Internationale Situationniste » Numéro 11
Pierre Gallissaires (Übersetzung) • Hanna Mittelstädt (Übersetzung) • Raoul Vaneigem

Als Ziel die praktische Wahrheit haben

Bei dem Versuch, den neuen revolutionären Kräften ein Modell theoretischer wie praktischer Kohärenz zu präsentieren, findet sich die S.I. in jedem Augenblick in der Lage und dazu aufgefordert, durch Ausschluss oder Bruch die Versäumnisse, die Unzulänglichkeiten, die Kompromittierungen derjenigen zu sanktionieren, die sie zu dem am weitesten fortgeschrittenen experimentellen Stadium ihres gemeinsamen Projekts machen — oder es in ihr erkennen. Wenn die aufständische Generation, dazu entschlossen, eine neue Gesellschaft zu gründen, von grundlegenden und undiskutierbaren Prinzipien ausgehend darauf achtet, jeden Versuch der Rekuperierung zunichte zu machen, dann geschieht das keineswegs der Reinheit zuliebe, sondern aus einem einfachen Reflex der Selbstverteidigung. Von Organisationen kommend, die in ihren Grundzügen den Typus der kommenden gesellschaftlichen Organisation andeuten, besteht die Mindestforderung darin, Leute nicht zu tolerieren, die die Macht vollkommen zu tolerieren weiß.

Unter ihrem positiven Aspekt stellt die Antwort „Ausschluss“ und „Bruch“ die Frage des Beitritts zu der S.I. und des Bündnisses mit autonomen Gruppen und Individuen. In ihrer Minimumdefinition revolutionärer Organisationen betonte die 7. Konferenz besonders folgenden Punkt: „Eine revolutionäre Organisation lehnt jede Reproduzierung der hierarchischen Verhältnisse der herrschenden Welt in ihrem Inneren ab. Die einzige Grenze der Beteiligung an ihrer totalen Demokratie ist die Anerkennung und Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder: diese Kohärenz muss einerseits in der eigentlichen kritischen Theorie und andererseits im Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der Praxis liegen. Sie kritisiert radikal jede Ideologie als eine von den Ideen getrennte Macht und als Ideen der getrennten Macht.“

Die Kohärenz der Kritik und die Kritik der Inkohärenz sind eine einzige und gleiche Bewegung die dazu verdammt ist, sich zu zerstören und sich zu einer Ideologie zu verfestigen, sobald sich zwischen den verschiedenen Gruppen einer Föderation, zwischen Individuen einer Organisation, zwischen der Theorie und der Praxis eines Mitglieds dieser Organisation die Trennung einstellt. Wenn wir in dem globalen Kampf, in dem wir stehen, auch nur geringfügig an der Front der Kohärenz zurückweichen, lassen wir die Trennung auf der ganzen Linie gewinnen. Das veranlasst zu größter Vorsicht: dass wir unsere Kohärenz nie für erworben erachten, dass wir den klaren Blick für die Gefahren behalten, die sie in der grundlegenden Einheit der individuellen und kollektiven Haltungen bedrohen, dass wir diesen Gefahren zuvorkommen und sie vermeiden.

Die Tatsache, dass sich eine geheime Fraktion unter uns bilden konnte, aber auch, dass sie sich schnell demaskiert fand, zeigt deutlich genug die Schärfe sowie die mangelnde Schärfe an, die wir in der Transparenz der intersubjektiven Beziehungen bewiesen haben. Mit anderen Worten, die Ausstrahlung der S.I. liegt wesentlich darin: sie ist fähig, ein Beispiel zu geben; im negativen Sinn, indem sie ihre Schwächen zeigt und korrigiert, und zugleich im positiven Sinn, indem sie diesen Korrekturen neue Forderungen entnimmt. Wir haben oft wiederholt, dass es wichtig ist, sich nicht über Personen zu täuschen; das gilt es unaufhörlich zu beweisen und dadurch die Unmöglichkeit zu vergrößern, sich über uns zu täuschen. Und was für Personen gilt, gilt ebenso für Gruppen.

Bekannt sind die Worte von Sokrates an einen der jungen Leute, an die er sich richtete: „Rede ein wenig, damit ich Dich sehe“. Wir sind in der Lage, diese Art von Sokrates und von jungen Leuten zu vermeiden, wenn der exemplarische Charakter unserer Aktivität für die Ausstrahlungskraft unserer Anwesenheit in dem und gegen das herrschende Spektakel sorgt. Den Bossen der Integrierung und den Kümmerlingen, die übereinkommen werden, uns als eine Führungsgruppe hinzustellen, gilt es, das anti-hierarchische Beispiel einer fortwährenden Radikalisierung entgegenzusetzen; nichts von unseren Experimenten zu verschleiern und durch die Verbreitung unserer Methoden, unserer kritischen Thesen, unserer Agitationsverfahren die größte Transparenz über die Wirklichkeit des kollektiven Projekts der Befreiung des alltäglichen Lebens herzustellen.

Die S.I. muss als Achse handeln, die ihre Bewegung durch die revolutionären Impulse der gesamten Welt erhält und auf einheitliche Weise die radikale Wendung der Ereignisse beschleunigt. Im Unterschied zu den rückständigen Sektoren, die sich darauf versteifen, vor allem die taktische Einheit zu suchen (Gemeinsame Fronten, Nationale Fronten, Volksfronten), werden sich die S.I. und autonome verbündete Gruppen nur auf der Suche nach einer organischen Einheit begegnen, weil sie nur dort die taktische Einheit für wirksam halten, wo die organische Einheit möglich ist. Gruppe oder Individuum, beide müssen mit der Schnelligkeit der Radikalisierung der Ereignisse leben, um sie ihrerseits zu radikalisieren. Nichts anderes ist die revolutionäre Kohärenz.

Sicherlich sind wir von einer solchen Harmonie der Fortentwicklung noch entfernt, aber genauso sicher bewegen wir uns auf sie zu. Zwischen den grundlegenden Prinzipien und ihrer Verwirklichung liegt die Geschichte der Gruppen und der Individuen, die auch die Geschichte ihres möglichen Rückstandes ist. Nur die Transparenz in der wirklichen Beteiligung wendet die Bedrohung ab, der die Kohärenz ausgesetzt ist: die Verwandlung des Rückstandes in Trennung. Alles, was uns noch von der Verwirklichung des situationistischen Projekts trennt, hängt von der Feindseligkeit der alten Welt ab, in der wir leben, doch das Bewusstsein dieser Trennungen enthält bereits das, was sie auflösen wird.

Nun wird der Rückstand in seinen verschiedenen Stufen genau in dem gegen die Trennung begonnenen Kampf sichtbar; genau dort verdunkelt das fehlende Bewusstsein des Rückstandes das Bewusstsein der Trennungen, zieht es die Inkohärenz nach sich. Wenn das Bewusstsein faul wird, sickert die Ideologie durch. Man konnte sehen, wie der eine (Kotànyi) die Ergebnisse seiner Analysen für sich behielt, indem er sie mit der Überlegenheit einer Wasseruhr gegenüber der Zeit wie mit einem Tropfenzähler mitteilte, und die anderen — die beim letzten Platzregen ausgeschlossen waren — ihre vielfachen Unzulänglichkeiten gleichfalls für sich behielten, indem sie wie Pfauen auftraten, obwohl sie dessen Schweif nicht besaßen. Die mystische abwartende Haltung und der egalitäre ökonomische Geist hatten den gleichen Geruch. Weg mit euch, lächerliche Figuren, Hanswürste mit dem unheilbaren Unbehagen!

Der Begriff des Rückstandes gehört zum Wesen des Spiels, er trifft sich mit dem des Spielleiters. So wie die Verschleierung des Rückstandes oder die Verschleierung von Experimenten den Begriff des Prestiges wiederherstellt, auf die Verwandlung des Spielleiters in einen Chef hinausläuft und stereotype Verhaltensweisen hervorbringt, die Rolle mit ihren neurotischen Folgeerscheinungen, ihrem gequälten Verhalten, ihrer Unmenschlichkeit, so gestattet es die Transparenz, sich dem gemeinsamen Projekt mit der berechneten Unschuld der Spieler der Phalanstere anzuschließen, die miteinander rivalisieren, ihre Tätigkeit wechseln und darauf aus sind, die am weitesten gehende Radikalität zu erreichen. Doch der Geist der Leichtigkeit führt über die Einsicht in die Verteilung der Gewichte hinaus. Er impliziert den klaren Blick für die Fähigkeiten eines jeden.

Von den Fähigkeiten wollen wir nichts wissen außerhalb des revolutionären Gebrauchs, der sich von ihnen machen lässt, ein Gebrauch, der seinen Sinn im täglichen Leben bekommt. Das Problem liegt nicht darin, dass einige besser leben, denken, bumsen, schießen, reden als andere, sondern dass kein Genosse so schlecht lebt, denkt, bumst, schießt, redet, dass er dazu gebracht wird, seinen Rückstand zu verschleiern, die unterdrückte Minderheit zu spielen und im Namen selbst des Mehrwerts, den er den anderen aufgrund seiner eigenen Unzulänglichkeiten zugesteht, eine Demokratie der Ohnmacht zu fordern, in der er selbstverständlich seine Meisterschaft bestätigen würde. Mit anderen Worten: jeder Revolutionär muss zumindest die Leidenschaft haben, das zu verteidigen, was ihm am teuersten ist: seinen Willen zur individuellen Verwirklichung, das Verlangen, sein eigenes alltägliches Leben zu befreien.

Verzichtet jemand darauf, im Kampf um seine Kreativität, um seine Träume, um seine Leidenschaften die Totalität seiner Fähigkeiten einzusetzen, und folglich darauf, diese zu entwickeln, so dass er durch diesen Verzicht auch auf sich selbst verzichtet, vergibt er sogleich die Chance, in seinem eigenen Namen zu sprechen und a fortiori im Namen einer Gruppe, die in sich die Chancen der Verwirklichung aller Individuen trägt. Seine Vorliebe für das Opfer, seine Wahl des Unechten werden durch den Ausschluss oder den Bruch nur öffentlich konkretisiert, mit der Logik der Transparenz, gegen die er verstoßen hat.

Über den Beitritt, über das Bündnis entscheidet das Beispiel der wirklichen Beteiligung am revolutionären Projekt souverän. Das Bewusstsein des Rückstandes, der Kampf gegen die Trennungen, die Leidenschaft, eine größere Kohärenz zu erreichen, müssen zwischen uns so wie zwischen der S.I. und den autonomen Gruppen oder künftigen Föderationen, ein objektives Vertrauen herstellen. Es gibt allen Grund zur Hoffnung, dass unsere Verbündeten mit uns in der Radikalisierung der revolutionären Bedingungen rivalisieren, wie wir erwarten, dass diejenigen mit den Situationisten rivalisieren, die sich dazu entschließen werden, sich ihnen anzuschließen. Alles erlaubt die Annahme, dass bei einem bestimmten Ausweitungsgrad des revolutionären Bewusstseins jede Gruppe eine derartige Kohärenz erreicht, dass alle Beteiligten zu Spielleitern geworden sind und der Rückstand unerheblich ist, so dass den Individuen das Recht gelassen werden kann, in ihren Optionen zu variieren und die Organisation entsprechend ihrer leidenschaftlichen Verwandtschaften zu wechseln. Aber die Tatsache der momentan überragenden Stellung der S.I. muss auch berücksichtigt werden, ein glückliches Missgeschick, wie das zweideutige Lächeln der Tigerkatze der unsichtbaren Revolution.

Da die Internationale heute über einen theoretischen und praktischen Reichtum verfügt, der sich nur noch vermehrt, sobald ihn die revolutionären Elemente teilen, sich aneignen und erneuern (bis die S.I. und die autonomen Gruppen ihrerseits im revolutionären Reichtum verschwinden), ist sie es sich schuldig, nur diejenigen aufzunehmen, die es in Kenntnis dessen, worum es geht, wünschen. Das heißt jedermann, der den Beweis erbracht hat, dass er, indem er für sich selbst spricht und handelt, für viele spricht und handelt; sei es, dass ihm durch seine poetische Praxis (Flugblatt, Aufstand, Film, Agitation, Buch) eine Neugruppierung der revolutionären Kräfte gelingt, sei es, dass er sich in dem Experiment der Radikalisierung einer Gruppe als alleiniger Träger der Kohärenz herausstellt. Die Frage, ob der Übergang zur S.I. sinnvoll ist, wird von da an zu einer Frage der Taktik, die debattiert werden muss. Entweder ist die Gruppe stark genug, um einen der Spielleiter abzutreten, oder sie ist so gescheitert, dass die Spielleiter allein entscheiden, oder dem Spielleiter ist es aufgrund von unvermeidbaren objektiven Umständen nicht gelungen, eine Gruppe zu bilden.

Überall, wo das neue Proletariat seine Emanzipation probt, ist die Autonomie in der revolutionären Kohärenz der erste Schritt zur generalisierten Selbstverwaltung. Der klare Blick, den wir uns für uns selbst und die Welt zu erhalten bemühen, zeigt uns immer wieder, dass es in der Praxis der Organisation keine Präzisierung und keine Warnung gibt, die überflüssig ist. In der Frage der Freiheit ist ein Irrtum im Detail bereits eine staatliche Wahrheit.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1977
, Seite 37
Autor/inn/en:

Raoul Vaneigem:

Geboren 1934 in Lessines (Belgien). Künstler, Autor und Kulturphilosoph, Mitglied der Situationistischen Internationale.

Pierre Gallissaires:

Geboren 1932 in Talence (Gironde). Übersetzer und Mitgründer der Edition Nautilus in Hamburg.

Hanna Mittelstädt:

Geboren 1951 in Hamburg. Autorin und Übersetzerin, Mitgründerin der Edition Nautilus in Hamburg.

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