Context XXI » Print » Jahrgang 1999 » Heft 6/1999
Tjark Kunstreich

Auschwitz im Kosovo

Die penetrante Lüge von der Vergleichbarkeit der Geschehnisse im Kosovo mit der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie stieß bei vielen Überlebenden der Shoah auf Widerspruch.

Während des Kosovo-Krieges ermöglichte die Parallelisierung der Geschehnisse im Kosovo mit den deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges in erster Linie (ehemaligen) Pazifisten die moralisch einwandfreie Befürwortung des Krieges. Es gehörte zum guten Ton, „innerlich zerrissen“ (Joseph Fischer) zu sein. Die vordergründige Widerwilligkeit, diesen Krieg zu führen, war jedoch kein vorgezogenes Rückzugsgefecht für den Fall, dass der Krieg in einem Debakel enden würde. Im Gegenteil: Sie war die Vorab-Legitimation des Einsatzes aller Mittel. Zugleich brachte die Parallelisierung auch jene in Widersprüche, die tatsächlich innerlich zerrissen waren, weil sie nicht nur keine Pazifisten sind, sondern weil sie am weltweiten Schutz ethnischer und religiöser Minoritäten ein existentielles Interesse haben. Deswegen sahen sie keine Alternative zu den Bombardements, und den Verweis auf die Interessen der NATO-Staaten auf dem Balkan quittierten sie mit einem Achselzucken.

Zahlreiche Überlebende des Holocaust haben sich während des Kosovo-Krieges so geäußert, und das Medieninteresse war ihnen sicher. So meinte Nobelpreisträger Elie Wiesel, der Einsatz sei „moralisch erforderlich“. Er formulierte damit die vorherrschende Meinung unter den Juden in den USA. Marek Edelman, der letzte noch lebende Anführer des Aufstands im Warschauer Getto, forderte gar den Einsatz von Bodentruppen im Kosovo. Ignatz Bubis sagte, er sei „hin- und hergerissen. Jedenfalls muss man versuchen aus dem Teufelskreis rauszukommen.“ Aus Solidarität mit den albanischen Flüchtlingen traten alle möglichen Bedenken in den Hintergrund. „Sieht man dem Völkermord zu, setzt man sich der Kritik aus, man habe ihn nicht verhindert. Greift man militärisch ein, heißt es, man treffe Unschuldige“, so Bubis. Mit dem Begriff „Völkermord“ befand er sich zumindest in Deutschland schon auf dem halben Weg zur Gleichsetzung, denn im Nachfolgestaat des „Dritten Reichs“ wird dieser vor allem im Zusammenhang mit der deutschen Vergangenheit benutzt. Zugleich aber grenzte er sich ab: Zwischen Slobodan Milosevic und Hitler, zwischen der Situation im Kosovo und der Shoah gebe es keine Parallelen. Hier setzte auch die Kritik von zahlreichen anderen Überlebenden an, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten und damit kaum auf Resonanz in den Medien stießen. In einem Offenen Brief an Josef Fischer und Rudolf Scharping kritisierten ehemalige Verfolgte, unter ihnen die ehemaligen Auschwitz-Häftlinge Esther Bejarano und Kurt Goldstein sowie der antifaschistische Widerstandskämpfer Peter Gingold, die Gleichsetzung grundsätzlich als „aus Argumentationsnot für eine verhängnisvolle Politik geborene Verharmlosung des in der bisherigen Menschheitsgeschichte einmaligen Verbrechens.“ Historisch sei die Charta der Vereinten Nationen eine Konsequenz aus Faschismus und Krieg. Deswegen habe, wer die „antifaschistische, den Menschenrechten verpflichtete Rolle der UNO nicht nutzt, sondern die UNO ausschaltet und schwächt, ... jedes Recht verloren, sich auf antifaschistische Postulate wie ‚Nie wieder Auschwitz’ zu beziehen.“ Im Gegenteil werde eine Folge dieser Ausschaltung der UNO „ein Wiedererwachen der Kräfte sein, die 1945 entscheidend geschlagen zu sein schienen“. Auch sie zogen historische Parallelen: Sie erinnerten daran, dass Deutschland schon zwei Mal in diesem Jahrhundert gegen Serbien Krieg führte und dass die Bundeswehr heute noch „Serbenschlächter“ des ersten und des zweiten Weltkriegs wie August von Mackensen und Karl-Wilhelm Thilo ehrt. (Nach Mackensen, der im ersten Weltkrieg für äußerste Härte gegen die serbische Zivilbevölkerung stand, ist eine Kaserne benannt. Thilo war Wehrmachtsoffizier, später Generalmajor der Bundeswehr und Kommandeur jener 1. Gebirgsjäger-Division, die heute wie im zweiten Weltkrieg auf dem Balkan präsent ist.) Nur unter Bruch des Völkerrechts und aller möglichen Verträge sei es dem heutigen Deutschland möglich, Krieg zu führen. Die Menschenrechte waren für die Gegner ebenso wie für die Befürworter der Bombardements der zentrale Bezugspunkt, nur war es für die Gegner die UNO, die „zur Verwirklichung und Verteidigung der antifaschistischen Errungenschaften der Völker“ berufen sei. Aber das war nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Überlebenden, die den Krieg befürworten, und jenen, die ihn ablehnen. Neben der Kritik an der Gleichsetzung war es vor allem die sich zwischen den Zeilen vermittelnde Einschätzung, dass die Nachkriegsordnung mit diesem Krieg endgültig zerbrochen sei.

Menschen- und Völkerrecht als Kriegsgrund

Kriegsgegner und -befürworter einte der positive Bezug auf das Völkerrecht und die Menschenrechte. Jenseits einer Realpolitik des Konfliktmanagements fiel auch den Gegnern nichts ein, denn schließlich sind auch für sie Begriffe wie Volk, Staat und Menschenrecht sakrosankt. Die falsche Alternative „Zivilgesellschaft oder Barbarei“ lässt nicht nur die zum Krieg drängende Verwertungslogik des Kapitals unangetastet. Die Renaissance des völkischen Nationalismus bereitet den Überlebenden schlaflose Nächte, aber mit unterschiedlichen Konsequenzen: Während die einen, wie schon im Golfkrieg, keine Alternative zu einer an Demokratie und Menschenrechten orientierten Weltordnung sehen, derenAufgabe vor allem darin besteht, örtliche Despoten in Schach zu halten, bestehen die anderen noch auf dem Primat des Völkerrechts beim Vorgehen gegen Menschenrechtsverletzungen.

Dass gerade das Völkerrecht die Grundlage für die Unabhängigkeitsbestrebungen aller möglichen Ethnien ist und die Menschen- und Minderheitenrechte nicht im Widerspruch zum völkischen Nationalismus stehen, sondern seine Grundlage sind, auf die sich - eben zu Recht - auch die NATO bei ihrem Vorgehen berief, belegt zwar die Hilflosigkeit dieser Argumentation, sagt aber nichts darüber aus, wie das „Wiedererwachen der Kräfte ..., die 1945 entscheidend geschlagen zu sein schienen“, wie es im Offenen Brief heißt, zu verhindern sei.

„Während Deutschland mit der Begründung, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, wieder Krieg führt, geht der Kleinkrieg gegen die Überlebenden der Nazi-Verbrechen unvermindert weiter“, stellte das bundesweite Bündnis gegen IG Farben, ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen und Organisationen, der seit über zehn Jahren einen Kampf gegen die immer noch existierende IG Farben-Abwicklungsgesellschaft und um die Entschädigung der ehemaligen IG Farben-Zwangsarbeiter führt, in seinem Aufruf zur „Konferenz gegen die Versöhnung mit der deutschen Vergangenheit“ fest, die am 2. und 3. Juli 1999 in Berlin stattfand. Vor dem Hintergrund der Debatte um die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter werde deutlich, dass es nicht mehr darum gehen könne, „für die Forderungen der Überlebenden überhaupt eine Öffentlichkeit zu schaffen, sondern darum, die Erpressung der Überlebenden mit ihrem hohen Alter und ihrer oft elenden sozialen Lage zu verhindern; es geht nicht mehr nur darum, die Wahrheit der Nazi-Verbrechen öffentlich zu machen, sondern darum, die Instrumentalisierung dieser Verbrechen für deutsche Großmachtambitionen zu kritisieren.“

Ausdrücklicher Anlass der Konferenz war der Offene Brief der Überlebenden, mit dem sich die Veranstalter solidarisierten, auch wenn sie, wie dem Aufruf zu entnehmen war, in vielen Punkten eine andere Einschätzung vertraten. Die Konferenz hat kaum Resonanz in linken Medien gefunden, weil es nicht darum ging, ob man gegen den Krieg hätte sein sollen, sondern mit welchen Argumenten man dagegen zu sein hatte. In der Eröffnungsdebatte ging es gleich um den Kern der Kontroverse: War dieser Krieg ein deutscher Krieg? Und selbst, wenn nicht: Warum hat die Mehrheit der Kriegsgegner es nicht einmal zur alten Parole „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ gebracht?

Sinn der Konferenz sollte es sein, ohne die gravierenden unterschiedlichen Einschätzungen und Analysen zum ersten deutschen Krieg seit 1945 zu negieren, herauszufinden, ob sich nicht trotzdem ein Konsens wenigstens über zwei Dinge herstellen ließe: Erstens, dass dieser Krieg ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Befreiung der deutschen Nation von Auschwitz darstellte; zweitens, dass die Feindschaft zum rot-grünen Umgang mit den Nazi-Verbrechen ein zentrales Kriterium zur Beurteilung der Frage sein muss, von wem hier noch etwas zu erwarten ist. Dass nicht alle Gegner des rot-grün-antitotalitären Menschenrechtsgeschwätzes, in dem „Auschwitz“ zur beliebigen Metapher verkommt, auch gegen den Krieg waren, ist kein Argument gegen diese zwei Punkte, weil auch nicht alle Kriegsgegner der nunmehr faktischen Bewältigung der Vergangenheit etwas entgegenzusetzen hatten und haben.

Wenn etwas festzustellen war, dann die tiefe Kluft zwischen jenen, die, aus welchen Gründen auch immer, der deutschen Normalisierung nichts abgewinnen können, und jenen, die, kaum war der Krieg vorbei, zum linken Business as usual zurückkehrten und deren Antworten genauso klingen wie vor dem Krieg oder vor zwanzig oder dreißig Jahren. Einige Monate später scheint sich zu bestätigen, dass der Kosovo-Krieg nur für eine Minderheit der deutschen Linken eine Zäsur darstellte — schon wird in linken Zeitungen das Pro und Contra des Einsatzes von Bundeswehrsoldaten in Ost-Timor diskutiert. Dieser Einsatz, der weder mit Auschwitz begründet wurde noch überhaupt von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurde — abgesehen von gelegentlichen Hinweisen auf die Kosten des Unternehmens —, bestätigt die Einschätzung, dass es die Berliner Republik in Zukunft nicht mehr nötig haben wird, militärische Einsätze noch mit Auschwitz legitimieren zu müssen.

Den tiefsten Einschnitt hat dieser Krieg sicherlich für die Überlebenden bedeutet. Auf der Konferenz erzählte Kurt Goldstein, was der Besuch von Scharping und uniformierten Bundeswehrsoldaten in Auschwitz kurz vor dem Angriff auf Jugoslawien für ihn bedeutet hat: „Als ich diesen Herrn Scharping in Auschwitz am Block 11 - ich sage Ihnen gleich, was für mich ehemaligen Auschwitzer der Block 11 ist — stehen sah und dieser Mensch gesagt hat, wir stehen hier, weil wir wissen, was Auschwitz war, und weil wir bald ins Kosovo gehen, um dort ein neues Auschwitz zu verhindern, glauben Sie mir: da ist mir die Galle hochgekommen. (...) Der Block 11 ... ist durch zwei Dinge für ewig in die Weltgeschichte der Schandmale eingegangen. Dort steht zwischen dem Block 10 und 11 die Schwarze Mauer, die Erschießungsmauer, wo die Kameraden erschossen worden sind, nachdem sie in den Zellen dort in Block 11, dem sogenannten Strafblock, gepeinigt worden waren. Da sind hunderte Kameradinnen und Kameraden erschossen worden an der Schwarzen Wand. Es gibt keinen Besuch von Delegationen in Auschwitz, die nicht an den Block 11 gehen und dort ihren Kranz niederlegen. Da hat sich Herr Scharping hingestellt, um diese ungeheuerliche Bemerkung zu machen, die Ankündigung ihres verbrecherischen Aggressionskriegs in Kosovo.“

Die Dokumentation zur Konferenz Deutschland: wiedergutgemacht kann für öS 80,- (inkl. Porto) beim Bündnis gegen IG Farben, Engeldamm 68, 10179 Berlin, bestellt werden.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1999
, Seite 15
Autor/inn/en:

Tjark Kunstreich:

Geboren 1966, Publizist und Sozialarbeiter. Seit 1992 zahlreiche Beiträge in „Konkret“, „Jungle World“, „Bahamas“ und anderen Zeitschriften sowie einigen Büchern. Als Psychotherapeut in Wien tätig.

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