertanen vergrößert, lässt er ihnen nicht eine einmalige Heilschance zuteil werden? (Was würde aus den Arbeitern werden ohne die Fabrikbesitzer, die so gut sind, sie zu beschäftigen, wie die Liberalen des XIX. Jahrhunderts gerne sagten?) Praktisch spricht sich der Besitzer den Anspruch auf enteignende Aneignung offiziell ab. Auf das Opfer des Nicht-Besitzers, der durch die Arbeit sein wirkliches Leben gegen ein Scheinleben — das einzige, was ihn daran hindert, den Tod mit voller Absicht zu wählen, und das es dem Herrn ermöglicht, diese Wahl für ihn zu treffen — eintauscht, antwortet der Besitzer, indem er scheinbar seine Beschaffenheit als Besitzer und Ausbeuter aufopfert: er schließt sich auf mythische Weise aus und stellt sich in den Dienst aller und des Mythos — z.B. Gottes und seines Volkes. Durch eine überflüssige und kostenlose Geste, die ihn mit einer wundervollen Aura umhüllt, verleiht er dem Verzicht seine reine Form als eine mythische Wirklichkeit; indem er auf das gemeinsame Leben verzichtet, ist er der Arme mitten in dem illusorischen Reichtum, derjenige, der sich für alle opfert, während die anderen sich nur für sich selbst und für ihr Überleben opfern. Damit schlägt er aus der Zwangslage, in der er sich befindet, Prestige. Er wird zum lebendigen Bezugspunkt im gesamten illusorischen Leben, zur höchsten greifbaren Skala der mythischen Werte. Nachdem er sich von den gewöhnlichen Sterblichen „freiwillig“ entfernt hat, strebt er der Götterwelt zu und seine Stellung innerhalb der Hierarchie der anderen Besitzer wird durch seine mehr oder weniger bewiesene Teilnahme an der Göttlichkeit auf der Ebene des Scheins (der einzigen allgemein anerkannten Bezugsebene) bestätigt. In der Organisation der Transzendenz wird der Fronherr — und auf osmotische Weise alle Besitzer einer Macht bzw. von Produktionsgütern in unterschiedlichem Maße — dazu geführt, die Hauptrolle zu spielen, die Rolle also, die er in der ökonomischen Organisation des Überlebens der Gruppe faktisch spielt. So dass das Vorhandensein der Gruppe auf jedem Gebiet mit dem der Besitzer als solchen verbunden ist, mit denen, die als Besitzer aller Dinge durch das Eigentum an jedem Wesen ebenfalls den Verzicht aller durch ihren einzigen, absoluten, göttlichen Verzicht erzielen. (Vom von den Göttern bestraften Gott Prometheus zum von den Menschen bestraften Gott Christus wird das Opfer des Besitzers gewöhnlich, es verliert an Heiligkeit und wird menschlich.) Der Mythos vereinigt also Besitzer und Nicht-Besitzer, er umhüllt sie in einer Form, in der die Notwendigkeit des Überlebens als rein physisches oder als privilegiertes Wesen sie dazu zwingt, in der Art des Scheins zu leben und unter dem umgekehrten Zeichen des wirklichen Lebens, welches das der alltäglichen Praxis ist. Weiter sind wir immer noch nicht gekommen, wir warten immer noch darauf, jenseits oder diesseits einer Mystik zu leben, gegen die alle unsere Gesten im selben Augenblick protestieren, in dem sie ihr gehorchen.

9

Der Mythos, das einheitliche Absolute, in dem sich die Widersprüche der Welt illusorisch gelöst wiederfinden, die jeden Augenblick harmonische und harmonisierte Vision, in der die Ordnung sich selbst betrachtet und verstärkt — das ist der Ort des Heiligen, die außermenschliche Zone, aus der unter so vielen anderen Enthüllungen die der Bewegung der enteignenden Aneignung sorgfältig verbannt wird. Das hat Nietzsche recht deutlich gesehen, der geschrieben hat: „Jedes Werden ist dem ewigen Wesen gegenüber eine sträfliche Emanzipation, die mit dem Tod bezahlt werden muss.“ Als die Bourgeoisie das reine Wesen der Feudalität durch das Werden ersetzen wollte, hat sie sich praktisch damit begnügt, das Wesen zu entheiligen und das Werden zu ihrem größten Vorteil erneut zu heiligen — ihr eigenes Werden, das dadurch nicht mehr bis zum Sein des absoluten Eigentums, sondern der relativen Aneignung erhoben wird (ein kleines demokratisches und mechanisches Werden, mit seinen Begriffen des Fortschritts, des Verdienstes und der Kausalfolge). Was der Besitzende erlebt, macht ihn sich selbst fremd; indem er mit dem Mythos durch ein Bündnis auf Leben und Tod verbunden ist, darf er sich beim positiven und ausschließlichen Genuss eines Gutes nicht wahrnehmen, wenn es nicht durch den erlebten Schein seines eigenen Ausgeschlossenseins geschieht — werden nicht die Nicht-Besitzenden durch diesen mythischen Ausschluss die Wirklichkeit ihres eigenen Ausschlusses wahrnehmen? Der Besitzende ist für eine Gruppe verantwortlich, er lädt die Last eines Gottes auf sich; dessen Segen und Rache unterworfen, hüllt er sich in das Verbot ein und verzehrt sich darin. Ein Götter- und Heldenvorbild ist der Herr, der Besitzende, das wahre Gesicht des Prometheus, des Christus und aller spektakulären Opfer, die es möglich gemacht haben, dass sich „die sehr große Mehrheit der Menschen“ weiter unaufhörlich den Herren, d.h. der extremen Minderheit opfert (es wäre übrigens geboten, die Analyse des Opfers des Herren zu nuancieren: sollte man im Falle Christus nicht z.B. unterstellen, es handele sich genauer gesagt um den Sohn des Besitzers? Der Besitzer kann sich nur im Schein opfern; dagegen kommt es, wenn die Verhältnisse es gebieterisch verlangen, zur tatsächlichen Opferung des Sohnes des Besitzers als eines sehr unvollendeten Besitzers, eines Entwurfs und einer bloßen Erwartung des zukünftigen Eigentums. In dieser mythischen Perspektive ist z.B. der berühmte Satz des Journalisten Barrès zu verstehen, als der 1.Weltkrieg endlich zur Erfüllung seiner Wünsche ausgebrochen war: „Wie es sich gebührte ist unsere Jugend losmarschiert, um Ströme unseres Blutes zu vergießen“. Dieses ziemlich ekelerregende Spiel kannte übrigens, noch bevor es zu einem Ritual und zur Folklore wurde, eine heroische Zeit, in der die Könige und Stammesführer ihrem „Willen“ gemäß rituell umgebracht wurden. Wie die Historiker uns versichern, kam man aber schnell dazu, die erhabenen Märtyrer durch Gefangene, Sklaven oder Verbrecher zu ersetzen. Die Marter ist verschwunden, der Nimbus geblieben.

10

Das Opfer des Besitzenden und des Nicht-Besitzenden begründet den Begriff des gemeinsamen Schicksals. Mit anderen Worten liegt der Definition des Wesens des Menschen ein ideales und schmerzvolles Bild zugrunde, in dem der unauflösliche Widerspruch zwischen der mythischen Aufopferung der einen und dem geopferten Leben der anderen sich aufzulösen versucht. Dem Mythos kommt die Funktion zu, die Dialektik zwischen dem Willen zum Leben und seinem Gegensatz in einer Folge statischer Augenblicke zu vereinheitlichen und zu verewigen. Eine solche künstliche und überall herrschende Einheitlichkeit findet in der Kommunikation und besonders in der Sprache ihre greifbarste und konkreteste Darstellung. Auf dieser Ebene tritt die Zweideutigkeit deutlicher hervor, sie führt zur Abwesenheit einer wirklichen Kommunikation und gibt den Analytiker lächerlichen Phantomen preis, Wörtern — ewigen und veränderlichen Augenblicken — die verschiedenen Inhalts sind, je nach dem, der sie ausspricht, so wie der Begriff des Opfers selbst verschieden ist. Wird sie auf die Probe gestellt, dann hört die Sprache auf, das Grundmissverständnis zu verschleiern und sie mündet in die Krise der Teilnahme ein. So kann man in der Sprache einer Epoche der Spur der totalen, nicht erfüllten und immer kurz bevorstehenden Revolution folgen. Das sind begeisternde und zugleich erschreckende Zeichen wegen der Umwälzungen, die sie versprechen — wer würde sie aber ernst nehmen? Der Verruf, in den die Sprache gekommen ist, ist genauso tief und instinktiv wie das Misstrauen gegenüber den Mythen, mit denen man andererseits fest verbunden bleibt. Wie sollen Schlüsselworte mithilfe anderer Worte näher bestimmt werden? Wie kann man mit Sätzen zeigen, welche Zeichen die phraseologische Organisation des Scheins entlarven? Die besten Texte warten auf ihre Rechtfertigung. Erst wenn ein Gedicht von Mallarmé als einzig mögliche Erklärung einer Tat der Revolte erscheint, darf man unzweideutig von Poesie und Revolution sprechen. Auf diesen Augenblick zu warten und ihn vorzubereiten, heißt die Information nicht wie die letzte Stoßwelle, deren Bedeutung jeder ignoriert, zu manipulieren, sondern wie die erste Rückwirkung einer zukünftigen Tat.

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Nachdem der Mythos aus dem Willen der Menschen erwachsen war, den unkontrollierbaren Naturkräften gegenüber zu überleben, ist der Mythos eine Politik des öffentlichen Wohls, die sich über ihre eigene Notwendigkeit hinaus erhalten und in ihrer tyrannischen Macht bestätigt hat, indem sie das Leben auf eine einzige Dimension des Überlebens reduzierte und es als Bewegung und Totalität verneinte.

Wird er einmal in Frage gestellt, dann verneint der Mythos die verschiedenen, gegen ihn erhobenen Kritiken, er eignet sie sich an und verdaut sie früher oder später. Nichts von all dem, was als Bild bzw. Begriff versucht, die herrschenden geistigen Strukturen zu zerstören, kann sich ihm widersetzen. Er beherrscht den Ausdruck der Tatsachen und des Erlebten, dem er seine Interpretationsstruktur (die Dramatisierung) aufzwingt. Das auf der Ebene des organisierten Scheins zum Ausdruck kommende Bewusstsein des Erlebten definiert das private Bewusstsein.

Die kompensierte Aufopferung nährt den Mythos. Da jedes individuelle Leben den Verzicht auf sich selbst einschließt, muss das Erlebte als Opfer und Belohnung definiert werden. Als Lohn für seine Askese bekommt der Eingeweihte — der aufgestiegene Arbeiter, der Spezialist, der Manager, diese neuen, demokratisch heiliggesprochenen Märtyrer — eine in der Organisation des Scheins eingerichtete Unterkunft und er macht es sich in der Entfremdung bequem. Nun sind die kollektiven Unterkünfte zusammen mit den einheitlichen Gesellschaften verschwunden, es bleiben nur ihre konkreten Erscheinungen zum Gebrauch für das gemeine Volk: Tempel, Kirchen, Paläste … als Erinnerungen an einen universalen Schutz. Es bleiben heute die individuellen Unterkünfte, deren Wirksamkeit beanstandet werden kann, deren Preis aber mit aller Sicherheit bekannt ist.

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Das „private“ Leben lässt sich vor allem in einem formalen Zusammenhang definieren. Sicherlich entspringt es den aus der enteignenden Aneignung entstandenen gesellschaftlichen Beziehungen, seine wesentliche Form wird ihm aber durch den Ausdruck dieser Beziehungen verliehen. Eine solche universelle, unanfechtbare und doch jeden Augenblick angefochtene Form macht aus der Aneignung ein Recht, das jedem zuerkannt wird und aus dem jeder ausgeschlossen wird — ein Recht, zu dem man nur dadurch gelangt, indem man darauf verzichtet. In dem Maße, wie es den Zusammenhang nicht zerbricht, in dem es gefangengehalten wird (ein solcher Bruch heißt eine Revolution), kann das authentischste Erlebte nur durch eine Umkehrungsbewegung seines Vorzeichens bewusst gemacht, zum Ausdruck gebracht und übermittelt werden, in der sein Grundwiderspruch verschleiert wird. Mit anderen Worten: wenn ein positives Projekt darauf verzichtet, eine Praxis der radikalen Umwälzung der Lebensbedingungen weiterzuführen (die in allen ihren Formen die der enteignenden Aneignung ist), hat es nicht die geringste Möglichkeit, einer Übernahme durch die über den Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen herrschende Negativität zu entgehen: es wird in der entgegengesetzten Richtung rekuperiert, wie ein Bild im Spiegel. In der Perspektive der Totalisierung, in der sie das ganze Leben aller konditioniert und ihre wirkliche Macht von ihrer mythischen (wobei beide wirklich und mythisch zugleich sind) nicht mehr zu unterscheiden ist, lässt die Bewegung der enteignenden Aneignung dem Erlebten keinen anderen Weg zum Ausdruck als den der Negativität. Das gesamte Leben ist in eine Negativität getaucht, die es zerfrisst und formal definiert. Von Leben zu sprechen, klingt heute so, wie vom Strick im Haus eines Gehenkten zu sprechen. Wenn der Schlüssel zum Willen zum Leben einmal verloren ist, führen alle Türen zu Gräbern. Nun genügt der Dialog zwischen dem Wurf und dem Zufall nicht mehr, um unsere Ermüdung zu rechtfertigen. Diejenigen, die es immer noch akzeptieren, in ihrer eigenen Müdigkeit wie in einem möblierten Zimmer zu leben, kommen leichter zu einer lässigen Vorstellung ihrer selbst, als dass sie aus jeder ihrer täglichen Gesten die lebendige Widerlegung ihrer Verzweiflung herauslesen — eine Widerlegung, die sie eher dazu anregen sollte, nur an ihrer Armut an Phantasie zu verzweifeln. Zwischen diesen Bildern, die wie das Vergessen des Lebens sind, geht die Wahlskala von einem Extrem zum anderen: vom eroberungslustigen oder sklavischen Rohling auf der einen Seite bis zum Heiligen und reinen Helden auf der anderen Seite. Seit langer Zeit schon kann man in diesem Ort der Bequemlichkeit nicht mehr atmen. Die Welt und der Mensch als Repräsentation stinken wie Aas und es ist von nun an kein Gott mehr da, der aus den Leichengruben Maiglöckchenbeete machen könnte. Seitdem die Menschen sterben, wäre es eigentlich ziemlich logisch zu erwarten, dass man sich die Frage stellt — nachdem man die aus den Göttern, der Natur und den biologischen Gesetzen hergeleitete Antwort angenommen hat, ohne dass eine wahrnehmbare Veränderung gefolgt wäre — ob das nicht daran liegt, dass in jedem Augenblick unseres Lebens aus ganz bestimmten Gründen ein großer Teil Tod mitenthalten ist.

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Die enteignende Aneignung kann insbesondere als die Aneignung der Dinge durch die Aneignung der Menschen definiert werden. Sie ist zugleich die Quelle und das trübe Wasser, in dem alle Widerspiegelungen zu undeutlichen Bildern verschwimmen. Ihr sich über die ganze Geschichte erstreckendes Wirkungs- und Einflussgebiet wurde bisher anscheinend durch eine doppelte Grundbestimmung des Verhaltens gekennzeichnet: eine auf Selbstverneinung und Aufopferung beruhende Ontologie (ihre jeweiligen objektiven und subjektiven Aspekte) und eine grundsätzliche Dualität, eine Teilung zwischen Besonderem und Allgemeinem, Individuellem und Kollektivem, Privatem und Öffentlichem, Theoretischem und Praktischem, Geistigem und Materiellem, Intellektuellem und Manuellem usw. Der Widerspruch zwischen universeller An- und Enteignung setzt die Veranschaulichung und die Vereinsamung des Herrn voraus. Dieses mythische Bild des Schreckens, der Zwangsläufigkeit und des Verzichts bietet sich den Sklaven, den Dienern und allen, die sich danach sehnen, ein anderer Mensch unter anderen Bedingungen zu werden, es ist die illusorische Widerspiegelung ihrer Teilnahme am Eigentum — eine natürliche Illusion, da sie durch das alltägliche Opfer ihrer Energie (das, was die Alten Mühe und Pein nannten, während wir Fleiß und Arbeit dazu sagen) tatsächlich an ihr teilnehmen und sie dieses Eigentum in dem Sinne erzeugen, in dem es sie ausschließt. Dem Herrn seinerseits bleibt es nur übrig, sich an den Begriff der Opfer-Arbeit festzuklammern — wie Jesus an sein Kreuz und seine Nägel; ihm steht es zu, auf seine Art das Opfer authentisch zu machen, scheinbar auf sein Recht auf den ausschließlichen Gebrauch zu verzichten und nicht mehr durch Anwendung einer rein menschlichen Gewalt — d.h. ohne Vermittlung — zu enteignen. Diese erhabene Geste verwischt die ursprüngliche Gewalt, das edle Opfer spricht den Mann in den Spezialeinheiten frei, der brutale Eroberer wird durch eine Transzendenz angestrahlt, deren Reich immanent ist und die Götter sind die unbeugsamen Verwahrer der Rechte, die zornmütigen Hüter der friedlich-frommen Herde des „Eigentümerseins und -seinwollens“. Die Wette um die Transzendenz und das aus ihr folgende Opfer stellen die schönste Errungenschaft des Herrn, dessen schönste Fügung in die Notwendigkeit der Eroberung dar. Wer um irgendwelche Macht wirbt und die Läuterung des Verzichts ablehnt — der Räuber oder der kleine Tyrann etwa — wird früher oder später wie Freiwild gehetzt werden oder — noch schlimmer — wie einer, der keine anderen Ziele als die seinen verfolgt und der die „Arbeit“ ohne das geringste Zugeständnis der geistigen Ruhe der anderen begreift: so waren z.B. Troppmann, Landru oder Petiot, die ihr Budget ausgeglichen haben, ohne der Verteidigung der freien Welt, dem christlichen Abendland, dem Staat oder dem menschlichen Wert darin Rechnung zu tragen, von vornherein dazu bestimmt, besiegt zu werden. Indem sie die Spielregeln ablehnen, stören Piraten, Gangster und Geächtete alle, die ein gutes Gewissen haben; aber die Herren, die den Wilderer töten bzw. zum Gendarmen ernennen, geben damit der „seit jeher gültigen Wahrheit“ ihre Allmacht wieder: wer nicht seinen Mann steht, verliert sogar das Überleben, wer Schulden macht, um zu bezahlen, hat sein Recht auf Leben bezahlt. Durch das Opfer des Herren bekommt der Humanismus erst feste Umrisse, was aus diesem — das soll ein für allemal klar sein — die lächerliche Negation des Menschlichen macht. Der Humanismus bedeutet, dass der Herr bei seinem eigenen Spiel ernstgenommen und von denen durch Volksentscheid gebilligt wird, die in der scheinbaren Aufopferung, dieser grotesken Widerspiegelung ihres wirklichen Opfers, einen Grund dafür sehen, auf das Heil zu hoffen. Gerechtigkeit, Würde, Größe, Freiheit … — sind diese kläffenden bzw. jammernden Worte etwas anderes als junge Schoßhunde, auf deren Rückkehr die Herren ruhig warten, seitdem heldenhafte Lakaien sich das Recht erkämpft haben, sie auf der Straße angeleint spazieren zu führen? Sie zu gebrauchen, heißt vergessen, dass sie der Ballast sind, dank dem die Macht emporgekommen und sich unangreifbar machen kann. Gesetzt den Fall, ein Regime würde meinen, das mythische Opfer der Herren solle nicht unter so universellen Formen für jedermann zugänglich gemacht werden, und bemüht sich folglich stark, diese Worte zu verfolgen und zu zerstören, ist man dann berechtigt, dadurch beunruhigt zu werden, dass die Linke kein anderes Mittel findet, es zu bekämpfen, als eine blökende Wortklauberei, in der jedes Wort, indem es an das „Opfer“ eines früheren Herrn erinnert, das nicht weniger mythische Opfer eines neuen Herrn heraufbeschwört — eines linken Herrn, einer Macht, die die Arbeiter im Namen des Proletariats erschießen lässt. Das, was den Humanismus definiert und mit dem Begriff des Opfers verbunden ist, gehört zur Angst der Herren und der Sklaven zugleich, es ist nur Solidarität in einer vom Dünnschiss geplagten Menschheit. Dagegen wird irgendein Wort zur Waffe, sobald es zum Skandieren einer Aktion gebraucht wird, die jede hierarchische Macht ablehnt — Lautréamont und die illegalistischen Anarchisten, sowie die Dadaisten hatten es schon verstanden.

Der Aneigner wird also in dem Augenblick zum Besitzer, in dem er das Eigentum an Menschen und Gegenständen in die Hände Gottes bzw. einer universellen Transzendenz übergibt, deren Allmacht auf ihn wie eine seine geringsten Gesten heiligende Gnade zurückfällt. Wer den so geweihten Besitzer kritisiert, greift damit Gott, die Natur, das Vaterland, das Volk an; er schließt sich letzten Endes aus der physischen und geistigen Welt aus. Für einen, der Marcel Havrennes Humor — wie er z.B. in folgendem Satz so schön zum Ausdruck kommt: „Es handelt sich nicht darum zu regieren und noch weniger, regiert zu werden“ — mit Gewalt verbindet, gibt es weder Heil noch Verdammung, keinen Platz in dem universellen Verständnis der Sachen, weder beim Teufel, dem großen Rekuperator der Gläubigen, noch bei irgendeinem Mythos, da er der lebendige Beweis von dessen Unnützlichkeit ist. Diese Menschen wurden für ein Leben geboren, das noch erfunden werden muss; in dem Maße, in dem sie gelebt haben, haben sie sich mit dieser Hoffnung das Leben genommen.

Hier zwei Folgerungen aus der Singularisierung der Transzendenz:

  1. setzt die Ontologie die Transzendenz voraus, dann ist es klar, dass jede Ontologie das Sein des Herren von vornherein rechtfertigt, sowie die hierarchische Macht, in der der Herr sich durch mehr oder weniger getreue Bilder widerspiegelt.
  2. zum Unterschied zwischen Hand- und Kopfarbeit, Praxis und Theorie kommt wie bei einer Doppelbelichtung der hinzu zwischen Arbeit als einem wirklichen Opfer und ihrer Organisation in der Art des Scheinopfers.

Man ließe sich leicht dazu verleiten, den Faschismus — unter anderem — als ein Glaubensbekenntnis und die Selbstverbrennung einer Bourgeoisie zu erklären, die durch den Mord Gottes und die Zerstörung des großen, heiligen Spektakels heimgesucht wird und sich dem Teufel, einer umgekehrten Mystik, hingibt — einer schwarzen Mystik mit den dazugehörigen Riten und Sühneopfern. Mystik und Großkapital.

Es muss auch daran erinnert werden, dass die hierarchische Macht nicht ohne Transzendenz, Ideologien und Mythen denkbar ist. Der Mythos der Entmystifizierung ist übrigens schon bereit, sie abzulösen: dafür genügt es, sehr philosophisch zu „vergessen“, durch Taten zu entmystifizieren. Dann wird jede sauber entschärfte Entmystifizierung schmerzlos, wie Euthanasie, sie wird humanitär. Bestände nicht die Bewegung der Entmystifizierung, die die Entmystifizierer letzten Endes entmystifizieren wird.

(Fortsetzung in der nächsten Nummer)
  • Was wird aus der mit der einheitlichen Gesellschaft innig verbundenen Totalität in ihrem Kampf mit der bürgerlichen Zerstörung dieser Einheit?
  • Wird es einer künstlich wiederhergestellten Einheit gelingen, den im Konsum entfremdeten Arbeiter zu täuschen?
  • Wie könnte aber in einer zersplitterten Gesellschaft die Zukunft für die Totalität aussehen?
  • Welche unerwartete Aufhebung dieser Gesellschaft und ihrer gesamten Organisation des Scheins wird uns zur glücklichen Lösung führen?

All das, was Sie gern erfahren möchten, wird im zweiten Teil dieses Artikels dargelegt!

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1976
, Seite 32
Autor/inn/en:

Raoul Vaneigem:

Geboren 1934 in Lessines (Belgien). Künstler, Autor und Kulturphilosoph, Mitglied der Situationistischen Internationale.

Pierre Gallissaires:

Geboren 1932 in Talence (Gironde). Übersetzer und Mitgründer der Edition Nautilus in Hamburg.

Hanna Mittelstädt:

Geboren 1951 in Hamburg. Autorin und Übersetzerin, Mitgründerin der Edition Nautilus in Hamburg.

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