Context XXI » Print » Jahrgang 1996 » ZOOM 6/1996
Peter Gstettner

Abwehrkampf gegen die Erinnerung

Der „Abwehrkampf gegen die Erinnerung“ ist – obwohl das der Titel vielleicht nahelegt – kein Kärntner Spezifikum. Die Mechanismen des Vergessens, des Umdeutens der Geschichte, der Selbstrechtfertigung sind weder individuelle Erscheinungen noch auf bestimmte Regionen oder Gruppen begrenzt.

Nach 1945, und besonders nach 1948, als die Amerikaner angesichts der Veränderung der weltpolitischen Lage ihre Aufmerksamkeit viel mehr dem „kalten Krieg“ als ihrem Entnazifizierungsprogramm widmeten, begann in Deutschland (und noch offener in Österreich, das sich ja als „Opfer“ der Hitleraggression definierte) der Abwehrkampf gegen die Erinnerung. Die allgemeine Stimmung dafür war günstig; die „Hauptschuldigen“ standen in Nürnberg vor dem Siegertribunal, die heimischen Parteien begannen um die Wählergunst der Millionen Mitläufer und geringer „Belasteten“ zu buhlen; weitere Untersuchungen über Engagements für das NS-Regime verliefen im Sand oder endeten mit Freisprüchen; die meisten Verfahren wurden eingestellt. Für die „Ehemaligen“ hieß das Gebot der Stunde: sich rechtfertigen, alle Mitverantwortung, Mitschuld, Teilhabe leugnen, Abwehr mobilisieren – frei nach dem Motto: Wir haben von den Verbrechen nichts gewußt, die Opferzahlen der Juden sind übertrieben, in anderen totalitären Systemen hat es auch KZs gegeben, viel schlimmere sogar, die anderen haben also auch Verbrechen begangen, macht endlich Schluß mit diesen Diskussionen, laßt uns endlich in Ruhe, es war nicht alles schlecht an der Hitler-Zeit usw. (vgl. Giordano 1987).

Es war, so schreibt der deutsche Politikwissenschafter Graf Kielmansegg, „das gleiche einfache und mächtige Motiv, das so viele von ihnen bestimmt hatte, sich mit dem Regime Hitlers auf die eine oder andere Weise einzulassen, die Sorge um die Stellung, das Fortkommen, den gesellschaftlichen Status, die gesicherte bürgerliche Existenz ...“ (Graf Kielmansegg 1989, S.34). Die meisten hatten mit dem Abwehrkampf gegen die Erinnerung Erfolg, nicht zuletzt deshalb, weil, wie Graf Kielmansegg weiter ausführt, „ihnen eine weit verbreitete Bereitwilligkeit, einander zu entlasten, zu Hilfe kam. Jeder bescheinigte dem anderen, daß er nur zum Schein Nationalsozialist gewesen sei, sich jedenfalls nichts habe zuschulden kommen lassen ... charakteristisch war die allgemeine Exkulpationssolidarität, die die Deutschen verband“ (Graf Kielmansegg 1989, S.35).

Diese Solidarität im gegenseitigen Sich-Frei-Sprechen hatte schon bald ihren organisatorischen Rahmen in den Vereinen gefunden, die sich wieder konstituieren durften (in Österreich zumeist erst nach 1955), in den Traditionsvereinen, Turnerbünden, waffentragenden Verbindungen, Kameradschaftsverbänden, in den organisierten Vereinsabenden und Treffen der ehemaligen SS-Verbände und Nazi-Ordensträger. So wurde es möglich, schreibt Graf Kielmansegg weiter, „zu vergessen, daß man eben nicht nur einen Krieg geführt hatte, in dem es da und dort zu Exzessen gekommen war, sondern einen Krieg, in dem hinter der Front Millionen wehrlose Menschen ohne jeden Zusammenhang mit den Kriegshandlungen planmäßig ermordet wurden“ (1989, S.47).

Nicht die Ausstellung, sondern die Befehlenden und die Exekutierer haben einen Teil der Soldatenehre besudelt. Diese mögen sich schämen, zumindest aber schweigen.

Zitat (wie alle folgenden) aus dem Klagenfurter Gästebuch der Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“.

Es wäre aber leichtfertig und fast eine Beschönigung zu sagen, daß es keine spezifischen Kärntner Aspekte im Abwehrkampf gegen die Erinnerung gäbe. Bei jedem Aufarbeitungsversuch der Kärntner NS-Geschichte stellt sich schon sehr bald die Frage, weshalb in diesem Land Geschichtswissen so lückenhaft und einseitig ist und weshalb Geschichtsbewußtsein so stark von oben her verordnet wird – und offensichtlich verordnet werden muß, damit ja niemand auf die Idee kommt, die andere, die dunkle Seite der Vergangenheit, die verschwiegene Geschichte anzusprechen und so den Schweigekonsens zu brechen. Das dominante politische Interesse, aber auch das der herrschenden Kärntner Geschichtsschreibung, galt und gilt der Aufrechterhaltung des Schweigens rund um die Naziverbrechen, um ihre Urheber und ausführenden Organe. Das macht historische und pädagogische Aufklärung in diesem Land so schwer, schwerer als in anderen Ländern. Wenn die historische Aufklärung zusätzlich von dem ständigen Verdacht begleitet ist, eine „linkslastige Historiker-Schickeria“ sei am Werk und untergründig geschähe womöglich auch „antifaschistische Erziehung“ – und das will man offensichtlich auf keinen Fall zulassen –, dann wird klar, weshalb „Antifaschismus“ von nationalen und rechten Politikern ständig als eine „linke Strategie der Gehirnwäsche“, als „Tugendterror“ und „Keulenschlag gegen Andersdenkende“ denunziert wird – obwohl Antifaschismus, also die grundsätzliche Ablehnung und Bekämpfung jeder Variante und jedes Aufkeimens von NS-Gedankengut, Grundlage unserer Verfassung und Republik ist. Als „Alternative“ zum verunglimpften Antifaschismus wird das „Kärntner Heimatbewußtsein“ propagiert. Dieses „Heimatbewußtsein“ ist offenbar nichts anderes als die affirmative Hinwendung zur „bodenständigen“, immer schon unkritisch vorausgesetzten positiven Emotion hinsichtlich des „großdeutschen Kultur- und Sprachraums“, wenn nicht gar hinsichtlich der Werte des „Dritten Reiches“. Daraus leiten gewisse Politiker dann auch kühn die Zielbestimmung für die heutige Schule ab – wie etwa einer von ihnen bei einer Wahlveranstaltung im Herbst 1994 formuliert hat: „Schulen sollen Kinder bilden und nicht ihre Gehirne mit antifaschistischem Geschwätz vollstopfen.“ (J. Haider, zit. nach Scharsach 1995, S.265)

Das Unterdrücken des historisch aufgeklärten Diskurses in der Öffentlichkeit gehörte zum Habitus der in Österreich seit 1945 herrschenden parteipolitischen Kultur der drei großen Parteien (vgl. Gstettner 1996). Kein Wunder also, wenn der über Österreich hinaus bekannte Antifaschist und Widerstandskämpfer Hermann Langbein, der die KZs in Dachau, Neuengamme und Auschwitz überlebt hat, über die Zeit nach 1945 schrieb: „Die täglichen Probleme des Aufbaus (...) standen damals drängend im Vordergrund. Das habe ich verstanden, und habe gewartet, bis man sich damit auseinandersetzte, wieso es zu einem Auschwitz kommen konnte und was zu tun sei, damit ein ähnlicher Weg nie mehr beschritten werden konnte. Ich habe vergeblich gewartet.“ (Langbein 1987, S.8)

Langbein stieß besonders in Kärntner Schulen auf ein Unwissen, das ihn schockierte. Einer der ganz großen und überall im Reich tätigen Massenmörder aus der Kärntner SS-Clique um den Gauleiter Rainer, Odilo Globocnik, war im Unterricht offenbar nie namentlich genannt worden: „Als ich in Kärntner Schulen (...) fragte, wer Globocnik war, konnte kein Schüler antworten. Und ich fürchte, auch die Lehrer wußten nicht, was dieser Kärntner Altnazi in den Vernichtungslagern Ostpolens verbrochen hat. Auch der Name seines Stabschefs, des Kärntners Ernst Lerch, war niemandem bekannt ...“ (Langbein 1987, S.14/15)

Allen Leuten, die sagen: ’Das hat es doch nie gegeben’, sollte man mal in den Arsch treten und das zeigen!

Das Verschweigen und in der Folge die Unkenntnis geschichtlicher Fakten sind auch die Hauptgründe für das heute so weit verbreitete Unverständnis gegenüber dem Schicksal von Minderheiten, Ausländern, Fremden und „Abweichenden“. Die Weigerung der Mehrheit, sich einfühlsam in die Lage von Minderheiten zu versetzen, äußert sich in der trotzigen Frage: Warum sollte man sich auch in die Lage von Minderheiten versetzen, wenn die Geschichte auf seiten der Mehrheit ist bzw. von ihr geschrieben wird – als Geschichte von Fortschritt, Aufbau und Wohlstand, als Geschichte von Kriegen, Helden und ewigem Abwehrkampf?

In Kärnten ist es die Geschichte, die seit 1920 als große Erzählung von Abwehrkampf und Grenzlandmythos von Generation zu Generation weitergegeben wird. Diese Geschichte beinhaltet vier zentrale Dogmen, nämlich (a) daß das „Grenzland“ immer schon ein bedrohter Raum war, (b) daß die Bedrohung immer vom slawischen Süden her kam, (c) daß die kulturell höherwertigen Menschen immer aus dem Norden kamen und (d) daß die Völker, Volksgruppen und „Rassen“ nicht vermischt werden dürfen (nachzulesen bei den Kärntner Historikern Hans Steinacher, Martin Wutte u. a.).

So tat man sich seit jeher schwer, etwas anzuerkennen, das nicht arisch-germanischen, sondern slawischen Ursprungs war. Vollends in Schwierigkeiten geriet man, als es galt, gemäß der Moskauer Deklaration von 1943 den Alliierten nachzuweisen, daß Österreich 1938 zwar „das erste Opfer“ der Aggression Hitlers gewesen sei, in der Folge aber zur Befreiung vom Nazi-Joch auch eigene Anstrengungen unternommen habe. Dieser „Widerstandsnachweis“ war für die Staatsvertragsverhandlungen wichtig, wenn nicht entscheidend. Doch selbst beim angestrengten Suchen nach dem antinazistischen Widerstand war man bestrebt, den Partisanenwiderstand der Kärntner Slowenen zu minimalisieren und dem „jugoslawischen Kommunistenführer“ Tito in die Schuhe zu schieben. So blieben Partisanen, KZ-Häftlinge, Deserteure, Kriegsgefangene und die wenigen Juden, die den Holocaust überlebt hatten, auch nach 1945 in der Öffentlichkeit entweder „vergessen“ oder mit jenen negativen Attributen behaftet, die die Nazis für angeblich Arbeitsscheue, Asoziale, politisch Unzuverlässige und Kriminelle reserviert hatten.

Viele Kärntner Slowenen, die von den Nazis 1942 zwangsausgesiedelt wurden, weil sie als „Nationalslowenen“ als unzuverlässig galten oder im Verdacht standen, den Partisanenwiderstand unterstützt zu haben, können sich noch erinnern, daß sie 1945 bei ihrer Rückkehr aus den Lagern in ihrer Heimat alles andere als freudig begrüßt wurden, daß ihre Höfe geplündert und die Felder verwüstet waren. „Freiheitliche“ Politiker rechneten ihnen vor, daß doch jetzt mehr zurückgekommen sind als damals ausgesiedelt wurden; außerdem sei die Aussiedelungsaktion eine bevölkerungspolitische Maßnahme gewesen, um die Kärntner Slowenen zu schützen, da das Leben an der Grenze zu Jugoslawien zu gefährlich geworden sei usw. usf.

Es wird ihnen nicht gelingen, den Glauben an die Ehre der deutschen Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg zu zerstören.

So ein Umgang mit der Vergangenheit zeigt, daß der „unangenehme“ Teil der eigenen Geschichte verdrängt werden muß, weil dieser Teil in der herzeigbaren Nachkriegs-Landesgeschichte nicht aufscheinen darf, da er gleich mehrfach „belastet“ ist:

Einmal durch die Tatsache, daß überproportional viele Österreicher (und Kärntner) an prominenter Stelle in den NS-Terrorapparat als Handlanger, Mitläufer und Ausführende involviert waren. Darunter gab es nicht wenige, die sich im antislawischen Abwehrkampf von 1918/19 soldatische Meriten auf der Seite der Deutschnationalen erworben hatten und die dann ihre Karriere in NSDAP-Organisationen, in SA und SS fortzusetzen wußten, z.B. Männer wie Hubert Klausner, Alois Maier-Kaibitsch, Hans Steinacher u.a. Einige davon wurden nach dem 8. Mai 1945 von den Kriegsverbrechertribunalen angeklagt und verurteilt, nur ganz wenige wurden hingerichtet (so der ehemalige Kärntner Gauleiter Friedrich Rainer in Jugoslawien).

Zum anderen war der antinazistische Widerstand in Österreich untrennbar mit den Partisanen verknüpft, die den Nazi-Truppen gerade an den strategisch wichtigen Grenzübergängen in Kärnten und in der Steiermark erhebliche Schwierigkeiten gemacht hatten. Und der Partisanenwiderstand ist untrennbar mit der slowenischen Minderheit in Kärnten verbunden, da diese Volksgruppe den größten Anteil an Partisanen und an Unterstützungsleistungen für den Widerstand auf österreichischem Boden stellte. Außerdem waren die Partisaneneinheiten das natürliche Auffangbecken für jene KZ-Deportierten vom Loibl, denen die Flucht aus dem Lager gelang.

So konnte mit der Löschung der Erinnerung an die Nazi-Zeit in Kärnten ein doppeltes Ziel erreicht werden: Man konnte ungetrübt der „großen Söhne der Heimat“ gedenken, ohne deren Identifizierung mit dem NS-Regime thematisieren zu müssen, und man konnte die Widerstandstätigkeit der Partisanen herunterspielen und als unsoldatische, aufgezwungene, von jenseits der Grenze stammende Machenschaften irgendwelcher kommunistischer Banden denunzieren. Nebenbei konnte man der slowenischen Minderheit signalisieren, daß sie auch in der Nazi-Zeit auf der „falschen Seite“ gestanden habe und sich deshalb nicht zu wundern brauche, wenn sie den Deutschnationalen, den Nationalsozialisten im besonderen, ein Dorn im Auge waren und deshalb als Menschen zweiter Gattung behandelt wurden.

Krieg und Nazis sind total scheiße!

Vom Besonderen zum Allgemeinen: Erinnerung arbeitet mit dem menschlichen Gedächtnis. Wie das Gedächtnis funktioniert, hat seit jeher die Psychologen interessiert. Sie haben zahllose Versuche mit der Merkfähigkeit gemacht, haben die sogenannte Vergessenskurve gefunden und eine Reihe von Faktoren identifiziert, die die Erinnerung verfälschen können. Ein schwerwiegender Faktor, der auf das Erinnerungsvermögen prägend oder bis zur Auslöschung wirken kann, ist das Trauma, d.h. entweder eine zerebrale Verletzung oder ein psychisches Erlebnis, das zu bleibenden Schäden oder zum Tod geführt hat.

Das Trauma ist eine extreme Erfahrung, eine unheilbare Verletzung; „unheilbar“ nicht nur im medizinischen Sinn, sondern vor allem im psychologischen. Primo Levi, der als Mitglied der italienischen Resistenza 1943 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde, schrieb: Die Verletzung, das Trauma, „überdauert die Zeiten; und die Erinnerungen, an die man schließlich doch glauben muß, quälen nicht nur den Peiniger (wenn sie ihn überhaupt quälen ...), sondern führen sein Werk noch fort, indem sie dem Gepeinigten den Frieden versagen.“ (Levi 1990, S.20)

An dieser Stelle beruft sich Levi nicht auf seine eigenen Traumata, die ihm die Nazis zugefügt haben, sondern er zitiert den österreichischen Philosopphen Jean Améry, der im belgischen Widerstand war, von der Gestapo verhaftet und gefoltert wurde, um schließlich – weil er außerdem Jude war – nach Auschwitz deportiert zu werden. Améry schrieb: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert (...) Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.“ (Zit. nach Levi 1990, S.21)

Jean Améry hat Auschwitz überlebt; er konnte aber – wie er es mehr als zehn Jahre zuvor geschrieben hat – nicht mehr heimisch werden in der Welt; er hat sich 1978 das Leben genommen. Auch Primo Levi, dem wir (vor allem in dem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“) die vielleicht tiefsinnigsten und schärfsten Analysen über das Gedächtnis und das Erinnern verdanken, hat Auschwitz überlebt; und wenn er Améry – wie er schreibt, „nicht ohne Entsetzen“ – zitiert, so hat er dies vielleicht mit der untrüglichen Vorahnung eines Traumatisierten getan; auch Primo Levi konnte nicht mehr heimisch werden in der Welt, auch nicht in der Welt der sogenannten Sieger; Primo Levi nahm sich 1987 das Leben.

Die Erinnerung an ein Trauma, z. B. an die Verletzung der seelischen oder körperlichen Integrität der Person, kann selbst ein Trauma sein, kann so schmerzen, als wäre die Erinnerung mit der Verletzung identisch. Primo Levi schrieb dazu: „Die Erinnerung an ein Trauma, ob es nun erlitten oder zugefügt wurde, ist an sich schon traumatisch, denn es schmerzt oder stört zumindest, wenn man es ins Gedächtnis zurückholt. Wer tief verletzt worden ist, neigt dazu, die Erinnerung daran zu verdrängen, um den Schmerz nicht zu erneuern; und derjenige, der diese Verletzung zugefügt hat, drängt seine Erinnerung in die Tiefe ab, um sich von ihr zu befreien, um sein Schuldgefühl zu beschwichtigen.“ (Levi 1990, S.20)

Wer dürfte es wagen, über Dinge zu urteilen, die er nicht selbst erlebt hat. Viel wichtiger als das Vergangene ist das Hier und Jetzt. Das kann ich beeinflussen.

wir die Erklärung für ein Phänomen, auf das wir auch bei unseren Recherchen zum „vergessenen“ KZ in Kärnten am Loibl-Paß (Nordseite) gestoßen sind (vgl. Zausnig 1995). Zunächst haben wir geglaubt, die Überlebenden würden, nach 50 Jahren der Verleugnung und Mißachtung ihrer Leidensgeschichte durch Kärnten und durch Österreich, uns aus übervollem Herzen ihre Geschichte erzählen, mit allen Details und mit aller Verbitterung. Dann mußten wir erfahren, daß auch viele von ihnen 50 Jahre lang geschwiegen hatten und daß das Erzählen jene Erinnerungen qualvoll und schmerzhaft wachrief, die durch das Schweigen niedergehalten worden waren.

Daß die andere Seite schwieg, die Täter und die Mitläufer, das waren wir schon gewohnt. Das offizielle Kärnten schwieg, das „Kärntner Gedächtnis“ (Landesarchiv) und die sogenannte Kärntner Wissenschaft schwiegen zu den Verbrechen von SS und Wehrmacht in Kärnten und in den eroberten Gebieten. Wenn seitens der Kriegsgeneration gesprochen wurde, dann konnte man entweder die schon bekannten „Heldengeschichten“ hören oder „bequeme Wahrheiten“, wie Primo Levi die Konstruktion einer im Augenblick erträglichen Wirklichkeit nennt. Die bequemste Wahrheit war, daß man keine Verbrechen gesehen hatte, nichts davon gehört hatte oder zumindest selbst nie dabei war. Primo Levi schreibt zu diesem Mechanismus der Erinnerungsverschiebung und Erinnerungsverfälschung:

Unter solchen Umständen findet man durchaus Menschen, die ganz bewußt lügen und auf diese Weise die Wirklichkeit kaltblütig verfälschen, aber es gibt weitaus mehr Menschen, die die Anker lichten, sich für den Augenblick oder auch für immer von den ursprünglichen Erinnerungen lösen und sich eine bequemere Wirklichkeit zurechtzimmern. Ihre Vergangenheit belastet sie; sie empfinden Abscheu vor den Handlungen, die sie begangen oder erlitten haben, und neigen deshalb dazu, etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Das kann bei vollem Bewußtsein der realen Zusammenhänge einsetzen, mit einem erfundenen, verlogenen, wiederhergestellten Handlungsablauf, der aber weniger schmerzhaft ist als der wirkliche. Beschreibt man diesen Ablauf oft genug gegenüber anderen und sich selbst, verliert die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge allmählich ihre Konturen, und der Mensch glaubt schließlich mit voller Überzeugung an seine Geschichte, die er so oft erzählt hat und noch immer erzählt, wobei er die weniger glaubhaften oder die nicht miteinander übereinstimmenden oder die nicht zu dem später erworbenen Bild von den Ereignissen passenden Details glättet und bearbeitet: aus dem anfänglichen ’Wider-besseres-Wissen’ ist ’Treu-und-Glaube’ geworden. Der lautlose Übergang von der Lüge zum Selbstbetrug ist nützlich: wer auf ’Treu-und-Glauben’’ lügt, lügt besser, spielt seine Rolle besser, findet leichter Glauben beim Richter, beim Historiker, beim Leser, bei Frau und Kindern. (Levi 1990, S.25)

Je länger dieser „lautlose Übergang von der Lüge zum Selbstbetrug“ praktiziert und von der Gesellschaft toleriert und honoriert wurde, desto mehr konnten sich die Täter als Opfer fühlen und mit Verständnis und sogar Mitgefühl rechnen. Am Kärntner Ulrichsberg geschieht dieser Übergang seit Jahrzehnten keineswegs mehr lautlos. Die Täter-Opfer-Umkehr ist dort zum quasi würdevollen Ritual des Gedenkens geworden, an dem sogar die höchsten politischen Amtsträger des Landes und der Republik teilhaben. Es wird dort nicht nur der eigenen „Heimkehrer“ und eigenen „Opfer“ gedacht, sondern auch, daß diese Kriegsgeneration Leid und Entbehrungen, vor allem nach 1945, stumm und geduldig ertragen hat. Opfer und Leid werden – ohne zu fragen, wofür sie erbracht worden sind und wer sie verlangt hat – zu allumfassenden Kategorien, mit denen jede Frage nach Mitschuld und Mithaftung für zugefügtes Leid vernebelt wird. Oft ist der Nebel bequemer als die klare Sicht.

Der deutsche Philosoph Karl Jaspers schrieb gleich nach 1945, wohl hätte jeder Deutsche Sorgen, starke Einschränkungen, Verluste und physisches Leid kennengelernt, aber: Es ist etwas ganz anderes, „ob einer sein Leid und seine Verluste im Kampf an der Front, zu Hause oder im KZ hatte; ob er zu den Gestapoverfolgten oder zu den Nutznießern des Regimes, wenn auch in Angst, gehörte. Fast jeder hat nächste Freunde und Angehörige verloren, wie aber er sie verloren hat, durch Kampf an der Front, Bomben, KZ oder den Massenmord seitens des Regimes, das hat sehr abweichende innere Haltungen zur Folge. – Die Not ist der Art nach verschieden. Die meisten haben nur für die eigene einen wirklichen Sinn. Jeder neigt dazu, große Verluste und Leiden als Opfer zu deuten, aber wofür dieses Opfer war, das ist so abgründig verschieden deutbar, daß es die Menschen zunächst trennt.“ (Jaspers 1979, S.17)

Wie kann man die Deutsche Wehrmacht bzw. Waffen-SS so verurteilen. Der Deutsche Soldat hat von allen Kriegsteilnehmern am tapfersten, ritterlich-heldenhaftesten, mutigsten gekämpft. Leute, die sich wirklich befassen, glauben Eure Lügen nicht. Ich glaube an den Deutschen Soldat.

Was die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ hier in Klagenfurt an Bild und Text zeigt, ist angesichts der Neigung zur Täter-Opfer-Umkehr und der Tendenz, nur die eigenen Verluste (an Jugend, Gesundheit und „Idealismus“) zu betrauern, wirklich eine aufrüttelnde Herausforderung, eine Provokation, ein Aufruf, zu einer nochmaligen Umkehr der Perspektive. Es darf dabei, so schreibt Jaspers (1979, S.12/13), „keine Schranken geben durch schonende Zurückhaltung, keine Milde durch Verschweigen, keinen Trost durch Täuschung. Es gibt keine Frage, die nicht gestellt werden dürfte, keine liebgewordene Selbstverständlichkeit, kein Gefühl, keine Lebenslüge, die zu schützen wären“ (also auch nicht die hehren Gefühle wie Mut, Tapferkeit, Treue und Ehre! P. G.). Und dann schreibt Jaspers – vor 50 Jahren, gerade so, als hätte er die Diskussion um die Wehrmachtsausstellung in Kärnten vor Augen –, daß die Vernebelung durch den undifferenzierten Leid- und Opferbegriff noch gesteigert wird durch Uneinsichtigkeit und Nicht-nachdenken-Wollen. „Dies alles wird verschlimmert dadurch, daß so viele Menschen nicht eigentlich nachdenken wollen. Sie suchen nur Schlagworte und Gehorsam. Sie fragen nicht, und sie antworten nicht, außer durch Wiederholung eingelernter Redensarten. Sie können nur behaupten und gehorchen, nicht prüfen und einsehen, daher auch nicht überzeugt werden.“ (Jaspers 1979, S.17) Gehorchen und Behaupten bzw. Befehlen, das waren auch die Sozialisationsmuster, nach denen die Erziehung der Nazis verlief. Das Resultat ist bekannt (vgl. Gamm 1995).

Ich denke, daß Jaspers hier in bezug auf heute nur eingeschränkt zuzustimmen wäre. Gerade die Diskussion um die Ausstellung hat nicht nur die ewiggestrigen Pflichterfüller in der Nazi-Wehrmacht auf den Plan gerufen, sondern auch viel Nachdenklichkeit, Erschütterung und viele Fragen an die Geschichte und an die Möglichkeit einer Wiederkehr des Schrecklichen. Es wurde auch gesagt, daß diese Ausstellung Gräben zwischen den Generationen aufreißt oder die Kluft noch vergrößert. Wahrscheinlich ist das richtig, und wahrscheinlich ist dies ein notwendiger Prozeß. Eine Einheit oder ein Konsens zwischen der schweigenden, sich selbst rechtfertigenden Generation der Kriegsteilnehmer und den kritisch nachfragenden Generationen der nach 1945 Geborenen wäre wohl eine Scheinharmonie, ein Eingeständnis, daß die Jungen entweder sich den Deutungen und vorgefertigten Meinungen der „Helden von damals“ unterworfen haben oder ihren Schweigekonsens mittragen. Es könnte dann in der Tat so aussehen, daß sie den Mund nur deshalb halten müssen und keine eigene Meinung haben dürfen, weil sie damals nicht „dabei“ oder überhaupt noch nicht auf der Welt waren.

So kann es doch nicht sein, daß das Infragestellen von „Ehre“, „Ritterlichkeit“ und „Anständigkeit“ von Soldaten in einem rassistischen Vernichtungskrieg als Spaltung der Generationen ausgelegt wird. Aus zwei Gründen, so denke ich, kann so nicht argumentiert werden:

Erstens würde man der älteren Generation unrecht tun, weil sie doch in großen Teilen und auf weite Strecken nach 1945 tiefe Erschütterung und Einsicht in ihre schuldhafte Verstrickung in die europäische Katastrophe, in die sie Hitler geführt hatte, gezeigt hat. Ich zitiere nochmals Karl Jaspers, der nun wirklich nicht in Verdacht steht, ein „Linker“ oder gar ein Vater der 68er-Generation zu sein, und der selbst nie verleugnet hat, daß er mit Herz und Seele ein begeisterter Deutscher ist; er formulierte nach 1945 vorsichtig-tastend, aber doch (und gerade im Zusammenhang mit unserer Ausstellung) eindeutig und klar, daß die Rede von der Ritterlichkeit und Anständigkeit des Wehrmachtssoldaten die Basis für ihre Glaubwürdigkeit (wohl für immer) verloren hat; beachtenswert ist, daß Jaspers diese Einsicht äußerte, Jahre bevor Spitzenpolitiker der alliierten Siegermächte aus Eigennutz und einsichtigen opportunistischen Gründen den Deutschen Landser über den grünen Klee zu loben begannen. Karl Jaspers: „Deutschland hat zahlreiche Handlungen begangen, die (außerhalb jeder Ritterlichkeit und gegen das Völkerrecht) zur Ausrottung von Bevölkerungen und zu anderen Unmenschlichkeiten führten. (...) Jede Forderung an Ritterlichkeit ist – auch wo zahlreiche einzelne Soldaten und ganze Truppenteile schuldfrei sind und ihrerseits sich stets ritterlich verhalten haben – hinfällig, wo die Wehrmacht als Organisation Hitlers verbrecherische Befehle auszuführen übernommen hat. Wo Ritterlichkeit und Großmut verraten wurden, können sie nachträglich nicht wieder zu eigenen Gunsten in Anspruch genommen werden. Dieser Krieg entstand nicht aus der Ausweglosigkeit zwischen Gleichgearteten, die ritterlich zum Kampfe schreiten, sondern war in Ursprung und Durchführung verbrecherische Tücke und bedenkenlose Totalität des Vernichtungswillens.“ (Jaspers 1979, S.38)

Zweitens: Es liegt in der Logik der Sache, daß „Erinnerungsarbeit“ für die Kriegsgeneration und für die nachgeborenen Generationen etwas ganz Verschiedenes bedeutet und bedeuten muß, eher etwas Trennendes als Verbindendes. Für die Kriegsgeneration heißt „Erinnerungsarbeit“ (im psychologischen Sinn), Vergegenwärtigung der eigenen Anteile an Schuld, persönlicher Verstrickung mit der Täter-Rolle, Mithaftung für den Weg ins Verderben, auch ins eigene Verderben, denn schließlich hat die Gefolgschaftstreue zur Hitlerarmee auch das deutsche Volk physisch und psychisch in die Katastrophe gestürzt und eine ganze Nation aus dem Kreis der zivilisierten Völker geführt.

Für die nachgeborenen Generationen heißt „Erinnerungsarbeit“: Fragen nach dem Mitwissen, nach dem Mittun, nach Schuld und Versagen der Väter und Großväter; also: „die Auseinandersetzung mit einer Last, die einem von der (...) Geschichte, ohne eigenes Dazutun, auferlegt worden war“ (Graf Kielmansegg 1989, S.73/74). So bleibt also scheinbar wenig Verbindendes, das die Generationen nach dem Holocaust mit den Kriegsteilnehmern als gemeinsames Erinnerungsprojekt ausgeben könnten. Graf Kielmansegg schreibt: „Es bleibt die Trauer, die in der Tat über die Generationen hinweg hätte verbinden können. Zur Trauer um die Opfer, zur Trauer um das Verlorene und Zerstörte hatten alle Deutschen Grund, welchen Alters sie auch immer waren. Aber es hat auch diese verbindende Trauer nicht gegeben.“ (1989, S.74)

Ich möchte abschließend die Hoffnung äußern, daß hier noch einiges „einzuholen“ ist, daß gerade solche Bilder, wie sie in der Wehrmachts-Ausstellung gezeigt werden, Gefühle der Erschütterung wachrufen können, die an Trauer und Schmerz heranreichen. Weniger vielleicht die Texte, aber doch die Bilder vermitteln etwas, das auch unter den stärksten psychischen Abwehrpanzer zu dringen vermag: die Angst vor dem größten Trauma des Menschen; es ist wahrscheinlich nicht die Todesangst selbst, sondern die Angst vor der totalen Erniedrigung und völligen Auslöschung der eigenen Identität.

Erinnern an diese Zeit (oder das Erinnert-werden) kommt also an psychischen Schmerzen wie Trauer und Angst nicht vorbei; all dies sind Gefühle, die jeder gerne vermeiden möchte. Dem nicht auszuweichen, erfordert intellektuelle Anstrengung, weil gegen emotionale Widerstände, gegen Angst- und Schmerzvermeidung, gegen die „Gnade des Vergessenwollens“ vorgegangen werden muß. Diese Anstrengung der Erinnerung auf sich zu nehmen, ist aber wichtig, um ein Zukunftskonzept, ein Konzept von zukünftigem Leben unter humanen gesellschaftlichen Bedingungen entwickeln zu können, um die konkrete Utopie der Gleichheit und der Unantastbarkeit der menschlichen Würde überhaupt denken und in Zukunft einmal leben zu können.

Der Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung des Referats, das Gstettner am 25.9.1996 in Klagenfurt im Rahmen der Wehrmachtsausstellung gehalten hat.


Literatur

  • Gamm, H.-J.: Rudolf Höß – Kommandant von Auschwitz. Eine deutsche Erziehungsminiatur. In: Jahrbuch für Pädagogik 1995. Auschwitz und die Pädagogik. Frankfurt 1995, S.19–38.
  • Giordano, R.: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg/Zürich 1987.
  • Graf Kielmansegg, P.: Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Berlin 1989.
  • Gstettner, P.: Zum Umgang mit Faschismus und Widerstand in Österreich nach 1945 am Beispiel Kärntens. In: Himmelstein, K./Keim, W. (Hg.): Die Schärfung des Blicks. Pädagogik nach dem Holocaust. Frankfurt/New York 1996, S.237–257.
  • Jaspers, K.: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung. München 1979.
  • Langbein, H.: Darf man vergessen. In: Pelinka, A./Weinzierl, E. (Hg.): Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit. Wien 1987, S.8–16.
  • Levi, P.: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien 1990.
  • Scharsach, H.-H.: Haiders Clan. Wie Gewalt entsteht. Wien/München/Zürich 1995.
  • Zausnig, J.: Der Loibl-Tunnel. Das vergessene KZ an der Südgrenze Österreichs. Mit einem Vorwort von Peter Gstettner. Klagenfurt/Celovec 1995.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1996
, Seite 24
Autor/inn/en:

Peter Gstettner:

Geboren 1945, studierte Psychologie und Erziehungswissenschaft in Innsbruck, habilitierte in Maribor und war von 1981 bis 2004 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Klagenfurt. Peter Gstettner gründete 1994 das Mauthausen Komitee Kärnten/Koroška und den Verein Memorial Kärnten Koroška.

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